Monatsarchive: Juni 2014

Ein Blick hinter die Buchstaben… Fragen an die Schriftstellerin Elsa Rieger

Spannende Romane, faszinierende Geschichten, Figuren, die sich den Leserinnen und Lesern einprägen – ohne die Möglichkeiten des Self-Publishing wären vielleicht viele literarische Schätze nach wie vor verborgen geblieben. Aber seit einigen Jahren ist die Auswahl jenseits der Verlagswerke größer geworden – und das interessante, breit gefächerte Angebot in Eigenregie publizierender Autoren wird, wie z.B. die Bestsellerlisten bei Amazon zeigen, mit Begeisterung angenommen. Einigen dieser Autorinnen und Autoren aus der Self-Publisher-Szene habe ich einen Fragenkatalog vorgelegt. Ich fragte, was mich als Leser oder als Kollege interessierte. Diese so entstandenen „Interviews“ werde ich in loser Folge auf meinem Blog veröffentlichen.

Ich danke allen, die sich meinen Fragen gestellt haben und so allen Interessierten einen Blick hinter die Buchstaben ihrer Bücher gewähren.

Ralf Boscher

Elsa_Rieger_Portrait
Heute zu Gast auf Boschers Blog: Elsa Rieger

Hallo Elsa, schön, dass ich Dich auf meinem Blog begrüßen darf! Um gleich einzusteigen:

Was siehst Du als Deinen bisher größten schriftstellerischen Erfolg an?

Wenn es bei der Frage um ein Buch geht, das meine Leser sehr schätzen, ist es mein Roman „LiebesWellen“, in dem es um eine junge Frau mit Persönlichkeitsspaltung geht.

Mein persönlich größter Erfolg hat jedoch damit zu tun, dass ich nach langen Übungsjahren begriffen habe, wie man Gedichte, Geschichten und Romane baut, ohne dass die Texte vor Adjektiven oder Kitsch triefen. Ich weiß, das ist kein Kriterium dafür, dass man seine Bücher gut verkauft, ich fürchte fast, das Gegenteil ist der Fall. Aber damit kann ich leben, mir geht es um literarischen Anspruch in meinen Texten. Dafür schreibe ich, dafür übe ich, noch besser zur werden.

Frau_die_sich_nicht_umdrehte
Wer ist Dir die liebste Figur in einem Deiner Romane oder in einer Deiner Geschichten?

Tja, eigentlich liebe ich alle Figuren, die ich entwickelt habe; die Guten und die Bösen. Im Moment liebe ich vielleicht am meisten die Claudette aus der Geschichte: Aus der Asche, die in meinem Erzählband „Die Frau, die sich nicht umdrehte“ zu lesen ist.

Wer ist Dir die liebste von Dir nicht erschaffene Figur in einem Roman oder einer Geschichte?

John Irvings „Garp“

Der für Dich gelungenste erste Satz einer Deiner Geschichten?

Nach seiner Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. (aus „Die Frau, die sich nicht umdrehte“)

Wenn Du nicht Schriftstellerin, sondern Musikerin wärst – welche Musik würdest Du machen?

Rock’n‘Roll

Was macht einen Menschen zum Schriftsteller? Das Schreiben oder das Gelesen werden? Oder…?

Ich glaube, das lässt sich nicht verallgemeinern. Die einen werden dazu getrieben, weil sie etwas loswerden wollen, die anderen, weil sie wirklich etwas zu sagen haben. Wieder andere wittern Erfolg, weil sie überzeugt von ihren Ideen sind, manche bleiben dann enttäuscht zurück oder beginnen zu malen. Was mich angeht, ist es schon das Schreiben selbst; die Neugier auf meine Figuren und wie sie sich entwickeln. Klar freut man sich über Leser.

Deine Einschätzung: Ist es förderlicher für eine gute Schreibe, mit seiner schriftstellerischen Arbeit seine Brötchen zu verdienen oder einem anderen Brotberuf nachzugehen?

Der Prozentsatz jener, die vom Schreiben leben können, ist so gering, dass er nahezu nicht ins Gewicht fällt. Besser, einen Brotberuf zu haben, bevor man in seinem Schreibstübchen verhungert, denn das ist nicht gerade förderlich für Kreativität.

Von der Grundidee zur fertigen Geschichte: Ist das bei Dir ein gerade Weg oder passiert es Dir, dass Du Dich weit von der Grundidee entfernst?

Passiert mir selten. Ich bin da ziemlich pedantisch im Planen eines Plots und meiner Charaktere.

Welcher Art sind die Szenen, die für Dich die größten Herausforderungen stellen?

Liebesszenen. Da muss man schrecklich aufpassen, nicht in Klischees abzurutschen.

Was bereitet Dir die größte Freude beim Schreiben?

Wenn ich ENDE unter den Text schreiben kann, denn dann beginnt das Überarbeiten.

Der für Dich wertvollste Schreibtipp, den Du erhalten hast?

Das Buch „Story“ von Robert McKee. Meine Bibel.

Manchmal noch Papier und Stift? Oder nur noch Schreiben am Rechner?

Lyrik immer zuerst auf Papier, Plotline, Storyoutline für Romane ebenfalls.

Welches Schreibprogramm nutzt Du?

Das simple Word. Ich halte nichts von den vielen anderen Helferleins, die angeboten werden. Bin eher konservativ diesbezüglich.

Schreibzeiten: Wann schreibst Du? Schreibst Du an festgelegten Uhrzeiten oder setzt Du Dir zum Beispiel pro Tag eine Zeichenmenge?

Gerne in der Früh und am Abend, in der Nacht. Zeichenmenge setze ich mir nur, wenn ich Lektorat für Kollegen mache. Bei meinen Texten achte ich darauf, eine Szene zu vollenden, nicht mittendrin aufzuhören, denn wenn schon der Flow da ist, muss ich ihn nutzen.

Wie viel Zeit verwendest Du am Tag für das Marketing? Und welche Kanäle nutzt Du für die Werbung?

Ich werbe nicht täglich für meine Bücher. Mir fällt es immer schon schwer, anzuklopfen und mich anzubieten. Ist vielleicht, nein, sicher sogar, ein Fehler. Vielleicht würde ich mehr verkaufen, wäre ich da fleißiger. Ich nutze die social media Kanäle wie Google+, Facebook, Twitter.

Bereitet Dir das Schreiben größere Freude, seitdem es mehr Möglichkeiten der Veröffentlichung gibt (E-Books, Selfpublishing…)?

Nein, denn schreiben ist immer Freude für mich. Aber entgegen kommt mir natürlich, dass man nicht mehr auf die Gnade der Verlage angewiesen ist.

Die „Thomas Mann“-Frage: Du schreibst, Dein Mann oder Freund kommt herein oder ein guter Freund ruft an oder Dein Kind möchte etwas von Dir wissen – verbittest Du Dir die Störung, weil Du schreibst, oder lässt Du Dich auf die „Planänderung“ ein?

Anrufe lassen sich ignorieren. Menschen, die im Zimmer stehen, eher nicht. Ich lasse mich drauf ein, auch wenn ich es ärgerlich finde, aber man sollte das Leben neben dem Schreiben nicht vergessen.

Die „Charles Bukowski“-Frage: Hältst Du Alkohol für eine sinnvolle Stimulanz beim Schreiben?

Manchmal … nein, Spaß. Beim Schreiben saufen könnte ich nicht. Aber wenn ich mal was trinke, kann schon vorkommen, dass sich eine Idee für einen neuen Text manifestiert.

Du gehst schlafen, liegst bereits im Bett, das Licht ist aus – da kommt Dir eine Schreibidee in den Kopf: Stehst Du auf und notierst Dir die Idee?

Nein. Ich merke sie mir einfach für den nächsten Tag. Soweit funktioniert mein Gedächtnis gerade noch.

Hast Du mit einer Geschichte abgeschlossen, wenn Du unter sie ein „Ende“ gesetzt hast?

Aber nein! Da fängt das Spiel doch erst richtig an! Das Ringen um die besten Sätze, der Kampf um die stärksten Dialoge und das Abklopfen des Plots, ob er Hand und Fuß hat.

Vielen Dank Elsa, dass Du Dir die Zeit genommen hast, diesen „Blick hinter die Buchstaben“ zu ermöglichen!

Ich bedanke mich herzlich, Fragen, die mir Spaß gemacht haben!

LiebesWellen
„Mich fasziniert das Menschsein, Menschbleiben in unserer Welt der Polaritäten. Ist es nur möglich, ein kriegerisches ‚Entweder – Oder‘ ins Leben hinauszubrüllen und darauf zu beharren, Recht zu haben? Oder haben wir die Chance, uns auf ein behutsames ‚Sowohl – als auch‘ einzulassen und in die Welt zu tragen, damit sich die Akzeptanz unter uns ausbreiten kann? Die Akzeptanz, dass schwarz nicht immer einfach schwarz und weiß nicht unbedingt für jeden gleich weiß ist. Sowohl als auch. Das verbinde ich in meinen Texten.“ (Quelle)

Elsa Rieger wurde 1950 in Wien als Kind eines Schauspieler-Ehepaares geboren. Für sie war schon als Vierjährige klar, dass sie ebenfalls diesen Beruf ergreifen würde. Nach Schauspielausbildung und Buchhandelslehre war sie in der Inspizienz und Abendregie des Theater der Courage beschäftigt, verliebte sich ‚unsterblich‘, gründete eine Familie und ging einem bürgerlichen Beruf nach, dem Buchhandel. 
Mitunter quälte sie sich durch das Leben. Der Beginn ihres neuen Berufswegs, der Atemsynthese, die sie erfolgreich verbreitet, eröffnete Elsa Rieger andere Sichtweisen. Sie begann wie besessen zu schreiben. Ihre Texte zeichneten sich zunächst vor allem dadurch aus, dass sie schlecht waren. Sie gab jedoch nicht auf und fand ihren Schreib- und Lebensweg. Es ist das Alltägliche, es sind die ganz normalen Merkwürdigkeiten, die  Elsa Rieger faszinieren. So geht sie durch ihre Heimatstadt und staunt und schreibt. (Quelle).

Homepage von Elsa Rieger
Amazon-Autorenprofil
Schreibtalk – Blog von Elsa Rieger
Facebook-Profil der Autorin
Der (e)-Book-Salon -Elsa Rieger stellt AutorInnen vor
Elsa Rieger – Lektorat

  • Demnächst bei „Ein Blick hinter die Buchstaben“: Susanne Gerdom
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Zwischen Nietzsche und viel zu kurzem Bademantel: Ein Diskurs über Serienmörder

Ralf_Boscher_Krimi_Mordsroman_Abschied
Ein Diskurs über Serienmörder, aus: „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“

Magdalena studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, wobei ihre Lektürevorlieben nicht ganz dem Bild einer Geisteswissenschaftlerin entsprachen: »Ich les’ furchtbar gerne Krimis, Psychothriller und Horrorromane. Wenn mir beim Lesen das Blut gefriert, wie man so sagt, dann bin ich in meinem Element. Hauptsache heftig packend! Möglichst abgedreht! Denn mit der Normalität, da hab’ ich es nicht so!«, wie sie mir sagte, als wir in der Cafeteria der Universität aufgrund des Buches, das ich las, Die Seele des Mörders von John Douglas, jenem FBI-Agenten, der als Vorbild für die Ermittler in Der Rote Drache und Das Schweigen der Lämmer gedient hat, ins Gespräch gekommen waren.

»Na!«, hatte sie lächelnd gemeint, »ein bisschen gruseln?«, als sie sich mir gegenüber an den Tisch gesetzt und meinen Tabak zur Hand genommen hatte, um sich eine Zigarette zu drehen. »Das ist aber keine Lektüre, die uns im Nietzsche-Seminar empfohlen wurde«, meinte sie noch, »Obwohl, wenn man Douglas’ Analyse der Serienmörder-Motive folgt (offensichtlich hatte Magdalena das Buch gelesen), gibt es schon gewisse Berührungspunkte, man braucht ja nur an Nietzsches Satz von der Geschlechtlichkeit zu denken, die bis in die höchsten Äußerungen des Geistes reiche.« Da wusste ich auch, woher ich ihr Gesicht und dieses knappe Kleid kannte, das ihre barocken Formen geradezu aufklärerisch mehr ent- als bedeckte.

»Nein!«, antwortete ich ihr, »nicht gruseln, Recherche.« »Recherche?«, fragte sie, sich lächelnd dergestalt über den Tisch beugend, um das Feuerzeug zur Hand zu nehmen, dass ich mich kaum auf ihre Worte konzentrieren konnte, »So nach dem Motto: serialkilling for runaways?«

»Recherche für einen Roman, an dem ich arbeitete!«, gab ich zurück, mich dabei bemühend, ihr in die Augen und nicht in den Ausschnitt zu schauen. Man weiß ja schließlich, was sich gehört. »Schöne dunkle Augen hast du!«, meinte ich also zu ihr, woraufhin sie mir mit einem so speziellen Lächeln antwortete, dass ich nicht sicher war, ob meine Bemühungen, mich auf ihre Augen zu konzentrieren wirklich erfolgreich gewesen waren, und ich ihr vor lauter Schamhaftigkeit schnell einen kurzen, improvisierten Monolog hielt, der sich darum drehte, dass das Verfahren der Tätersuche wie sie in Die Seele des Mörders beschrieben wird Ähnlichkeiten mit gängigen Textinterpretationstechniken aufweisen würde.

Ich glaub’ nicht, so sagte ich in etwa zu Magdalena, dass es ein bloßer Zufall sei, dass es sich bei beiden Verfahren um Stilanalysen handle. Vielmehr sei von einer Strukturhomologie zwischen dem, was ein Schriftsteller tue, und dem, was ein Serienmörder mache, auszugehen, die sich in der Interpretationsmethode niederschlage: »Manipulation. Dominanz. Kontrolle sind die drei Gesichtspunkte, unter denen sich die Eigenheiten der Stoffbehandlung sowohl bei Mördern wie bei Schriftstellern fassen lassen, hier die Behandlung von Menschen, dort die Behandlung der Sprache. Und so ist es okay, wenn man – wie Douglas es ja tut – in Analogie zu hermeneutischen Textinterpretationsverfahren davon spricht, dass es bei der Täterprofilerstellung darauf ankomme, eine Handschrift, einen Stil zu entziffern. Geht es bei der einen Methode darum, die Eigenheiten eines Sprachstils herauszuheben, die Besonderheiten der Behandlung der Sprache durch den Dichter, um Aufklärung über sein Schreibverfahren, seine Handschrift zu erhalten, so bei der anderen eben um den spezifischen Stil eines Mörders, in dem er die Opfer behandelt hat, um ihm auf die Spur zu kommen!«

Ich hatte mich so richtig in Fahrt geredet. Kam mir unheimlich klug und begehrenswert vor. Wie Magdalena da auf der anderen Seite des Tisches saß, ihr Kinn auf eine Hand gestützt, zwischenzeitlich an der Zigarette ziehend, mich mit ihrem Lächeln dabei aber nie aus dem Blick lassend, war das aber auch ein anregender Anblick. Also sprach ich einfach weiter, meinte, man könne mit Douglas berechtigterweise von den Taten eines Mörders als seinem Werk sprechen. Denn genauso wie man sich das Werk eines Künstlers anschauen müsse, um zu verstehen, was er damit meine, müsse man das Werk des Mörders betrachten, um seine Handschrift zu entziffern und so den Sinn, den er seiner Tat zu geben versucht. Denn wie bei einem Künstler stehe auch am Beginn der Tat eines Mörders die Phantasie. Schon lange bevor das Werk in die Tat umgesetzt würde, sei diese in der Phantasie schon vorhanden.

Mit dem – wie ich fand, sehr gelungenen – Satz »Und hat er erst einmal mit der Verwirklichung begonnen, dann gibt es kein Halten mehr, den Serienmörder drängt es genauso wie den Künstler zur Vollendung!« beendete ich meinen Monolog und drehte mir nun meinerseits eine Zigarette, nervös auf eine Reaktion von Magdalena wartend. Sie setzte sich betont aufrecht hin und streckte sich ausgiebig. Das war – wie ich fand – schon mal eine sehr angenehme Reaktion. Als sie mich dann aber wieder ansah – mir gelang es erneut kaum, meinen Blick auf ihre Augen zu zentrieren –, widersprach sie mir allerdings. Lächelnd griff sie über den Tisch, drückte kurz meine Hand, dann wieder meinen Tabak nehmend, und sagte:

»Vollendung! Du bist ja ein richtiger Romantiker!« Und dann meinte sie noch, dass das Böse – ihrer Meinung nach – nichts Romantisches an sich habe, überwiegend banal sei es, so banal, dass es im eigentlichen Sinne nicht mal böse zu nennen sei, sondern einfach nur krankhaft. Dass im kollektiven Gedächtnis vor allem Mörder mit – wie ich gesagt hätte – Stil, mit einer unverwechselbaren Handschrift gespeichert seien, ginge – so Magdalena – auf deren überwiegende Präsenz in den Medien zurück. Es sei ein Effekt der medialen Vermittlung in Kunstfiguren wie dem Todsündenmörder aus dem Film Sieben oder Hannibal Lecter die Prototypen des Serienmörders zu sehen. Solche Monster in Szene zu setzen, sei halt in. Bräuchte mir doch nur mal die Programme der Privaten ansehen, da käme fast jede Woche irgendwas mit einem Serialkiller drin, und je abstruser dessen Konzept (»immer wieder gerne aus der Bibel genommen«), umso besser. Vielleicht, so mutmaßte Magdalena, fänden diese Figuren ja deswegen ihr Publikum (»Mich ja schließlich auch!«, sagte sie), da sie an einen Nerv der heutigen Zeit rühren, vielleicht das Bedürfnis, das Böse nicht einfach als banal hinzunehmen.

So kamen wir also über besagtes Buch, und alles, was uns an Romanen und Filmen, in denen Serienmörder eine Rolle spielen, einfiel – natürlich auch meinen Roman und meine noch nichtexistente Hauptfigur –, gut ins Plaudern. So gut, dass Magdalena mir anbot, dieses Gespräch doch an selbem Abend bei einem Glas Wein fortzusetzen, was ich leider ablehnen musste, weil ich an jenem Abend Dienst in der Kneipe hatte, und ich mir sicher war, so kurzfristig keinen Ersatz für mich zu finden.

»Macht nichts!«, sagte Magdalena da, ohne lange zu überlegen, »Komm doch einfach nach der Arbeit bei mir vorbei, ich bin ein Nachtmensch!«, und ich nahm ihr Angebot natürlich begeistert an.

Was mich begeisterte, war natürlich nicht nur die Aussicht, dieses sehr anregende Gespräch in anregenderer Umgebung fortsetzen zu können, sondern auch jener Gedanke, der sich aufgrund von Magdalenas Verhalten in mir herausgebildet hatte: nämlich, dass sie keinen Freund hatte, haben konnte. Warum sollte sie sich auch so aufreizend kleiden, wenn sie einen Freund gehabt hätte? Wenn sie dem Markt nicht mehr zur Verfügung gestanden hätte? Allein aus dem Reiz heraus, anders als normal zu sein? Nein, wenn sie einen Freund gehabt hätte, dann hätte sie sich nicht – ohne zu überlegen, ohne dies mit ihm abzuklären – nachts mit einem Mann zum Wein verabredet. In ihrer Wohnung. Mit einem fremden Mann. Zum Wein.

Ich fand mich nach meiner Arbeit bei Magdalena ein. Und sie ging, als ich in ihrem Wohnzimmer auf einem Sessel Platz genommen hatte, gleich in medias res:

»Ich hab’ mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen. Was du da heute Mittag gesagt hast, hat mit der schmutzigen Realität wirklich nichts zu tun!«

Mir gegenüber auf dem Sofa sitzend, äußerst schnuckelig anzuschauen in ihrem viel zu engen, viel zu kurzen, alten, verwaschenen rosa Frotteebademantel, öffnete sie eine Flasche Rotwein.

»Es mag ja sein«, so gab sie zu, »dass es auf manche Mörder zutrifft, bei ihnen von Stil und Handschrift zu sprechen, und da führt die hermeneutische Methode der Täterprofilerstellung ja anscheinend auch zu Erfolgen…«, wobei ihr ein guter Schluck aus der Flasche über eines ihrer vom Bademantel nicht bedeckten Knie und einen ihrer ebenfalls nackten Oberschenkel schwappte –
»Aber denk doch nur mal an die Zahlen! Einer Minderheit von aufgeklärten Fällen steht eine Masse an nicht gelösten Taten von Serienmördern gegenüber.«
– was es mir ein wenig schwer machte, mich auf ihre Worte zu konzentrieren, vor allem, da sie den Wein einfach über ihre Haut und auf den Teppich laufen ließ, während sie weiter redete –
»Und nicht deswegen«, betonte sie, »weil nicht genügend Personal zur Verfügung steht, welches sich durch interpretatorisches Geschick auszeichnet, sondern schlicht und einfach aus dem Grund, dass die nicht gefassten Serienmörder unsystematisch, konzeptlos sind, und ihnen mit Methoden, die mit Kategorien wie Werk und Handschrift und Stil arbeiten, nicht beizukommen ist!«

Mir fiel daraufhin nichts Kluges als Erwiderung ein. War zu abgelenkt. Sah nur den Rotwein rinnen und rinnen, was sich recht negativ auf meinen Gedankenfluss ausübte, derweil Magdalena von Gedanken nur so überzufließen schien: Sie gab zu, dass es auf der Ebene der Methoden Ähnlichkeiten geben mag zwischen der Aufklärung von Gewaltverbrechen und der von Kunst, man brauche ja nur an Foucaults Gedanken der Epistéme zu erinnern, um solche strukturellen Gleichförmigkeiten nicht verwunderlich zu finden. Aber von dieser Ähnlichkeit auf der Metaebene auf eine ebensolche auf der Objektebene zu schließen, sei schlicht unzulässig.

»Serienmörder sind in der Regel keine Künstler!«, stellte Magdalena kategorisch fest, während vor meinem inneren Auge der Satz: Leck ihr den Rotwein vom Bein! Leck ihr…! blinkte und –
»Nicht künstlerisches Kalkül, so pervers und abstrus es auch sein mag, zeichnet ihre Taten aus«, sagte Magdalena, »sondern grauenhafte Belanglosigkeit…«
– blinkte –
»Es mag ja sein, dass es da Phantasien gibt, die hat schließlich jeder, auch wenn sie zumeist nicht von dieser Art sind, aber normalerweise, wenn ich in diesem Falle überhaupt von normal reden kann,…«
– blinkte –
»…werden sie nicht zum Werk. Da wird ein mörderischer Trieb ausgelebt, ausgestaltet wird da nichts!«
– und blinkte, bis Magdalena sich endlich mit einem Tempo säuberte, so dass ich dergestalt aus meiner erotischen Abgelenktheit wieder auf den Teppich gebracht, den Magdalena mit einem anderen Tempo trocken tupfte, ihren weiteren Ausführungen wieder konzentrierter folgen konnte:
»Diese Mörder sind einfach Tiere! Auch wenn diese Metapher schon beinahe einer Beleidigung der Tiere gleichkommt«, meinte sie, »Wenn sie der Trieb packt, schlagen sie willkürlich und zufällig das Opfer, was sich ihnen gerade anbietet. Das hat aber rein gar nichts mit Kunst zu tun, das ist nun wirklich eine naive Romantisierung von Mordlust!«

Ich wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber Magdalena kam meinem Einspruch mit einem Positionswechsel auf dem Sofa zuvor. Hatte sie zuvor gesessen, so legte sie sich nun auf die Seite und stütze ihren Kopf auf eine Hand, was Magdalenas ausgeprägte Kurven noch betonte, vor allem da sie sich mit ihrem Bademantel vollständiger nur hätte bedecken können, wenn sie sich größere Mühe damit gegeben hätte. Jedenfalls veranlasste mich mein Rückenmark, den Mund zu halten, stattdessen hinzugucken und Magdalena – genüsslich an meinem Wein nippend – einfach nur zuzuhören:

»Verbrechen, bei denen zwischen Täter und Opfer eine Verbindung besteht, sind bekanntermaßen leichter aufzuklären«, sagte sie, »weil allein schon diese persönliche Verbindung eine gewisse Einzigartigkeit stiftet, die Hinweise auf den Täter liefert!«

Weiterhin meinte sie: »Und deswegen sind diese Mörder, die du hier mit Künstlern auf eine Stufe stellst, auch einfacher zu fassen als die viel zu vielen, die ohne erkennbares Konzept, ohne weitergehendes Motiv als der puren Mordlust zur Tat schreiten. Diese fassbare Verbindung zwischen Täter und Opfer – und da mag das Opfer auch nur reines Objekt sein – ist schließlich auch dann vorhanden, wenn einer deiner stilvollen Mörder zur Sache geht!«

Und sie sagte auch noch: »Auch wenn er sein Opfer nicht persönlich kennt, so ist es dennoch nicht willkürlich ausgewählt. Es mag zwar Zufall sein, dass es gerade diesen besonderen Menschen trifft, aber die Auswahl des Typus, den dieser Mensch verkörpert, ist nicht dem Zufall überlassen. Die Wahl des Opfers ist notwendiger Teil der Inszenierung, und so stellt er durch seine Handschrift, seinen Stil eine Verbindung zum Opfer her. Und diese inszenierte Verbindung zwischen Täter und Opfer stellt jene Einzigartigkeit dar, die es leichter macht, solchen Mördern auf die Spur zu kommen, hier hilft wirklich Einfühlung. Denn die Interpretation seiner speziellen Objektivierung von Menschen lässt Rückschlüsse auf den Urheber zu«

Dies seien aber, wie Magdalena erneut betonte, nur die Ausnahmen, und während sie weitersprach, setzte sie sich wieder hin und wickelte sich, da ihr anscheinend kalt geworden war, von ihren Knien bis zum Hals in eine Decke ein. Die große Masse an Serienmördern sei stillos, sagte sie also, bei ihnen fehle (leider müsse man sagen, sagte sie) diese Verbindung, sie seien konturlose, zutiefst gestörte Persönlichkeiten, die nichts an Einzigartigkeit an sich hätten, und deswegen liefen die meisten von ihnen auch noch frei herum.

Nun nicht mehr stumm gemacht durch ihr dahingeräkelte Pose, hatte ich bereits den Mund geöffnet, um ihr zu erwidern, dass ich die von ihr kritisierten Überlegungen ja gar nicht im Hinblick auf das, was in der Welt wirklich passiere, geäußert hätte, sondern in Gedanken an die zu schaffende Romanfigur, aber da lenkte Magdalena ihren Redefluss schon von selbst in diese Richtung:

»Aber klar«, gab Magdalena zu, »dass dir als Schriftsteller so konturlose Mördergestalten nicht zusagen. Mir als Leserin übrigens auch nicht. Solche Typen – fiktionalisiert – sind wohl einfach zu nah an der Realität dran, als dass man sie genussvoll rezipieren könnte. Nein, nein, literarische Mörder müssen zwar so realistisch sein, dass es sie geben könnte, aber nicht so real, dass man das Gefühl hat, sie bei nächster Gelegenheit zu treffen. Da gibt es eine schmale Grenze, die uns erlaubt, Spaß bei Lektüre oder beim Schauen von Filmen zu haben, zumindest für mich, denn bei Aktenzeichen XY hatte ich nie Spaß, wenn meine Eltern wollten, dass ich mir das anschaue, um mich auf die Gefahren vorzubereiten, die draußen in der Welt auf Mädchen wie mich warten. Das war mir einfach zu real, weil es da um Menschen ging, die es wirklich gab oder gegeben hatte!«

Den Rezipienten interessiere nicht die Einszueins-Übertragung der Wirklichkeit, meinte Magdalena, die einfach nicht zu stoppen schien, was mir allerdings auch fernlag, denn während ihres ausschweifenden Monologes rutschte ihr die Decke von den Schultern, so dass ich wieder in den Genuss ihres, aus dem Bademantel quellenden Oberkörpers kam. Selbst beim sogenannten Reality-TV, meinte sie, sei klar, dass es – obwohl gefilmte Wirklichkeit – Fiktion sei, denn die mediale Vermittlung ermögliche die erforderliche Distanz. Mediale Vermittlung, also Kameraausschnitte, Schnitttechnik, Kommentare oder auch nur Stimmen aus dem Off etc. seien im Bewusstsein des Zuschauers nie die Wirklichkeit selbst, sondern eine ihm mundgerecht servierte, das hieße übertriebene Darstellung derselben.

»Ist es auch dasselbe Blut, das fließt, ob man nun direkt dabei steht oder es im Fernseher sieht, so ist es doch nicht das Gleiche…«
– Ein Gedanke, den ich sehr einleuchtend fand, wobei ich allerdings nicht an Blut, sondern an den entscheidenden Unterschied zwischen wohlgeformten Frauenkörpern im Fernsehen und an Magdalenas Körper hier vor mir auf dem Sofa dachte: Letzterer ist einfach zum Greifen nah –
»Im Fernsehen ist alles einen Tick roter, knalliger, dramatischer als im wirklichen Leben.«
– ja, praller, sonnengebräunter, williger, aber nicht so verdammt nah! –
»Und dieser Tick mehr ermöglicht den Genuss. Übertreibung ist Pflicht. Natürlich muss die Übertreibung im Rahmen des Wahrscheinlichen bleiben, wie ja schon Aristoteles gefordert hat, die Fiktion darf nicht so unwahrscheinlich und Zufällen ausgeliefert sein wie die Wirklichkeit. Aber eine gewisse Übertreibung…«
– übertreib’ es, schlag den Bademantel doch ganz auseinander! –
»…ist wohl konstitutiv für den Genuss an der medialen Vermittlung von Grusel, Spannung oder Horror. Durch die Übertreibung entsteht in unserer Phantasie eine Als ob…-Situation, wir tun so, als ob es dies und das geben könnte, und innerhalb dieses Als ob… können wir genießen.«
– genau, als ob du die Decke fallen lässt und dich auf den Rücken und verlangst, dass ich dich wärme –
»Da kann die Wirklichkeit noch solche Monster von Mensch hervorbringen, wenn sie durch die mediale Vermittlung nicht noch monströser gemacht werden, haben wir keinen Spaß an ihnen. Selbst deine Künstlermörder werden aus diesem Grunde noch übertrieben dargestellt, so dass sie nicht einfach mehr als pathologische Abweichung von der Norm angesehen werden, sondern als das Böse selbst. Gleichzeitig getrieben und kühl kalkulierend an der Vollendung ihres perversen Werkes arbeitend, können sie einfach nicht mehr menschlich sein. Sie sind Teufel in Menschengestalt, und da den meisten von uns diese theologische Anschauung noch vertraut ist, ohne dass wir wirklich noch daran glauben, eignet sich diese Übertreibung vom Kranken hin zum Dämonischen natürlich sehr gut, um die erforderliche Distanz entstehen zu lassen. Ihre Monstrosität stellt sicher, dass ihr Auftreten in den Medien als Ausnahmen von der Regel mit einem gewissen Genuss rezipiert werden kann. Sie sind einfach zu anormal, als dass der Leser oder Zuschauer das Gefühl haben müsste, ihnen um die nächste Ecke zu begegnen!«

Ein Erschaudern ging durch ihren Körper.

»Ist dir kalt?«, fragte ich und rückte sprungbereit auf die Kante des Sessels vor.

»Nein, nein!«, entgegnete Magdalena, »Ich dachte nur daran, wie ich mich damals an jedem Samstag, der auf das freitagabendliche XY folgte, gefürchtet habe, wenn ich aus dem Haus ging.« Dann zog sie sich die Decke sorgfältig über die Schulter, und ich dachte: Und ihr ist doch kalt! Vielleicht sollte ich forscher sein und sie einfach in den Arm nehmen? Doch bevor ich mich zu einer Tat entschließen konnte, trank sie ihr Glas in einem Zug leer und schickte mich nach Hause. Im ersten Moment war ich enttäuscht, hatte ich doch das Gefühl, den richtigen Augenblick verpasst zu haben, mich ihr zu nähern. Vielleicht denkt sie, ich hätte kein Interesse an ihr?, dachte ich. Doch im Wohnungsflur fragte sie mich, was ich denn morgen vorhabe. Sie würde mich gern wiedersehen. Und so ging ich beschwipst vom Wein und all den sinnlichen Eindrücken und beseelt von dem Gefühl, dass dies doch ein sehr vielversprechender Anfang gewesen war, durch das nächtliche Wuppertal nach Hause. Wie sagte Hesse: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Und einen Zauber spürte ich sehr deutlich. Allerdings ahnte ich nicht, dass es nicht die Vorboten einer glücklichen Liebesbeziehung waren, die mich erfüllten. Es war die Magie der Inspiration, die ich zu spüren bekam. Die Ankunft meines Mörders rückte näher.

Ende der Leseprobe aus Boschers Roman „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“. Der Roman ist bei Amazon als eBook und als Taschenbuch erhältlich.

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Liebe, Lust und Leichen im Keller. Leben und Sterben zwischen Nietzsche, dem Niederrhein und der Müllverbrennungsanlage in Wuppertal, in einer Nebenrolle: die Imperia in Konstanz außer Rand und Band.

„Abschied ist ein scharfes Schwert“ ist ein ungewöhnlich erzählter, an Ironie reicher Mordsroman über einen Schriftsteller und einen Fan, über Gewalt und Gier, Tod und Wiederauferstehung. Eine Lebensgeschichte voller skurriler, ja grotesker Momente. Wir begegnen interessanten Charakteren (mit meist nur kurzer Lebenserwartung) und dämonischen Gestalten. Würzig abgeschmeckt wird das Ganze mit einem Hauch von Philosophie, einem satten Pfund Sex and Crime, einer guten Prise Wahnsinn und zwei Messerspitzen Horror.

„Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“ – ein Buch, das in vielen Genres wildert.

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Ein Blick hinter die Buchstaben… Fragen an den Schriftsteller Jürgen Schmidt

Spannende Romane, faszinierende Geschichten, Figuren, die sich den Leserinnen und Lesern einprägen – ohne die Möglichkeiten des Self-Publishing wären vielleicht viele literarische Schätze nach wie vor verborgen geblieben. Aber seit einigen Jahren ist die Auswahl jenseits der Verlagswerke größer geworden – und das interessante, breit gefächerte Angebot in Eigenregie publizierender Autoren wird, wie z.B. die Bestsellerlisten bei Amazon zeigen, mit Begeisterung angenommen. Einigen dieser Autorinnen und Autoren aus der Self-Publisher-Szene habe ich einen Fragenkatalog vorgelegt. Ich fragte, was mich als Leser oder als Kollege interessierte. Diese so entstandenen „Interviews“ werde ich in loser Folge auf meinem Blog veröffentlichen.

Ich danke allen, die sich meinen Fragen gestellt haben und so allen Interessierten einen Blick hinter die Buchstaben ihrer Bücher gewähren.

Ralf Boscher

Juergen_Schmidt_Portrait
Heute zu Gast auf Boschers Blog: Jürgen Schmidt

Hallo Jürgen, schön, dass ich Dich auf meinem Blog begrüßen darf! Um gleich einzusteigen:

Was siehst Du als Deinen bisher größten schriftstellerischen Erfolg an?

Wenn man Erfolg nicht mit Verkaufszahlen gleichsetzt, ist es „Chiliherzen“. Dieses gemeinsame Buch mit Sandra Wagner hat uns alles abverlangt, obwohl es kein dickes Buch geworden ist. Es war schwierig, mich immer wieder auf Ideen, Launen und Streichvorschläge einzulassen, die aus Sandras Sicht natürlich ihre Berechtigung hatten. Ich war schließlich nicht anders als sie, jeder hat um seine Person im Roman gekämpft. Dass am Ende mit dem Buch eine runde Sache entstanden ist, betrachte ich als Erfolg.

Wer ist Dir die liebste Figur in einem Deiner Romane oder in einer Deiner Geschichten?
Lange_Weg_Amouliani
Ganz klar der Frank aus dem „langen Weg nach Amouliani“. Er ist der Typ, der ich gerne mit Anfang zwanzig gewesen wäre. Ich glaube, dass er mit all seinen Fehlern und seiner Tollpatschigkeit ganz liebenswürdig beim Leser ankommt.

Wer ist Dir die liebste von Dir nicht erschaffene Figur in einem Roman oder einer Geschichte?

Der Jakob aus „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker.

Der für Dich gelungenste erste Satz einer Deiner Geschichten?

„Normalerweise machten wir das nicht, aber normalerweise waren auch die Stehplätze in der Nordkurve unser Zuhause.“ (Beginn der Kurzgeschichte „Als Uli Hoeneß mir seinen Platz anbot“, 2015 erscheint ein Buch mit Fußballgeschichten)

Wenn Du nicht Schriftsteller, sondern Musiker wärst – welche Musik würdest Du machen?

Ganz bestimmt deutschsprachige Musik. Rosenstolz, Silly, Revolverheld und die Toten Hosen finde ich sehr gut. Auch ältere, fast vergessene Bands, wenn ich zum Beispiel an Grobschnitt oder Novalis denke. Von den jungen Musikern gefällt mir Christina Stürmer am besten.

Was macht einen Menschen zum Schriftsteller? Das Schreiben oder das Gelesen werden? Oder…?

Schriftsteller ist für mich jemand, der vom Schreiben leben kann. Davon bin ich weit entfernt. Aber jeder Autor möchte natürlich auch gelesen werden. Für mich ist beides wichtig.

Deine Einschätzung: Ist es förderlicher für eine gute Schreibe, mit seiner schriftstellerischen Arbeit seine Brötchen zu verdienen oder einem anderen Brotberuf nachzugehen?

Das kann ich nicht generell beurteilen: Manche benötigen gerade den Druck, um kreativ zu sein. Andere lähmt es … Ich arbeite lieber ohne Zeitdruck.

Von der Grundidee zur fertigen Geschichte: Ist das bei Dir ein gerader Weg oder passiert es Dir, dass Du Dich weit von der Grundidee entfernst?

Die Grundidee bleibt! Was allerdings zwischendurch so alles passiert, entwickelt sich mit der Zeit. Manchmal erstaunt mich die Entwicklung. „Chiliherzen“ war bis 2011 nur eine achtseitige, unveröffentlichte Kurzgeschichte mit dem simplen Titel „Dazwischen“. Aus einigen sinnvollen Ergänzungen wurde am Ende tatsächlich ein langer Prozess und ein Taschenbuch mit 160 Seiten.

Welcher Art sind die Szenen, die für Dich die größten Herausforderungen stellen?

Alles Neue ist eine große Herausforderung. Vor zwei Monaten habe ich angefangen, einen Krimi zu schreiben. Ich weiß nicht einmal, ob ich das kann. Es ist aber eine riesige Herausforderung, das solange zu versuchen, bis alles stimmig ist und Leute das mögen. Im Moment bin ich mit großer Begeisterung dabei und lege ein Schreibtempo vor, das mir bislang fremd war.

Was bereitet Dir die größte Freude beim Schreiben?

Gelungene Formulierungen. Bei manchen meiner Sätze kann ich später gar nicht glauben, dass die von mir sein sollen.

Der für Dich wertvollste Schreibtipp, den Du erhalten hast?

Kam von Heinz Körner, dem Autor von „Johannes“. Damals wäre ich fast im Lucy-Körner-Verlag untergekommen. Der letztendliche Ablehnungsgrund lautete, im gesamten Manuskript wären die Soldaten immer die schlechten Menschen, Kriegsdienstverweigerer dagegen grundsätzlich die guten. Der Vorwurf war berechtigt. Ich war gerade über zwanzig und hatte zu sehr auf meine Freunde aus der Friedensbewegung gehört. Seitdem versuche ich alles auch aus der Perspektive des Anderen zu betrachten.

Manchmal noch Papier und Stift? Oder nur noch Schreiben am Rechner?

Rechner! Notizen zu den Personen, Orten oder der zeitlichen Übersicht mache ich mir in einem extra Heft. Da kommt alles rein, denn sonst passiert es, dass Paula einmal blaue und später braune Augen hat.

Welches Schreibprogramm nutzt Du?

Microsoft Word.

Schreibzeiten: Wann schreibst Du? Schreibst Du an festgelegten Uhrzeiten oder setzt Du Dir zum Beispiel pro Tag eine Zeichenmenge?

Nein, davon halte ich nichts! Manchmal schreibe ich drei Wochen gar nichts, dann an drei Tagen hintereinander ganze Abende. Ein gelungener Tag kann 3.000 Wörter beinhalten oder auch nur die Idee zu einer zusätzlichen Person in der Geschichte. Die Menge allein besagt wenig.

Wie viel Zeit verwendest Du am Tag für das Marketing? Und welche Kanäle nutzt Du für die Werbung?

Nur ein bisschen Werbung bei Facebook und auf meiner Homepage. Die Verlockung bei Facebook ist natürlich riesengroß: Wenn ich Werbung in einige Gruppen poste, werden nach einigen Stunden Verkäufe bei Amazon sichtbar. Allerdings erhöht sich mit jedem Posting auch die Gefahr, Leute zu nerven. Das möchte ich nicht. Einige Autoren mit extremer, fast aggressiver Werbung sind mir inzwischen sehr unsympathisch geworden. Das ist mir eine Warnung.

Die „Thomas Mann“-Frage: Du schreibst, Deine Frau oder Freundin kommt herein oder ein guter Freund ruft an oder Dein Kind möchte etwas von Dir wissen – verbittest Du Dir die Störung, weil Du schreibst, oder lässt Du Dich auf die „Planänderung“ ein?

In der Regel sollten Menschen wichtiger sein. Sollte ich gerade tatsächlich eine super Idee haben, mache ich mir Notizen, dann müssen die Leute vielleicht zehn Minuten warten. Wenn gerade niemand zur Notaufnahme gefahren werden muss, ist das doch ein guter Kompromiss, oder?

Die „Charles Bukowski“-Frage: Hältst Du Alkohol für eine sinnvolle Stimulanz beim Schreiben?

Überhaupt nicht. Wenn ich was trinken will, mache ich vorher Schluss. Das schließt natürlich nicht aus, dass sich beim Feierabend-Bier noch brauchbare Ideen entwickeln können. Das kommt sogar häufig vor.

Du gehst schlafen, liegst bereits im Bett, das Licht ist aus – da kommt Dir eine Schreibidee in den Kopf: Stehst Du auf und notierst Dir die Idee?

Selbst mitten in der Nacht mach ich das, wäre doch sonst schade um die Idee!

Hast Du mit einer Geschichte abgeschlossen, wenn Du unter sie ein „Ende“ gesetzt hast?

Nein, eine Geschichte ist abgeschlossen, wenn sie veröffentlicht ist. Vorher gibt es immer noch etwas zu verbessern. Theoretisch auch später noch, aber dann sag ich mir: Es ist, wie es ist. Irgendwann muss auch Schluss sein.

Vielen Dank Jürgen, dass Du Dir die Zeit genommen hast, diesen „Blick hinter die Buchstaben“ zu ermöglichen!

Ich danke dir, Ralf. Mir hat es Spaß gemacht.

Chiliherzen
Jürgen Schmidt, geboren in Geldern am Niederrhein, erlernte zunächst den Beruf des Buchdruckers. Später besuchte er die Fachoberschule für Sozialpädagogik. Heute ist er als Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung bei den Nordeifelwerkstätten beschäftigt. Er wohnt in Grevenbroich und Bad Münstereifel. Jürgen Schmidt ist Herausgeber und Autor der Bücher „Herz kopfüber“, „Zwischen Heine und Altbier“, „Die Nebelfrau“ und „Dichter Nebel am Niederrhein“. Im Herbst 2012 erschien sein Roman „Der lange Weg nach Amouliani“, zusammen mit Sandra Wagner schrieb er den Roman „Chiliherzen“ (2013). Im Moment arbeitet er an einem Münstereifel-Krimi und an einem Erzählband mit Geschichten aus dem Mönchengladbacher Stadion.

Homepage von Jürgen Schmidt
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  • Demnächst zu Gast auf Boschers Blog: Die Schriftstellerin Elsa Rieger
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Von Mäusen und Menschen

Maeusen_Menschen
Natur ist doch etwas Schönes, denke ich in der Abenddämmerung im Garten sitzend, der an allen Ecken so natürlich wuchert, dass das Grün die Kanten und Grenzen überspringt (glücklicherweise auch von Nachbars her, so dass es hier zu keinen floralen Grenzkonflikten kommt). Während der Mond hinter einer bauschigen Wolke an einem ansonsten wolkenlosen Himmel hervorlugt, versuche ich mit meinen Augen dem Flug der Fledermaus zu folgen. Enge Kreise, weite Kreise, dann zick zack und zack in den nächsten Kreis, zick in die andere Richtung. Da, eine zweite Flugmaus. Größer als die Erste. Spreize ich meine Hände, so dürfte ihre Flügelspannweite meine Handspannweite übertreffen. Faszinierend. Und gar nicht so einfach, dem Flug der Mäuse in der Dämmerung zu folgen. Ach Natur. Was wäre der Mensch ohne? Und jetzt kommt auch noch der Igel aus seinem Versteck, raschelt durchs Gebüsch, knurps, knupser…

Durch das geöffnete Küchenfenster ruft meine Liebste zu mir in den Garten: Habe heute wieder eine Maus gefangen, ne Kleine, war ganz schwach, ließ sich mit einem Eimer leicht einfangen! Ja, die Natur. Ich habe ja schon einmal erwähnt, dass wir – seitdem wir eine Katze mit ausgeprägten Jagdverlangen haben – ein ebenso großes Mäuseproblem im Haus haben (vielleicht hätten wir sie doch nicht sterilisieren lassen sollen. Jetzt legt unsere Katze „typisch männliches Verhalten“ an den Tag: Jagen ist toll, kaum ist einem das Erjagte sicher, verliert der Kerl sein Interesse). Jedenfalls: Meine Liebste hat die Maus in der hintersten Ecke unseres Garten freigelassen. Und während die Fledermäuse flattern und der Mond scheint, stelle ich mir vor, dass ich es eigentlich nett finden würde, so putzig natürlich, wenn diese kleine Maus, vielleicht noch mit ein paar Kumpels, über unseren Rasen hüpft. Ach, hat sie sich glücklicherweise doch erholt! Und diese kleinen Öhrchen… Aber so ist das halt mit der Natur. Sie ist kein Zoo. Da sind keine Gitter, Gatter, Schutzzäune. Die Natur lässt sich von uns Menschen nicht einfach aussperren. Die putzigen Mäuse tanzen nicht einfach im Mondlicht auf dem Rasen. Sie rasen, kaum hat man sich umgedreht, durch Fenster, Türen, kleinste Spalte (gerne auch per Katzen-Express. „Einmal stillhalten und schon bist Du drin im Nahrungsparadies“), in den Bereich hinein, in dem man keine Natur haben möchte, sondern nur Kultur. Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein – und sonst nichts an Lebewesen.

Mit putziger Natur ist es vorbei, wenn sie in der Küche kleine, dunkle Spuren hinterlässt. Auch eine Fledermaus, deren Orientierungssystem kurzzeitig so gestört ist, dass sie sich durchs geöffnete Fenster in eines unsere Zimmer verirrt, ist nicht spaßig (Tollwut) – und gar nicht spaßig ist es, wenn die Katze es geschafft hat, eine Fledermaus aus der Luft zu holen, und sich beide im Gebüsch in Todfeindschaft gegenüberstehen, und diese Fledermaus wie eine ausgewachsene Schlange zischt und mit ihren Zähnen (beeindruckend) nach der Katze schnappt (Tollwut). Oder um ein florales Beispiel zu bringen: Ich sag nur Efeu. Efeu, der an der Hauswand empor rankt, drei Stockwerke bis zum Dach, übers Dach, der sich jeden Baumstammes in der Nähe bemächtigt und Tag für Tag höher zum Licht kriecht…

Ja, der Mensch und die Natur. Eine schöne Beziehung, wenn sich die Natur an Menschregeln hält, wenn sich Natur an Menschregeln halten würde. Dass sie dies nicht tut, zeigen gerade all die Falter und Flatterdinge, die in mein Arbeitzimmer hineinkreuchen, während ich diese Zeilen schreibe (habe das Fliegennetz noch nicht ans Fenster gespannt). Dass zeigen weit weniger harmlose Naturerscheinungen wie das Unwetter, dass an Pfingstmontag über weite Teile NRWs gerast ist.

Natur… Es gibt diese berühmte Stelle aus Goethes Werther. „Klopstock“. Werther und Lotte stehen am Fenster und betrachten ein Gewitter – und genießen dies. Diese Stelle, heißt es, würde einen Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen Mensch und Natur andeuten. Natur ist fortan etwas, das sich genießen lässt. Natur ist nicht mehr einfach nur Angstauslöser. Wohl ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen. „Erhabenheit“, dies war wohl Kants Begriff für das Gefühl, dass den Menschen angesichts einer übermächtigen Natur ergreift. Und ich möchte hinzufügen: Der moderne Mensch möge auch Demut empfinden. Ob nun Mäuse oder Gewitterstürme, die Natur ist kein Zoo. Wir sind mittendrin. Und ich sage es frei heraus: Der Mensch kann die Natur nicht genießen, wenn er nicht das Gefühl hat, sie gleichzeitig auf Abstand zu halten.

Natur ohne Grenzen ist des Menschen Untergang. Denn dann wird die Kultur überwuchtert. Und ohne Kultur kein Mensch. Bio ist schön und gut. Aber nur zertifiziert. Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich Werther und Lotte am Fenster stehen, ein Blitz schlägt in einen nahen Baum ein, die Krone bricht, fällt herab, erschlägt Werther und Lotte im Moment des genussvollen Anschauens… Es gibt kaum ein eindrucksvolleres Schauspiel als Naturschauspiele – aber genießen kann man sie nur aus einer sicheren Position heraus (oder im Nachhinein, wenn man sich die in furchteinflößender Situation geschossenen Handybilder ansieht und die Furcht-Situation vorbei ist). Hier zeigt sich dann der postmoderne Mensch: Der Griff zum Handy ist schon fast „natürlich“. Mittels Technik stellen wir eine Art „Grenze“ her, der Blick durch das Objektiv suggeriert eine Trennung zwischen Natur hier und Mensch dort. Ist natürlich ein Irrtum (was all die Handybilder bezeugen, die nie gezeigt wurden, weil Handy und Besitzer von der Natur überwältigt wurden). Ist natürlich eine gerne gesehene Illusion (was all die Handybilder bezeugen, die verbreitet wurden, weil Handy und Besitzer der Natur entkommen sind).

Von Menschen und Mäusen. Die Übermacht der Natur zeigt sich manchmal an kleinen, irgendwie auch putzigen Hinweisen. Wir haben sie einfach nicht im Griff. Die Natur. Denn wir sind ein Teil von ihr. Nur im Zoo gibt es Gitter, Gatter, Absperrungen. Also. Demut.

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Ein Blick hinter die Buchstaben… Fragen an den Schriftsteller Béla Bolten

Spannende Romane, faszinierende Geschichten, Figuren, die sich den Leserinnen und Lesern einprägen – ohne die Möglichkeiten des Self-Publishing wären vielleicht viele literarische Schätze nach wie vor verborgen geblieben. Aber seit einigen Jahren ist die Auswahl jenseits der Verlagswerke größer geworden – und das interessante, breit gefächerte Angebot in Eigenregie publizierender Autoren wird, wie z.B. die Bestsellerlisten bei Amazon zeigen, mit Begeisterung angenommen. Einigen dieser Autorinnen und Autoren aus der Self-Publisher-Szene habe ich einen Fragenkatalog vorgelegt. Ich fragte, was mich als Leser oder als Kollege interessierte. Diese so entstandenen „Interviews“ werde ich in loser Folge auf meinem Blog veröffentlichen.

Ich danke allen, die sich meinen Fragen gestellt haben und so allen Interessierten einen Blick hinter die Buchstaben ihrer Bücher gewähren.

Ralf Boscher

Béla Bolten
Heute zu Gast auf Boschers Blog: Béla Bolten

Hallo Béla, schön, dass ich Dich auf meinem Blog begrüßen darf! Um gleich einzusteigen:

Was siehst Du als Deinen bisher größten schriftstellerischen Erfolg an?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn ich muss trennen zwischen dem Krimiautor Béla Bolten, den du hier befragst, und dem Sachbuchautor, der ich unter meinem bürgerlichen Namen bin. Als solcher habe ich 1988 ein Buch mit dem Titel „Nach unbekannt verzogen“ geschrieben, in dem ich die Schicksale der jüdischen Bürger meiner Heimatstadt in der NS-Zeit dokumentiere. Dass dieses Buch in die Bibliothek der Gedenkstätte Yad Vashem aufgenommen wurde und ich damit einen winzigen Beitrag wider das Vergessen leisten konnte, betrachte ich noch heute als meinen größten Erfolg als Autor.

Da du mich aber als Béla ansprichst, will ich dir auch hier die Antwort nicht schuldig bleiben. Ich hätte nie geglaubt, dass man es mit zeithistorischen, im Zweiten Weltkrieg spielenden Kriminalromanen in die TOP 10 der Amazon-Charts schafft. Das ist ja nun wirklich kein Mainstream und es macht mich stolz, das erreicht zu haben.

Wer ist Dir die liebste Figur in einem Deiner Romane oder in einer Deiner Geschichten?
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Alexander Thal, der Ermittler in meinen Bodenseekrimis. Er ist mir einfach ans Herz gewachsen mit seiner Trauer, die er in Leas Vermächtnis durchleben muss und die ihn fast um den Verstand bringt. Ein paar seiner Eigenschaften habe ich außerdem bei mir selbst entlehnt, und einige andere hätte ich selber gerne.

Wobei, wenn ich jetzt so darüber nachdenke: Seit Claras Schatten gefällt mir Madlaina Veicht immer besser, Thals Schweizer Kollegin und …. – das lassen wir mal noch offen. Mit der Figur habe ich jedenfalls noch einiges vor.

Wer ist Dir die liebste von Dir nicht erschaffene Figur in einem Roman oder einer Geschichte?

Tom Ripley, der Titelheld in gleich fünf Romanen von Patricia Highsmith. Wobei hier der Begriff „liebste Figur“ missverständlich ist, denn Ripley ist der amoralische Held schlichtweg. Für mich ist Patricia Highsmith bis heute die Königin des „Suspense“. Sie leuchtet ihren Helden bis in den letzten Winkel seiner Seele aus und treibt uns Leser dazu, diesen Widerling zu mögen, mit ihm zu fiebern, ihm zu verfallen. Einfach großartig!

Der für Dich gelungenste erste Satz einer Deiner Geschichten?

Sehr schwierige Frage. Meine ersten Sätze sind oft stakkatohaft kurz, weil ich die Leser direkt in die Geschichte ziehen möchte. Vielleicht ist es der Anfang des Thrillers „Das Jesuskomplott“, weil er die Stimmung der Situation, in der sich der Protagonist befindet, gut einfängt: „Engel nahm den Finger von Sanikas Hals und wischte ihn an seiner Hose ab, als müsse er die Erinnerung an die kühle Haut von jeder Nervenfaser tilgen. „

Wenn Du nicht Schriftsteller, sondern Musiker wärst – welche Musik würdest Du machen?

Rock und Rhythm and Blues, wie ihn die Stones in ihren besten Tagen gespielt haben.

Was macht einen Menschen zum Schriftsteller? Das Schreiben oder das Gelesen werden? Oder…?

Schreiben und gelesen werden zusammen, denke ich. Es kann einen Menschen sehr bereichern, nur für sich zu schreiben, allerdings würde ich ihn dann nicht Schriftsteller oder Autor nennen. Dazu gehört der Wille, das Ergebnis seiner Arbeit der Öffentlichkeit zu übergeben und zuzusehen, wie sich das Werk durch die Leser verändert.

Deine Einschätzung: Ist es förderlicher für eine gute Schreibe, mit seiner schriftstellerischen Arbeit seine Brötchen zu verdienen oder einem anderen Brotberuf nachzugehen?

Das kann ich kaum beantworten, weil mein Brotberuf seit nunmehr elf Jahren das Schreiben ist, konkret die Auftragsschreiberei bzw. das Ghostwriting. Ich sitze also Tag für Tag am Computer und schreibe, was, so glaube ich zumindest, meinem Stil sehr gut getan hat. Schreiben ist zu einem großen Teil Handwerk und das will geübt werden. Mein belletristisches Schreiben hat zudem sehr davon profitiert, dass ich mich mit verschiedenen Genres beschäftigen musste. Inzwischen hat sich der Schwerpunkt meiner Arbeit mehr und mehr vom Auftragsautor weg und zum Schriftsteller hin verschoben, trotzdem genieße ich es, immer mal wieder etwas ganz anderes schreiben zu dürfen.

Von der Grundidee zur fertigen Geschichte: Ist das bei Dir ein gerade Weg oder passiert es Dir, dass Du Dich weit von der Grundidee entfernst?

Ich bin ein fanatischer und detaillierter Plotter. Ich konstruiere meine Geschichten sehr exakt, sodass beim Schreiben nicht mehr viel Spielraum für Veränderungen bleibt. Während der Entwicklungsphase eines Plots kann es aber vorkommen, dass ich eine ursprüngliche Idee abwandele oder sogar ganz verwerfe.

Welcher Art sind die Szenen, die für Dich die größten Herausforderungen stellen?

In meinen zeithistorischen Krimis um den Berliner Polizisten Axel Daut treten Figuren der Zeitgeschichte auf. In „Codewort Rothenburg“ zum Beispiel die Widerstandskämpfer Libertas und Harro Schulze-Boysen oder in „Der Aufbewarier“ die Schauspielerin und Sängerin Zarah Leander. Diese Figuren lebendig agieren und sprechen zu lassen, ohne dass ihre Darstellung zu einer Kolportage oder gar einer überzeichneten Karikatur verkommt, ist immer wieder eine große Herausforderung. Um diesen Menschen gerecht zu werden, schaue ich mir so viel Bild- und Filmmaterial wie möglich an. Keine anderen Textpassagen überarbeite und verändere ich so oft, wie die Dialoge mit Personen der Zeitgeschichte.

Was bereitet Dir die größte Freude beim Schreiben?

Gott zu spielen, Menschen und ihre Geschichten zu erfinden. Anders gesagt: die Entwicklung des Plots.

Der für Dich wertvollste Schreibtipp, den Du erhalten hast?

Es sind zwei Tipps und sie scheinen sich sogar zu widersprechen. Der erste lautet: Du musst lesen. Sehr viel lesen und vor allem Bücher, deren Schöpfer besser schreiben als du selbst. Es bringt einen als Autor nicht weiter, wenn man sagt, „das kann ich auch“. Ich lerne nur von den Meistern, nicht von den anderen Lehrlingen. Der zweite Tipp lautet: Schreiben, schreiben, schreiben! Denn nur durch die beständige Übung verbessert man sich.

Manchmal noch Papier und Stift? Oder nur noch Schreiben am Rechner?

Nur am Rechner – ausschließlich und schon lange. Mein erstes Schreibprogramm war Wordstar und wurde auf 5,25 Zoll Floppy Disk ausgeliefert. Vermutlich weiß der größte Teil der Leser dieses Interviews nicht mal mehr, wovon der Opa hier erzählt, deshalb konkret: Ich schrieb zum ersten Mal 1984 auf einem Computer und so halte ich es seit dreißig Jahren.

Welches Schreibprogramm nutzt Du?

Papyrus Autor. Das ist für mich das mit Abstand beste Werkzeug, das ein Autor zur Verfügung hat. Kein Wunder, hat doch mit Andreas Eschbach ein Großer unserer Zunft bei der Entwicklung Pate gestanden. Kein anderes Programm ist so durchdacht und bietet so viele Hilfestellungen – ich nenne hier nur den perfekt integrierten Duden Korrektor, den Thesaurus und vor allem die für mich inzwischen unverzichtbare Stilanalyse. Wenn ein Schreibprogramm einen Autor besser machen kann, dann Papyrus.

Schreibzeiten: Wann schreibst Du? Schreibst Du an festgelegten Uhrzeiten oder setzt Du Dir zum Beispiel pro Tag eine Zeichenmenge?

Schreiben ist mein Beruf, dem ich täglich nachgehe. Ich setzte mir jeden Tag ein bestimmtes Ziel. In der Phase des Plottens lege ich fest, wie viele Kapitel ich an einem Tag planen will. In der eigentlich Schreibphase definiere ich eine bestimmte Textmenge, in der Regel sind es zwei- bis dreitausend Wörter pro Tag. Kolleginnen und Kollegen, die einem nicht schreibenden Brotberuf nachgehen, werden das vielleicht für utopisch halten, aber ich sitze nun mal einen kompletten Arbeitstag – und der kann auch schon mal mehr als acht Stunden haben – am Schreibtisch und arbeite am Manuskript. Da relativiert sich das.

Wie viel Zeit verwendest Du am Tag für das Marketing? Und welche Kanäle nutzt Du für die Werbung?

Das ist sehr unterschiedlich. Wenn ein Buch neu erscheint, wende ich mehr Zeit dafür auf als zu anderen Zeiten. Ich nutze Facebook und Twitter und habe meine eigene Website. Meinen Schreibtäter-Blog habe ich in der letzten Zeit sträflich vernachlässigt, ich gelobe meinen Leserinnen und Lesern Besserung.

Bereitet Dir das Schreiben größere Freude, seitdem es mehr Möglichkeiten der Veröffentlichung gibt (E-Books, Selfpublishing…)?

Vor allem haben mir diese neuen Publikationsmöglichkeiten die Chance eröffnet, den Schwerpunkt meiner Arbeit mehr und mehr vom Auftragsschreiben zum selbstbestimmten belletristischen Schreiben zu verschieben. Ich muss heute nicht mehr jeden Auftrag annehmen, damit mein Kühlschrank gefüllt ist. Für diese Freiheit bin ich sehr dankbar. Außerdem behalte ich über den gesamten Prozess bis zur Publikation des fertigen Buches die Kontrolle. Es macht mir großen Spaß, an jedem einzelnen Schritt beteiligt zu sein und meine Wünsche einbringen zu können.

Die „Thomas Mann“-Frage: Du schreibst, Deine Frau oder Freundin kommt herein oder ein guter Freund ruft an oder Dein Kind möchte etwas von Dir wissen – verbittest Du Dir die Störung, weil Du schreibst, oder lässt Du Dich auf die „Planänderung“ ein?

Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Grundsätzlich habe ich das Problem aller Freiberufler, die ausschließlich zu Hause arbeiten, Störungen zu minimieren. Ich kommuniziere klar und deutlich, wenn ich nicht gestört werden will. Außerdem schreibe ich gerne am Abend, da habe ich eh mehr Ruhe.

Die „Charles Bukowski“-Frage: Hältst Du Alkohol für eine sinnvolle Stimulanz beim Schreiben?

Die beste Antwort darauf hat Hemingway, der große Zecher, gegeben. „Write drunk, edit sober.“ Wobei das „drunk“ bei mir sicher nicht funktionieren würde, aber ein Glas Rotwein darf es schon mal sein, wenn ich abends noch spät am Schreibtisch sitze.

Du gehst schlafen, liegst bereits im Bett, das Licht ist aus – da kommt Dir eine Schreibidee in den Kopf: Stehst Du auf und notierst Dir die Idee?

Ich brauche nicht aufzustehen, denn auf dem Nachttisch liegen Notizblock und Stift, die ich relativ häufig benutze. Es ist erstaunlich, wie oft einem etwas einfällt, wenn man völlig abschaltet. Wenn ich es dann nicht sofort aufschreibe, lässt mich die Idee die ganze Nacht am Schlafen hindern.

Hast Du mit einer Geschichte abgeschlossen, wenn Du unter sie ein „Ende“ gesetzt hast?

Wenn sie endgültig publiziert ist – das heißt, wenn die Arbeit vollständig getan ist – lasse ich die Geschichte los. Das gelingt mir am besten, wenn ich gleich mit einer neuen Arbeit beginne, also fange ich unmittelbar mit dem Plot der nächsten Geschichte an.

Vielen Dank Béla, dass Du Dir die Zeit genommen hast, diesen „Blick hinter die Buchstaben“ zu ermöglichen!

Realisation:ebook
Béla Bolten ist ein Pseudonym des Autors Matthias Brömmelhaus. 1957 im Münsterland geboren, lebt und schreibt er jetzt in Konstanz am Bodensee. Unter seinem Realnamen arbeitete er nach dem Studium zunächst als Historiker und veröffentlichte verschiedene Artikel und Sachbücher zur Zeitgeschichte. 2003 eröffnete er den Autobiografieservice und gehört heute zu den erfolgreichsten »Personal Historians« im deutschsprachigen Raum. (Quelle)

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Béla Bolten – Schreibtischtäter
Autobiografieservice Matthias Brömmelhaus

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