Archiv der Kategorie: Boschers Schreibe

Leseproben aus den eBooks und Taschenbüchern von Ralf Boscher. Einblicke in die Texte, an denen Boscher zur Zeit arbeitet.

Ein steter Fall so’n Dichter Leben, so ist das eben

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Epilog

Einsam und traurig ist des Dichters Herz,
Denn zu wahrer Dichtung gerinnt nur Schmerz.
Und wenn er einmal glücklich ist,
Er den Schmerz schon bald vermisst.

Auf Glück, da kennt er keinen Reim,
Im Unglück liegt der Dichtung Keim.
Und ist er wirklich einmal froh,
Kneift er sich in den eigenen Po,

Das tut weh und so ist’s fein,
Denn nur auf Schmerz fallen Reime ihm ein.
Und reicht der Schmerz am Arsch nicht aus
Springt er einfach aus dem Fenster raus.

Der Weg ist weit und so ist’s recht
Bei kurzem Wege reimt sich’s schlecht.
Er fällt und fällt, und das ist fein,
Den Abgrund vor Augen, so soll es sein,

Des wahren Dichters Dichterleben.
Im freien Fall nach Höherem streben
Als Glück und Lust und Lachen viel.
Der Dichter lebt und stirbt mit Stil.

Und Stil ist Schmerz, das ist doch klar,
Denn auf Schmerz reimt sich Herz, wie wunderbar.
Ein steter Fall so’n Dichter Leben,
So ist das eben.

Abgedruckt in: Allmende Nr. 82. Zeitschrift für Literatur Themenschwerpunkt der Ausgabe: „Poetologische Reflexionen der Schreibenden und ihre Notizen über den heutigen Sinn und der Funktion von Literatur“.

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Captain Future und die Krähe des Todes – eine Geschichte

Aldekerker_Kirche_rot

Captain Future und die Krähe des Todes

Sie waren bislang folgsame Kinder gewesen. Hatten bis zu jener Nacht an Michaels zwölftem Geburtstag getan, was sie ihren Eltern versprochen hatten. Jedes Mal zuvor, wenn sie im Garten hinter dem Haus von Michaels Eltern gezeltet hatten, waren sie in der Nähe ihrer beiden Zelte geblieben, und ebenso folgsam waren sie um elf Uhr in die Schlafsäcke gekrochen. Aber in jener Nacht schlichen sie sich aus dem Garten heraus. Oh, wie das kribbelte. Alleine schon, dass sie ungehorsam waren, bescherte ihnen einen gewaltigen Nervenkitzel. Zusätzliche Spannung entstand dadurch, dass sie auf einem fremden Planeten unterwegs waren. Eigentlich hatten die Jungs ja die Drei ??? sein wollen, die das Rätsel der Nächtlichen Gestalten lösen, aber da hätte Esther einen Jungen spielen müssen, was sie nicht wollte. Nun war Esther die hübsche Joan Landor, Michael Captain Future und Thomas war Otto. Sie waren auf einem fremdem Planeten gestrandet und auf Erkundungsgang. Professor Simon Wright, das lebende Gehirn, und Grag der Roboter waren im Raumschiff zurückgeblieben, um ihre Mission über die Monitore zu überwachen. Keiner der Bewohner dieses Planeten durfte sie sehen. So hielten sie sich im vom Vollmond geworfenen Schatten der Häuser, drückten sich in Hauseingänge hinein, sprangen über Hecken und versteckten sich hinter ihnen, sobald sie hörten, dass sich ein Auto näherte. Dann hörten sie die Glocken der Kirche zweimal schlagen. Es war halb Zwölf. Kurz vor Mitternacht.

„Huhuuuu! Bald ist Geisterstunde!“, meinte Michael und tippte Esther auf die Schulter. Bei der unerwarteten Berührung erschreckte sie sich, beinahe hätte sie aufgeschrien. Aber sie riss sich zusammen, hieb Michael dafür einmal heftig auf den Rücken.
„Du Blödmann!“ sagte sie. Michael lachte und meinte:
„Kein Blödmann, sondern Hui Buh!“ Michael stakste nun über die Straße und rasselte mit imaginären Ketten:
„Das Schloßgespenst mit der rooooostigen Rasselkette! Und gleich ist Geisterstunde!“
„Hui! Buuuuhuu!“ fiel Thomas ein und dann hüpften die Jungs gemeinsam um Esther herum, „Mit der roooooostigen Rasselkette!“ Nun musste sie lachen, unheimlich war an diesen zwei Gestalten nichts, gleichzeitig machte sie sich über die Lautstärke sorgen.
„Wenn ihr nicht leiser seid, gibt es morgen keine Blaubeerensuppe!““ sagte Esther, und allmählich beruhigten sich die Jungs wieder. Dann meinte Thomas:
„Unser Mädchen hat Schiß in der Bux!“ Das konnte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
„Selber Mädchen!“, gab sie zurück, was Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.
„Klar!“, kicherte Thomas und tat so, als wolle er Michael umarmen, „Bin die Gräfin Etepetete! Oh mein lieber König Julius, lass mich dich küssen!“ Michael schupste Thomas weg:
„Bäh, bleib mir bloß vom Leib!“

In diesem Moment hatte Esther eine Idee und platzte mit ihr heraus:
„Werd‘ dir beweisen, dass ich keinen Schiss hab! Wir gehen jetzt auf den Friedhof!“
Die Jungs ließen augenblicklich das Herumalbern sein. Sie erschrak wegen ihrer eigenen Worte. Jedes Mal, wenn sie ihre Mutter begleitet hatte, um die Gräber der Großeltern zu pflegen, die vor ihrer Geburt gestorben waren, war ihr der Friedhof als ein unheimlicher Ort erschienen. Und das war tagsüber gewesen. Eigentlich wollte sie um nichts in der Welt nachts an diesem Ort sein. Aber einen Rückzieher wollte sie noch weniger machen.

„Wer hat jetzt Schiss von uns beiden, Thomas?!“, meinte sie also, „Wenn wir uns beeilen sind wir rechtzeitig zur Geisterstunde da!“
„Klar! Null Problemo!“, antwortete Thomas, aber es war ihm anzumerken, dass ihm genauso unbehaglich war wie Esther, „Glaub‘ eh nicht an Gespenster!“
„Aber ich!“, sagte da plötzlich Michael, und Esther lief eine Gänsehaut über den Rücken, „Ich glaub‘ an Geister!“, gab Michael zu, „Sie sind überall, unsichtbar, und hören uns jetzt bestimmt auch zu!“, meinte er mit leiser Stimme und sah sich nach allen Seiten um. Esther bekam es ein wenig mit der Angst zu tun, hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden.
„Und vielleicht macht sie euer Gerede böse!“, meinte er, und nun wäre Esther am liebsten weggelaufen.
„Ich jedenfalls wär‘ böse, wenn jemand behaupten würde, es gäbe mich nicht. Und deswegen warten sie auf uns auf dem Friedhof, warten, dass wir zwischen den Gräbern hin- und herlaufen…“ Michael machte eine bedeutungsschwangere Pause, sah uns andere mit aufgerissenen Augen an. Plötzlich musste er grinsen:
„Hey Leute, war doch nur Spaß! Ihr glaubt doch nicht wirklich an Gespenster, oder!“
In diesem Moment krächzte etwas laut auf dem nahen Feld, sie zuckten alle zusammen, Thomas schrie vor Schrecken auf, klammerte sich an Esther genauso fest wie sie an ihm, dann flatterte eine große, schwarze Krähe über ihre Köpfe hinweg. Thomas lachte erleichtert auf:
„Eine Krähe! Buhuuu!“
Thomas und Esther ließen sich verlegen los. Michael lief nun mit seinem Armen schlagend im Kreis:
„Buhuuh! Bin die Krähe des Todes! Buhuuu!“
Nun mussten sie alle lachen und begannen ebenfalls mit unseren Armen zu wedeln. Michael lief um seine Freunde herum:
„Drah Dich nit um, die Krähe des Todes geht um!“

Dergestalt mit allerlei Scherzen und Blödsinn gingen sie durch die Nacht. Schließlich aber kamen sie am Friedhof an und alle drei verstummten. Unschlüssig blieben sie vor dem alten gusseisernen Tor stehen.
„Sollen wir wirklich?“, fragte Thomas unsicher.
„Gekniffen wird nicht!“, meinte Esther forsch, aber ihr war anzumerken, dass sie hoffte, ihre beiden Freunde würden einen Rückzieher machen. Doch Michael trat einen Schritt vor und öffnete das schwere Tor, das in den Angeln quietschte.
„Na, dann wollen wir mal!“, sagte er und sah Esther an, die schluckte und dann ebenfalls einen Schritt nach vorn machte. Thomas aber blieb stehen.
„Ich geh nicht mit!“, sagte er bestimmt, „Ich schau euch zu!“
„Feigling!“, sagten Esther und Michael beinahe gleichzeitig, dann betraten sie den Friedhof. In diesem Moment schoben sich Wolken vor den Mond, es wurde so richtig dunkel. Nebeneinander gingen sie über den Weg, aus dem Zwielicht tauchten die ersten Grabmäler auf. Ihre Schritte wurden langsamer. Jetzt war ihnen beiden doch unheimlich zu Mute. Instinktiv nahmen sie sich an der Hand. Es war sehr leise dort auf dem Friedhof. Sie hörten nur ihre Schritte auf dem Weg.
Leise sagte Michael mit einem Mal: „Weißt du, vorhin, da habe ich gelogen.“
„Womit?“
„Das mit den Gespenstern“
„Ja, was?“
Michael sah sich kurz um. Bei diesem flüchtigen Blick über seine Schulter hinweg lief es Esther kalt über den Rücken. Plötzlich fühlte sie sich wieder beobachtet. In diesem Moment kam Michael ganz nah an sie heran und flüsterte ihr so leise ins Ohr, dass sie ihn kaum verstand:
„Ich glaube doch an Gespenster!“
Er machte eine kurze bedeutsame Pause, dann:
„BUH!“, rief er plötzlich und Esther schrie vor Schrecken auf. Und Michael begann zu lachen, bis Esther ihm einen ordentlichen Hieb auf den Arm verpasste:
„Du Idiot! Wie kannst du mir nur so einen Schrecken einjagen!“
Was keiner von beiden in diesen Augenblicken bemerkte, war der Nebel, der von den Gräbern her über den Boden auf sie zu kroch. Dichter Nebel, der von unten heraus zu leuchten schien. Ein kaltes, bläuliches Leuchten.
Michael: „Quatsch! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich an Gespenster glaube! Hui Bui! Das Gespenst mit der roooostigen Rasssselkette!“
Sie beruhigten sich, Esther schlug Michael noch einmal auf die Schulter:
„Du Idiot!“, dann lachte auch sie.
In diesem Moment schlug die Kirchenglocke Mitternacht, und beide schrieen vor Schreck auf. Dies war der Moment, in dem sie den Nebel sahen. Esther schlug eine Hand vor den Mund und zeigte auf den Nebel. Plötzlich begann Thomas, der vor dem Friedhofstor stand, zu schreien:
„Weg da! Lauft!“
Thomas schrie:
„Macht dass ihr weg kommt! Schnell! Lauft!“
Michael drehte den Kopf, um zu schauen, was es da wohl zu sehen gab.
„Seht euch nicht um! LAUFT!“, schrie Thomas
Und Esther packte Michael‘ Hand, zog ihn weg. Dann rannten sie beide, so schnell sie konnten zum Tor.
„Schneller!“, schrie Thomas, offenbar nahe einer Panik,
„Schneller!“
Und sie rannten, und während sie rannten hörten sie hinter sich ein Stöhnen und Knirschen und es wurde lauter und es kam näher, schnell näher, schneller näher als das Friedhofstor, hinter dem Thomas stand und schrie:
„SCHNELLER!“
Endlich erreichten sie das Tor und rannten hindurch, rannten die Straße nach ein ganzes Stück entlang. Dann blieben sie atemlos stehen, während Thomas zu ihnen geschlendert kam.
„Da habe ich euch beiden Helden aber einen Schrecken eingejagt, was?“, meinte er grinsend. Esther sah ihn einen Moment lang verständnislos an, dann verstand sie. Ohne eine Wort zu sagen, ging sie wütend in die Nacht davon.

„Was?“, meinte Thomas noch.
„Du Idiot!“, sagte Michael. Dann folgten die Jungs Esther.
Keiner von ihnen sah sich um. Und so sahen sie auch nicht die Vielzahl blasser Hände, die sich um die Gitterstäbe des Friedhofstores schlossen und es langsam und quietschend zuzogen.

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Ruhe im Kartong oder: WG-Leben kann so grausam sein

Ralf_Boscher_Krimi_Mordsroman_Abschied
Ja, ich muss zugegeben, dass ich mir zu dieser Zeit ein wenig Sorgen um mein sonniges Wesen machte. Die Tabletten, welche ich gegen meine Rückschmerzen schluckte, machten es wahrscheinlich auch nicht besser. Zu allem Überfluss erhielt ich zwei meiner Manuskripte von Verlagen dankend zurück, womit ich nun überhaupt nicht gerechnet hatte, war ich doch davon ausgegangen, dass ich mir den Verlag würde aussuchen können. Und Udo, ja Udo trieb es in diesen Tagen, da ich bei den Frauen kein Glück hatte, wie ein Wahnsinniger bei uns in der WG. Ausgerechnet Udo, um den doch die Frauen sonst immer einen solchen Bogen machen, wie er mit seiner Matte um den Friseur. Und wenn ich in der WG schreibe, dann meine ich auch in der WG.

Es musste doch wirklich nicht der Kühlschrank sein, und gerade zu der Zeit, da ich zumeist – wie Udo es doch mittlerweile wissen müsste – von der Arbeit nach Hause komme und gerne noch ein letztes Bier in der Küche trinke. Also, das Letzte, was ich in einer solchen Nacht noch sehen möchte, ist Udos Arsch, eingerahmt von zwei Beinen, die in der Luft hängen, untermalt von einem geradezu obszönen, so lauten Klatschen, dass ich dies eigentlich schon – wenn ich nicht so müde gewesen wäre – im Flur hätte hören müssen. Mal ganz abgesehen von Udos angestrengtem Keuchen, dem Geklirre und Geschepper im Kühlschrank und der hörbaren Freude von Udos Bekanntschaft an dieser ganzen Aktion. Als hätte dies noch nicht gereicht, schäumte mein Bier zudem über, das ich mir dann – als die Küche wieder frei war – genehmigen wollte.

Als ich Udo am nächsten Tag darauf ansprach, zuckte er nur mit den Achseln. War ihm wohl zu Kopf gestiegen, auch mal was mit einer Frau zu haben. Zugegeben, diese Frau nahm ihn ganz schön ran, der Küchenszene folgte schon bald heftigstes Treiben in der Dusche, aber muss man sich denn gleich seinen ganzen Anstand aus dem Hirn ficken? Schließlich hatte ich mein Zimmer direkt neben dem Bad, und dieses Gekicher, lauthalse Lachen, dieses ganze Geplätscher, und schließlich dieses beständige Rumsen gegen die Wand, mal schneller, mal langsamer, in solch einem unberechenbaren Rhythmus, dass es einfach nicht zu ignorieren war, zumal diese Frau irgendwann begann, Udo lautstark anzufeuern: Ja ja, pack mich, tiefer, schneller, höher, weiter, weiter, meine Muschi, mein Arsch, meine Titten! Fehlte nur noch, dass Udo auch noch anfing: Mein Schwanz, mein Arsch, meine Eier. Ich kann Ihnen sagen, Udos Ausdauer ging mir ganz schön an die Nieren, man will ja auch mal schlafen. Aber das interessierte ihn, wie gesagt, nicht die Bohne, er zuckte nur mit den Achseln, meinte, man muss die Feste feiern, wie sie fallen, griff sich zwei Tassen Kaffee, und wie ich dann am steigenden Geräuschpegel aus seinem Zimmer hören konnte, ließ es sich seine Bekannte schon wieder gefallen, feste gefeiert zu werden. Tja, so sah es aus, und dergestalt ging das Tage weiter. Zwischenzeitlich tauchte Gerd wieder auf, der einige Zeit unterwegs gewesen war, und selbst ihm, der gerne beobachtend an den Vergnügungen anderer Menschen teilnimmt, reichte es bald. »Als ich gestern nach Hause kam, ließ sich die Wohnungstür einfach nicht öffnen«, meinte er eines Morgens, sichtbar genervt und übermüdet zu mir, »nur einen Spalt bekam ich sie auf, und dann hörte ich sie auch schon wieder, ich hörte es schmatzen und leise stöhnen, sie standen direkt an der Tür, ich spürte es, als ich gegen sie drückte, und meinst du, sie hätten aufgehört, ‘Moment noch!’ meinte Udo nur. Ich dachte, ich spinn’. Der hat überhaupt keine Hemmungen mehr, ‘Schneller!’ sagte er dann noch zu ihr. Eine geschlagene Zigarettenlänge stand ich da wie ein Depp vor der Tür, bis Udo mich mit so einem blöden Grinsen reinließ.«

Wahrlich die Stimmung bei uns in der WG kochte hoch. Um das Fass vollzumachen, hatte Gerd, als er unterwegs gewesen war, auch eine Frau kennengelernt, und da sie mehrere Hundert Kilometer entfernt in Konstanz am Bodensee lebte, blockierte er ständig das Telefon. Außerdem bewies er das Fingerspitzengefühl eines Bulldozers: »Wie geht’s denn so mit dir und Carmen?«, fragte er mich, »Siehst du sie hier irgendwo?«, gab ich kurz angebunden zurück und dachte, damit hätte ich Ruhe. Er aber sah sich wirklich um, zuckte dann mit den Schultern: »Nein! Und was ist mit deinem Roman?« Ich ließ ihn stehen, mit ihm darüber zu reden, das von den Manuskripten, die ich kurz nach der Vollendung meines Werkes an Verlage gesandt hatte, nahezu jeden Tag eines zu mir zurückkehrte, hatte ich nun wirklich nicht das geringste Bedürfnis.

Kurz gesagt also: Es war wirklich Zeit, sich mal wieder zusammenzusetzen und ein bisschen etwas für ein besseres Klima bei uns in der WG zu tun: am besten Skatspielen (für eine Runde Doppelkopf waren wir, seit Diana nicht mehr unter uns weilte, zu wenig Spieler), denn das hatte bislang bei Unstimmigkeiten immer geholfen. Und so zockten wir dann ein paar Tage später, als ich einen freien Abend hatte, Gerd nicht dringend telefonieren musste und Udo, da seine Freundin mal etwas anderes unternahm, seinen Schwanz in der Hose lassen konnte, eine Partie Skat.

Zunächst ging alles gut. Wir spielten Runde um Runde, arbeiteten uns an dem Kasten Bier, den ich besorgt hatte, ordentlich ab und qualmten die Bude voll. Abgesehen davon, dass keiner von uns das heikle Thema Frauen ansprach, ein ganz normaler Abend unter Männern. Doch dann schwankte Gerd auf die Toilette, und Udo hatte plötzlich diese Anwandlung, unbedingt doch einmal in diesen Topf hineinschauen zu müssen, der schon des längeren unberührt auf unserem Herd gestanden hatte.

Mir hätte ja sein Gesicht, als er den Deckel hob, vollends gereicht, hätte mir den Inhalt gar nicht zeigen brauchen. Was immer es mal gewesen sein mag, es stank nicht nur, es bewegte sich auch. Vielleicht sogar schneller als Gerd. Denn als Udo ihm – kaum dass er von der Toilette kam – den Topf wortlos unter die Nase hielt (es war einfach klar, dass diese Sauerei von Gerd stammte), da schien es zwar so, als würden Gerds Hände den Topf umfassen, ja, zumindest fassten sie, als Udo ihn losließ, zum Topf, aber eben nicht schnell genug. Vielleicht hatte er sich auf Toilette ja auch einfach nur nicht gründlich genug die nassen Hände abgetrocknet, so dass er noch Seife an den Fingern hatte, jedenfalls sauste ihm der Topf durch die Finger und schlug geradezu spektakulär auf dem Boden auf. Erst schepperte es, dann spratzte es auch mächtig. Was immer es mal gewesen sein mag, jetzt bedeckte es großflächig unseren Küchenboden oder versuchte in den Ritzen der Fliesen zu verduften. Und dann ging alles sehr schnell.

Udo musste lachen, und ich konnte endlich mal wieder lachen, hatte ja schon fast geglaubt, ich wäre der Einzige unter Gottes weitem Himmel, dem Missgeschicke geschehen würden. Gerd lachte nicht. Dafür ging er hoch wie eine Rakete, von langsamen Bewegungen plötzlich keine Spur mehr: »Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich das wegmache!« schrie er. Blitzschnell hatte er kombiniert, denn natürlich glaubten wir dies. Statt einer, oder wie er es wohl aufnahm, als Antwort mussten wir noch mehr lachen, woraufhin er äußerst behende einen Stuhl nahm und vor die Wand warf, was uns dazu brachte, wenigstens zu versuchen, unseren Heiterkeitsausbruch zu unterdrücken, weil es jetzt offensichtlich Ernst wurde. Ich schaffte es sogar ganz gut – der ganze Frust der letzten Zeit war ein ordentliches Gegengewicht gegen Heiterkeit –, stand auf und sagte recht ruhig zu Gerd: »Natürlich machst du das weg, es ist dein Scheiß!« Dann aber musste ich doch kichern, was meine Autorität beträchtlich untergrub, und noch mehr untergrub diese mein auf Gerds Worte: »Ich hab den Scheiß aber nicht hingeworfen!« folgendes Lachen, was jenen dazu brachte, sich den Besen zu greifen und mit diesem drohend auf mich loszugehen: »Hör auf zu lachen, du Arsch!«, schrie Gerd, »Ich mach mich doch hier nicht vor euch zum Affen!« schrie er und hob den Besen über seinen Kopf.

Das hätte er wohl besser nicht getan, immerhin hatte Gerd einen Mann vor sich, dem in der letzten Zeit einiges aus dem Ruder gelaufen war. Aber um des lieben Friedens willen verzog ich mich – immer noch lachend – Richtung Tür. Hatte mir wirklich vorgenommen, jedem Streit aus dem Weg zu gehen, schließlich ging es um die gute Stimmung in der WG. Aber irgendwas in der Art wie Na, dann mach mal schön! habe ich mir dann doch wohl, den Türgriff schon in der Hand, nicht verkneifen können.

Ich hätte die Tür garantiert nicht mehr auf- und vor allem hinter mir zubekommen, so schnell stürzte Gerd brüllend wie ein kompletter Wikingerhaufen beim Angriff auf mich zu. Er hob den Besen, »AaaaaaHHHH!« schrie er, machte einen letzten, langen Schritt: »Aaahhh!« und rutschte auf all dem Scheiß, der den Boden bedeckte, aus. Der Besen flog, seine Arme flogen, seine Beine, und s p r a t z landete Gerd auf dem Rücken mitten im Was immer es gewesen sein mag. So nahmen die Dinge, die nun wahrlich nicht mehr in ihrem rechten Verhältnis zueinanderstanden, ihren Lauf.

Udo konnte sich vor Lachen kaum mehr auf dem Stuhl halten, war richtiggehend am Headbangen vor Schadenfreude. Gerd rappelte sich mit vor wilder Wut verzerrtem Gesicht wieder auf. Ich verließ derweil getreu meiner einmal gefassten Maxime Kein Streit! die Küche. Kaum dass ich im Flur war, hörte ich schon den nächsten Stuhl poltern, Gerd schrie: »Hör bloß auf zu lachen!«, aber Udo lachte weiter, lachte gar noch lauter, dann erneutes Poltern, Gläser splitterten, das war dann wohl der Tisch gewesen, und dann Udos Stimme – nun ohne Lachen: »Wag‘ es nicht!« In diesem Augenblick schwang die Wohnungstür auf und zu allem Überfluss betrat Udos Freundin den Flur, und nun konnte auch ich nicht mehr an mich halten, hatte Udo ihr doch offenbar einen Schlüssel gegeben, ohne es abzusprechen: »Heut’ wird nicht gefickt!« warf ich ihr also, meinen guten Vorsatz über Bord werfend, an den hübschen Kopf (Geschmack hatte er ja, der Udo). Doch da krachte plötzlich Udo mitsamt der Küchentür, die aus den Angeln gerissen wurde, in den Flur hinein. »Oh Gottogott!«, stöhnte nun seine Freundin (das kannte ich schon aus einem in anderen Zusammenhang), doch Gerd, der augenscheinlich in seiner Wut Wahnsinnskräfte entwickelt hatte, schrie sie aus der Küche heraus nieder: »Du gehst mir nicht mehr auf den Sack!« Währenddessen versuchte Udo, unterstützt von seiner Freundin und vielen »Ohgottogott!«, sich aufzurappeln, doch da kam auch schon Gerd wie eine der sieben Plagen über sie: »Ah, das trifft sich gut!« meinte er nur und hieb mit dem Besen auf sie beide ein. Schließlich aber bekam Udo eines von Gerds Beinen zu fassen und riss ihn um, was dann damit endete, dass Udo, seine Freundin und Gerd unter einigem Gebrüll und vielen »Ohgottogott!« in wildem Herumgeringe aufeinander einprügelten, bis ich von all dem Theater genug hatte, den lieben Frieden endgültig lieben Frieden sein ließ, mich – nachdem ich kurz noch einen Blick in die demolierte Küche geworfen hatte – einmischte und die Streithälse trennte. Und nun endlich war – wie man am Niederrhein so sagt – Ruhe im Kartong.

Dachte ich. Denn am Morgen nach dem einschneidenden Skatabend kehrte Carmen mit Macht zurück. […]

Ende

Dies war eine Leseprobe (eine Szene des sechsten Kapitels „Das Ende vom Lied“) aus: Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman von Ralf Boscher. Erhältlich als Taschenbuch und eBook (das eBook noch für kurze Zeit für 2,99 Euro).

Liebe, Lust und Leichen im Keller. Leben und Sterben zwischen Nietzsche, dem Niederrhein und der Müllverbrennungsanlage in Wuppertal, in einer Nebenrolle: die Imperia in Konstanz außer Rand und Band.

„Abschied ist ein scharfes Schwert“ ist ein ungewöhnlich erzählter, an Ironie reicher Mordsroman über einen Schriftsteller und einen Fan, über Gewalt und Gier, Tod und Wiederauferstehung. Ein Buch, das in vielen Genres wildert.

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Dendritenflipper – eine Szene mit Lichterblinken und Pling

Ralf Boscher - Engel

Alex Unbehagen stieg mit jeder Stufe, die er im Hausflur hinabging, und plötzlich, auf dem Fuß der Treppe, hatte Alex die Frage. Und nur einen Schritt weiter hatte er auch die Antwort.

Wann hatte Helen eigentlich den Unfall? so lautete die drängende Frage, und sie ging zusammen mit dem bohrenden Unbehagen in genau der Antwort auf, die er am wenigsten hören wollte: An dem Abend, an dem ich sie abgekanzelt habe! Er schlug die Tür des alten Audi zu, drückte die Zigarette aus, startete, gab Gas und KLACK! schoss er los. Sein schlechtes Gewissen katapultierte ihn in einen ganzen Apparat von Schuldgefühlen. Dendritenflipper: Überall blinkten Lichter, und PLING! stieß ihn das Vonsichselbstenttäuschtsein durch den Raum, durch den er, konfus sich um alles andere als um seine Achse drehend, raste.

Er knallte vor das ZU SPÄT! und das BRÜLLEN des Schaffners ertönte wieder: ABGELAUFEN! Abgelaufen! dröhnte es in Alex Ohren, während eine Art magnetischer Sog ihn auf der Stelle festhielt. Abrupt hörte das Dröhnen auf, Farben wechselten rasend schnell und der Sog löste sich. Alex bekam einen Schlag von hinten und schoss wieder quer durch den Flipper. AN DEM ABEND, DA ICH SIE ABGEKANZELT HABE! sang quäkend eine etwas leiernde Automatenstimme und bei: ICH HAB‘ ES NOCH NICHT MAL GEWUSST! gab es ein Freispiel.

Das gab einen Haufen Punkte, und er fuhr in einem Aufzug, die Wände verspiegelt, mehrfaches, dutzendfaches Bild des KLEINEN, SCHWACHEN, DICKLICHEN JUNGEN, in die zweite Etage des Apparates hinauf. Das Spiel hier nannte sich: DU HÄTTEST BEI IHR SEIN SOLLEN! und kaleidoskopmäßig gebrochen jagten Erinnerungsfetzen durch sein Hirn, Frustfetzen, Selbstekelschnipsel, und eine altbekannte Stimme heizte dieses kreisende, sich so verdichtende Depressionsmosaik noch an: MACH DICH DOCH EINFACH WEG! Bei: SIE WOLLTE NICHT BEGRABEN WERDEN! bekam Alex wieder einen Schlag und weiter ging es, begleitet von der altbekannten Stimme, wieder hinunter in die erste Etage: AN DEM ABEND, DA ICH SIE ABGEKANZELT HABE! sang hier die müde leiernde Automatenstimme noch ein paar Takte, und der Schaffner brüllte noch einmal: ABGELAUFEN! dazwischen; dann färbte sich die Welt rot, und Alex knallte vor das ZU SPÄT! Er hatte eine Ampel übersehen und war auf ein anderes Auto geprallt.

Ende der Leseprobe. Entnommen dem Kapitel “Teufel im Leib” aus Ralf Boschers Roman “Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel”.

“Engel spucken nicht in Büsche” – ein Krimi. Ein Roman über den Verlust der Unschuld. Erotisch. Hart. Zärtlich. Schonungslos. Ein spannendes Buch über Hoffnung und Schmerz, über Liebe, Leid und Lust.

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Am liebsten hätte er nicht hingesehen – eine Familientragödie in 7 Strophen

Tragoedie
Am liebsten hätte er nicht hingesehen

Er ist zufrieden und sitzt wohlig warm
Vor dem Fernseher, das Töchterchen im Arm,
Plötzlich hört er einen schrillen Schrei,
Besorgt eilt Inge, seine Frau, herbei:

„Wo kam das her, dieses Schreien?“
„Es wird aus dem Fernseher gekommen sein!
Ich bringe jetzt die Kleine ins Bett,
Und dann machen wir es uns so richtig nett!“

Als er am Bett des Töchterchens steht,
Hört er, dass das Schreien weitergeht.
Er gibt ihr ein Küsschen und sagt ihr im Gehn:
„Träume schön, ich werd den Fernseher leiser drehn,

Jetzt schließ die Augen. Gute Nacht!“
Ganz leise er die Tür zumacht.
Das Schreien unterdessen hat aufgehört.
Endlich, denkt er, ist man ungestört.

„Endlich ruhig!“, sagt Inge, „Gott sei Dank!
Und Karin übernachtet heut bei Frank!“
Ja, und die Kleine schläft, endlich allein.
Komm, lass uns etwas gemütlich sein!“

Später, als sie ein Wimmern hören,
Lassen sie sich davon nicht mehr stören.
Am Fernseher drehen sie die Lautstärke rauf,
Da hört das Wimmern auch schon auf.

Am Morgen dann, er wollte zur Arbeit gehn,
Hat er, am liebsten hätt er nicht hingesehn,
Karin neben der Garage gefunden,
Nackt, tot, einen Gürtel um den Hals gebunden.

Ralf Boscher -Pommes
Das Gedicht stammt aus „Pommes weiß rot, Papagei und Tod. Familiengeschichten“.

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dies irae – Liebeskummer-Gedichte

Liebeskummer

Wir sind uns so fern

Du bist mir so fern,
Dabei wäre ich so gern
Dir so nah und Du
Wirfst Blicke mir zu,
Diese Blicke.
Wir lieben uns und sehen,
Wir wollen nicht auseinander gehen.
Dies hätte ich so gern,
Aber ich bin Dir so fern.

circulus vitiosus

Ich lag auf dem Bett,
Versuchte, zu lesen,
Und dachte doch an Dich.
Da fielen mir die Augen zu,
Und ich träumte davon,
Dass ich, als mir die Augen zu fielen,
An Dich dachte,
Obwohl ich versuchte, zu lesen,
Dort auf dem Bett,
Auf dem ich liege,
versuche, zu lesen,
Und doch an Dich denke.

carpe diem

Der Tag verlor sich in Stunden,
Da ich nur Zeit durch Adern presste.
Geronnen in Trägheit klumpten Sekunden
Zu Minuten, die aufhäuften sich zu Stunden,
In denen Tag um Tag belanglos verstrich
Und ich allmählich verblich.

dies irae

Bleib, wo du bist,
Und wo das auch ist,
Ich will es nicht wissen,
Will nicht erfahren müssen,
Wie es dir geht,
Wie es um dich steht,
Rühr mein Herz nicht an,
Damit es irgendwann
Nicht mehr wehtut,
Nicht so wehtut.

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Eine Menage á trois, weißes Pulver und The Doors – neue Leseprobe aus „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“

Ralf_Boscher_Krimi_Mordsroman_Abschied„Johanna war Erstsemester Philosophie, hatte aber zuvor schon einige Semester Wirtschaftswissenschaften studiert. Ich lernte sie in der Cafeteria kennen, wo sie bei einer Zigarette über dem kommentierten Vorlesungsverzeichnis Philosophie saß, und sich, wie sie es ausdrückte, ansah und anstrich, was sie sich dann doch nicht ansehen würde. Sie machte einen etwas verlorenen Eindruck auf mich. Das Einzige, was sie sicher wusste, schien zu sein, dass sie Zeit bräuchte, um sich zu entscheiden, was sie denn jetzt aus ihrem Leben machen wollte (deswegen auch Philosophie als Fach, nicht da die Philosophen sich mit Lebenszielen auskennen würden, sondern da das Fach so strukturiert war, dass es einem die Zeit ließ, diese Frage wenn schon nicht zu beantworten, dann doch zu stellen). Und was sie noch sicher wusste, war, dass sie eine feste Liebesbeziehung wollte. »Bin halt hoffnungslos romantisch«, meinte sie, »Glaube halt daran, dass es jemanden da draußen gibt, einen mir vorbestimmten Jemand, mit dem ich mein Leben teilen und alt werden will.« Ob mit Männlein oder Weiblein, war dann schon wieder unsicheres, den gängigen romantischen Vorstellungen nicht entsprechendes Terrain. Als ich meinte, na, wenn bei mir auch manchmal alles zu schwimmen scheint, das wenigstens sei mir klar, schaute sie mich fragend an: »Du sagst das so sicher. Noch nie einen Typen getroffen, der dich anzog? Noch nie dieses Kribbeln gespürt, wenn die Grenzen, die einem so mühsam anerzogen wurden, zu zerfließen scheinen?« Nein, sagte ich, ich könne mir halt nicht vorstellen, einen Mann zu küssen, und dann vielleicht noch einen mit Bart. »Aber das jemand dich küsst, dich Mann mit Dreitagebart, das kannst du dir schon vorstellen?«, meinte sie schnippisch. Und dann meinte sie noch: »Stell’ dir doch nur mal vor, wie viele neue Möglichkeiten sich da für dich ergeben würden. So rein quantitativ!« Typisch Wirtschaftswissenschaftler, erwiderte ich, immer den Mehrwert im Kopf, vor lauter Quantitäten völlig die Qualität aus den Augen verlierend.

Aber auch wenn Johanna mir dann mit geradezu missionarischem Eifer von einer menage á trois erzählte und die Zahlenverhältnisse nun wirklich, was die Möglichkeiten intimer Zwischenmenschlichkeit anging, auf ihrer Seite waren, schien sie mir trotzdem keinen sonderlich erfüllten Eindruck zu machen. Was ich ihr dann auch sagte. »Ja, an manchen Tagen«, seufzte sie übertrieben theatralisch, »da liegt’s einem einfach auf der Seele. Da macht’s keinen Unterschied, ob der Heuhaufen nun zwei Meter oder vier Meter hoch ist, die Sehnsucht, die Nadel zu finden, ist die Gleiche.«

Eine Zeit lang trafen wir uns oft in der Cafeteria, zufällig, wobei ich dem Zufall ein wenig auf die Sprünge half, indem ich mehrmals am Tag der Cafeteria einen Besuch abstattete und nach Johanna Ausschau hielt. Und dann endlich fragte sie mich, ob ich vielleicht am Abend mit ihr ausgehen wolle. Sie würde mich abholen.

Zur verabredeten Zeit saß ich an meinem Schreibtisch über meinem Manuskript, ein Glas Rotwein neben mir und harrte der Dinge, die da kommen mögen. Und was kam, war nicht nur Johanna, sondern ebenfalls eine Freundin von ihr. Wie sich herausstellen sollte, eine sehr gute Freundin von ihr. Ich hatte das Klingeln absichtlich überhört, war so vertieft in mein Manuskript, dass Udo ihnen aufmachen musste. Als die beiden Hand in Hand mein Zimmer betraten, geschah dies genau in dem Augenblick, da ich die Seite aus meiner Schreibmaschine riss, zerknüddelte und in Richtung der Bücher warf, die ich als vorbereitende Lektüre für meine Hauptfigur benutzte und die ich dekorativ um mein Sofa herum drapiert hatte. Johannas Freundin meinte gleich: »Der Künstler am Werk!«, und als ich aufstand, ihnen entgegenkam und sagte: »Na, ein Werk soll es noch werden, jetzt ist es vielleicht nur ein Werkchen!«, war das Eis gleich gebrochen.

Wir fuhren dann zum RPL, dem Rockpommels Land. Raphaela saß am Steuer und Johanna neben ihr auf dem Beifahrersitz. Eine Flasche Rotwein kreiste, geht ja fast immer nur gerade aus auf der B7 Richtung Gevelsberg, aus dem Kassettenrekorder dröhnte, uns auf die erwartete Musik einstimmend, Led Zeppelin, Johannas Kassette, am Vortag aufgenommen. Since i’ve been loving you, dreimal hintereinander, dann viermal Babe i’m gonna leave you. »Heuhaufen-Stimmung?!«, schrie ich nach vorne und stupste ihr mit einem Finger in die Seite (was so viel bedeuten sollte, wie: Schau her, hier bin ich doch, die Nadel!), woraufhin Johanna mich, sich mit ihrem Oberkörper zwischen den Sitzen nach hinten zwängend (sie fuhr ohne Gurt), am Nacken packte, mich doch wahrhaftig auf den Mund küsste, dabei sogar mit ihrer Zunge meine Lippen berührte, und ebenfalls schrie: »Ja, und Grenzenverwisch-Stimmung!«. Na, dachte ich, das kann ja was geben.

Und es gab etwas. Etwas, was es, bei aller Liebe für Johanna, bestimmt nicht gegeben hätte, wenn sie mich nicht so betrunken gemacht hätten. Ich sage es mal so. Johanna war mit ihrer Mission, meine Möglichkeiten quantitativ (und wie ich es empfand, vor allem qualitativ) zu erweitern, in dieser Nacht erfolgreich. Denn die Nacht, die wir zu dritt begonnen hatten, endete in Raphaelas Altbauwohnung zu viert.

Raphaela war erstaunlich. Wenn ich nicht schon ein Auge auf Johanna geworfen gehabt hätte, dann wäre es gut möglich gewesen, dass ich mich in sie verguckt hätte. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die bei den ruhigen Parts eines Rockstücks so aus den Hüften heraustanzte, um dann bei den härteren Stellen förmlich zu explodieren. Ich und Johanna standen an der Tanzfläche, mit dem Rücken zur Theke (wo sie einen Gin-Tonic nach dem nächsten orderte und bezahlte) und beobachteten sie, beziehungsweise, ich beobachte vor allem Johanna, wie sie Raphaela beobachtete, und wenn ich ein Blitzen in ihren Augen sah, dann sah ich auf die Tanzfläche, wo ihre Freundin umringt von lauter gestandenen Rockern und rockbegeisterten Studenten ihre Hüften schwang. Zwischendurch tanzten auch wir, ich und Johanna, wobei es mir sehr angenehm den Rücken herunter kribbelte, dass sie mich dabei fortwährend ansah, mich manchmal in ihre Arme nahm, ihren Unterleib gegen meinen schwingen ließ, und mir ins Ohr sang, wobei sie ein ums andere Mal mit ihrer Zunge meine Ohrmuschel liebkoste.

Das tat sie auch später in dieser Nacht noch einmal, da alles gelaufen war und wir auf Raphaelas breitem Bett lagen, rauchten und ich mühsam versuchte, mir darüber klar zu werden, was denn da eigentlich geschehen war. »Und war es so schlimm? Jetzt hast du jedenfalls Stoff für deinen Roman!«, meinte sie leise, um die beiden anderen nicht zu wecken, und das Lächeln in ihrer Stimme war nicht zu überhören, als sie dann noch sagte: »Ich habe Raphaela extra gebeten, uns einen Kerl auszusuchen, der glatt rasiert ist!«

»Ja!«, meinte ich, nur mühsam meine Beherrschung behaltend, da mir bei ihren Worten schlagartig klar wurde, dass ich nicht die von ihr gesuchte Nadel im Heuhaufen war, sondern nur jemand, mit dem man sich nett die Zeit im Heu vertreiben konnte, bis man irgendwann auf eben jene Nadel stieß, »Ja, Haare auf den Zähnen hat er jedenfalls keine gehabt!« Gleichwohl dachte ich, dass ich diesen Typ so ganz spontan doch gerne um einiges gründlicher rasieren würde, als es einem Mann lieb sein kann…

Nun gut, er konnte nichts dafür, dass ich auf Johannas linkes Spiel hereingefallen war. Gezwungen mitzuspielen hat mich ja schließlich auch keiner. Es sei denn, man wollte diesen unwiderstehlichen Drang, den ich verspürte, nicht lange, nachdem wir zu viert Raphaelas Wohnzimmer betreten und uns über eine Flasche Jack Daniels hergemacht hatten, und Johanna begann, zu tanzen und sich dabei ihrer Wäsche zu entledigen… Also, es sei denn man wollte diesen Drang, den ich spürte, als ich ihre großen Brüste in weichem Kerzenlicht zur lauten Musik von Guns N’ Roses (Welcome to the jungle) wippen sah und neben mir auf dem Sofa Raphaela sich über den Schoß ihres neuen Bekannten gebeugt daran machte, jenem zu zeigen, dass sie nicht nur die richtige Bewegung der Hüften drauf hat… Ja, es sei denn, man interpretiert dieses Gefühl, das mich aufstehen ließ, als Johanna sich – mich anlachend – Whiskey über ihre Brüste goss, bis sie golden schimmerten, ja, das mich aufstehen und schließlich an Johannas Brüsten lecken und saugen ließ, während ich aus den Augenwinkeln sah, dass es nun an dem Kerl war, der auf dem Sofa ausgestreckten Raphaela zu zeigen, dass auch er die richtigen Bewegungen kannte… Ja, es sei, man nimmt an, dass dieser Drang, der Spur des Whiskeys zu Johannas nacktem Bauch hinab zu folgen, etwas so Zwanghaftes an sich gehabt hätte, dass ich nicht anders konnte, als Johanna Folge zu leisten, da sie mir bedeutete, dieses weiße Pulver, das sie sich selbst unter die Zunge massierte, von ihren feuchten Brustwarzen zu lecken.

Nein, gezwungen hat mich niemand, mich ebenfalls auszuziehen und stillstehen zu bleiben, als dann Raphaela – zugegeben, berückend unberockt – zu Johanna und mir trat, während dieser Kerl, die Hose um die Knie baumelnd, zur Anlage stolperte, um neue Musik aufzulegen. Lächelnd hielt ich still, als Raphaela ihre Finger in die Haare der mittlerweile vor mir knienden Johanna grub und sie mit sanfter Gewalt zu sich hochzog. Raphaela schlang ihr Arme um Johannas nackte Hüften und die beiden küssten sich leidenschaftlich, während aus den Boxen jetzt die Live-Version von Light my fire schallte, was ebenso abgeschmackt wie passend war, und mir eine Hand, nein, zwei Hände das Gefühl gaben, ein Teil dieses Kusses zu sein. Dieses Kusses, an dem dann auch meine Lippen und meine Zunge Anteil nahmen, bis es an Johanna war, nun ihrer Freundin in die Haare zu fassen und jener die Richtung zu zeigen, in die sie nun zu gehen hatte, den Weg, den bereits eine ihrer Hände vorangegangen war, und an dessen Ende ich in lächelnder, stiller Erwartung wartend stand. Ich hätte Nein! sagen können, als Johanna das weiße Pulver nahm, mich damit betupfte, und Raphaela die Anweisung gab, es abzulecken. Selbst wenn ich es vielleicht nicht sofort gesehen und gespürt hätte, was Johanna mit mir und an mir und durch mich tat, hätte ich immer noch Nein! sagen können, als auch Johanna sich vor mich hinkniete und sich mit Raphaela beim Tupfen und Lecken abwechselte, als plötzlich dieser Kerl neben mir stand, und sich das Betupfen und Lecken auf ihn ausdehnte, als The End begann, und sie zu dritt vor mir knieten, als…

Nun, Schwamm drüber, ein paar Tage danach war all das nicht mehr wichtig, denn ich lernte Magdalena kennen, und dann hatte ich ihn endlich, meinen Mörder, und Johanna und Raphaela und der Kerl waren nur noch Futter für meine Bestie.“

Ende der Leseprobe aus: Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman von Ralf Boscher. Der Roman ist als eBook und als Taschenbuch bei Amazon erhältlich.

Liebe, Lust und Leichen im Keller. Leben und Sterben zwischen Nietzsche, dem Niederrhein und der Müllverbrennungsanlage in Wuppertal, in einer Nebenrolle: die Imperia in Konstanz außer Rand und Band.

„Abschied ist ein scharfes Schwert“ ist ein ungewöhnlich erzählter, an Ironie reicher Mordsroman über einen Schriftsteller und einen Fan, über Gewalt und Gier, Tod und Wiederauferstehung. Ein Buch, das in vielen Genres wildert.

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Historisches: Es geschah Anno Domini 1983 – „Eine Gesellschaft“, die erste Kurzgeschichte von Ralf Boscher

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Eine Gesellschaft

1. Mit der ihm eigenen ruhigen Arroganz gab Hermann der Maior Domus einige letzte Anweisungen und sorgte dafür, dass alles nach den Wünschen seiner Herrin hergerichtet wurde. Unter seinem strengen Blick eilten zwischen den Säulen der in weißem Marmor gehaltenen Halle weißgekleidete Bedienstete geschäftig hin und her. Manche hielten in ihren behandschuhten Händen silberne Schüsseln angefüllt mit kulinarischen Delikatessen aus allen Teilen der Erde. Andere trugen in kleinen Gruppen die Blumendekoration an die vom Maior Domus dafür ausgesuchten Stellen. Wieder andere stellten begleitet von Gezwitscher eine Voliere mit Singvögeln auf. Instrumente wurden herumgetragen, der Violinist des Kammermusikensembles spielte sich ein. Endlich klatschte Hermann in die Hände. Stille trat ein. Einen kurzen Moment verstummten sogar die Vögel. Es war Zeit, dass jeder an seinen Platz ging. Das Fest konnte beginnen.

Limousinen fuhren vor. Portiers bemühten sich um die geschätzten Gäste: Würdevoll öffneten sie die Wagentüren und verhalfen den Damen der Gesellschaft zu einem angenehmen und angemessenen Ausstieg, geleiten sie und ihre Männer oder Begleiter in die Villa hinein. Kammermusik erklang dezent aus wohl gepflegten Instrumenten. Die Empfangshalle erstrahlte durch die vielen Lichtreflexe, die die Geschmeide der Damen zauberten. Champagner wurde gereicht. Leise unterhielt sich die wachsende Zahl Gäste. Der Umgang war würdevoll und dezent. Nur selten war ein leises Lachen zu hören, während alle auf das Erscheinen der Hausherrin und Gastgeberin warteten.

Dann erschien sie auf der großen Treppe und schritt langsam die Stufen hinunter. Die Dame des Hauses trug eine goldfarbene Komposition, winzige eingearbeitete Edelsteine funkelten im Schein der Lampen. Das enganliegende, tief dekolletierte Oberteil und der glockenförmige Rock untermalten vollendet ihre immer noch erstaunlich wohlgeformte Figur. Sie war beliebt. Niemand der Anwesenden würde angesichts ihrer Figur und ihres faltenfreien Gesichtes das Wort „erstaunlich“ verwenden und davon sprechen, dass nur ihre Hände ihr wahres Alter verraten würden, wenn sie denn nicht Handschuhe trüge.

Lange nahm sie am Fuß der Treppe Gratulationen, Komplimente und Geschenke entgegen, die ihr, sobald der jeweilige Gratulant weitergezogen und sich dem üppigen Buffet zugewendet hatte, Hermann, der neben ihr stand, aus den Händen nahm. Alsdann eilte ein Angestellter herbei, nahm das Geschenk von Hermann entgegen und trug es zu den anderen in einen Nebenraum.

„Charles!“
Endlich trat der Letzte in der langen Reihe Gratulanten zu ihr.
„Elvira, ich bitte dich mein spätes Auftreten zu entschuldigen!“
„Charles, das ist doch nicht von Belang. Es liegt mehr in meinem Interesse, dass du überhaupt den Weg zu mir gefunden hast.“
„Elvira, ich danke dir für deine Nachsicht, du weißt doch, zu dir finde ich immer einen Weg.“
Die Hausherrin kicherte wie ein kleines Kind, wobei ihre Augen ohne ein Zeichen von Vergnügen das Geschenk betrachteten, welches ihr Gast ihr entgegenhielt.
„Meine Liebe, ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Ich hoffe du freust Dich, es ist schwer etwas zu finden, das der Bedeutung deines Geburtstages angemessen ist.“
„Parfüm Charles, wie lieb. Aber es steht ja gar nichts auf dem Flakon?“
„Es ist etwas ganz Besonderes, Elvira. Ich habe es aus Istanbul mitgebracht!“
„Oh ja, sehr exotisch. Danke!“
Elvira nahm den Flakon entgegen, betrachtete ihn kurz und verabschiedete sich dann von ihrem Gast.
„Du verstehst! Ich muss mich auch um meine anderen Gäste kümmern…“
Charles nickte ergeben und entfernte sich.
Elvira reichte das Flakon mit spitzen Fingern an Hermann weiter.
„Kümmern sie sich um das Parfüm“
„Sehr wohl gnädige Frau. Gerne.“
Dann nahm sie ein Bad in der Menge.
„Herr Bürgermeister, fühlen Sie sich wohl? Kümmert man sich auch um sie?“
„Danke der Nachfrage, Ich kann mich nicht beklagen. Ihre Angestellten umsorgen uns ja wirklich sehr umsichtig. Übrigens, eine sehr hübsche Idee die Voliere aufzustellen. Ist es nicht wunderbar, wie beruhigend doch Vogelgezwitscher auf den Menschen zu wirken vermag?“
„Durchaus, Herr Bürgermeister, durchaus…“

2. Hermann öffnete unterdessen im Keller der Villa eine Stahltüre, die mit Sicherheitsschlössern verriegelt war. Er schaltete das Neonlicht ein und betrat das hellgrün eingerichtete Labor. Hier hielt er sich gerne auf, denn er liebte die Ruhe hier unten. Hermann stellte das Parfüm-Flakon auf dem Labortisch ab und ging zu den ebenfalls hellgrünen Kästen, welche an der Wand angeordnet waren. Im Gehen zog er sich sterile Handschuhe an, dann öffnete er einen der Kästen und nahm eine junge Katze heraus.
„Komm, du darfst heute der gnädigen Frau dienen!“
Er ging, das Kätzchen, welches zitterte, mit seinen Handschuhen streichelnd, zu dem Labortisch und freute sich:
„Wie wenig Ärger ihr doch macht, wenn euch Krallen und Zähne fehlen.“
Auf dem Tisch stand eine glänzende, stählerne Vorrichtung, und in diese hob er jetzt die Katze hinein. Klammern schlossen sich sorgfältig um ihre zitternden Gliedmaßen und ihren Kopf. Hermann markierte dann einen Ausschnitt bestimmter Größe auf dem Rücken der Katze. Diesen schnitt er sorgfältig mit einem Skalpell aus.
Hermann genoss, während er mit geübten Handgriffen zu Werke ging, die Stille, die nur unterbrochen wurde, wenn er mit einem Tuch die Klinge freimachte von Blut, Haut und Haaren. Da der Katze die Stimmbänder durchtrennt worden waren, störte sie die Ruhe nicht. Nachdem Hermann die Fläche freigelegt hatte, setzte er kleine Klammern an den Augenlidern der Katze an, um die aufgerissenen Augen sicher offenzuhalten. Dann öffnete er den Flakon, zog mit einer Pipette eine genau abgemessene Menge des Parfüms auf und tröpfelte diese in die offene Wunde und in die blauen Augen. Anschließend verschloss Hermann den Flakon, jetzt musste er warten und beobachten. Dazu setzte er sich auf einen Stuhl, von dem aus er die Katze im Blick hatte. Aber er ließ sich nicht nieder, ohne sein Jackett abzulegen.

3. „Finden Sie das nicht schrecklich?“
„Aber sicherlich, und er soll auch seine Kinder geschlagen haben?“
„Aber ja, ich weiß es von ihr!“
„Ich finde es erschreckend, wie sehr in unserer Welt die Brutalität zugenommen hat. Ja, Hermann? Treten Sie heran!“
„Gnädige Frau, ich habe mir erlaubt, das Geschenk in der gnädigen Frau Schlafzimmer bringen zu lassen!“
„Danke Hermann. Sie können gehen. Wo waren wir noch verblieben? Ach es kommt mir wieder in den Sinn. Glauben Sie nicht auch, dass unsere Welt immer grausamer wird? Also neulich, da haben Sie das Auto meiner Schwester…“

4. Früher Morgen, der angefallene Abfall der Gesellschaft wird aus dem Haus entfernt und in einen großen Müllcontainer, der hinter einem Wirtschaftsgebäude abseits der herrschaftlichen Villa steht, hineingeworfen. Viele Angestellte gehen oft zum Container, aber niemand bemerkt das sich ab und zu leicht bewegende Etwas in einer der Abfalltüten.

Ende

Lange ist es her, dass ich meine erste Kurzgeschichte schrieb. Hier das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. „Eine Gesellschaft“, geschrieben 1983.

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Mit viel Pommes weiß rot… eine Familiengeschichte: „An einem Sonntag im Hallenbad“

Ralf Boscher -Pommes
An einem Sonntag im Hallenbad

1. Der sechsjährige Jan rutschte vor Aufregung auf dem Rücksitz hin und her, der betagte, aber tüchtige VW-Käfer vibrierte unter seinem schmächtigen Hintern, als sie über den Hügel nach Rheurdt hineinfuhren. Hui, machte Jan, den Fahrtwind imitierend, als sein Vater den Käfer den Hügel hinabrollen ließ und dieser bergab Geschwindigkeit aufnahm. Jetzt nach rechts abbiegen. Jan kannte die Strecke mittlerweile genau. Seit einigen Wochen fuhren sie jeden Sonntagmorgen hier entlang. Dann noch durch ein paar schmale Straßen, und schließlich lag es am Ende einer langen Geraden vor ihnen: Das Rheurdter Hallenbad. Vater Hoen stellte den Käfer auf einem der letzten freien Plätze auf dem Parkplatz ab. Jan konnte es gar nicht erwarten und krabbelte auf den Beifahrersitz. Dann stiegen sie aus. In der kühlen Herbstluft lag bereits der typische Geruch von Chlor und einer satten Prise Desinfektionsmittel. Jan zog seinen Vater an der Hand zum Hallenbad. Komm! Schwimmen!

Den Sommer zuvor hatte sein Vater es ihm beigebracht, Jan hatte schnell gelernt und schon nach ein paar Wochen auf die Schwimmflügel verzichten können, und seitdem fieberte Jan den Sonntagen entgegen, um sein neu erworbenes Können unter Beweis zu stellen. Vielleicht dürfte er heute wieder ins Erwachsenenbecken? Die Woche zuvor war er neben seinem Vater einige Meter im tiefen Schwimmerbecken geschwommen. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl gewesen, keinen Boden zu fühlen, wenn er seine Füße ausstreckte. Er hatte den Boden noch nicht einmal richtig sehen können, so tief war das Becken. Er hatte ein wenig Schiss gehabt. Aber das hätte er nie zugegeben. Dafür hatte er sich viel zu erwachsen gefühlt, in dem großen Becken. Erwachsene haben schließlich keinen Schiss. Außer seine Mama. Die fürchtete sich vor Wasser. Die war aber auch ein Mädchen, das zählte also nicht. Jan war mutig ins tiefe Wasser gestiegen und geschwommen. Allerdings war er heilfroh gewesen, dass sein Vater neben ihm schwamm und aufpasste. Aber auch das hätte er nicht zugegeben. Schließlich war ein großer Junge, und die brauchten keinen Aufpasser. Außerdem war der Beckenrand nur eine Armlänge entfernt gewesen…

Sie betraten das Gebäude. Vater Hoen bezahlte, und sie gingen in die Umkleidekabine. Jan wollte einen eigenen Spind, denn dann würde er einen eigenen Schlüssel haben, den er sich um das Handgelenk binden konnte. Genauso wie es alle großen Jungs machten. Vater Hoen gab ihm lächelnd einen Euro für das Spindschloss. Jan war so aufgeregt, dass er seine Anziehsachen einfach in den Spind hineinwarf, ohne sie an die dafür vorgesehenen Haken zu hängen. Er schaffte es kaum, vernünftig in seine Badehose zu schlüpfen, denn in Gedanken war er schon im Wasser. Das Schlüsselband um sein dünnes Handgelenk zu schließen, war auch nicht so einfach. Natürlich lehnte er das Angebot seines Vaters, ihm dabei zu helfen, empört ab. Dann war es geschafft, sie stellten sich kurz unter die Dusche und betraten die Schwimmhalle.

2. Es war ganz schön etwas los. Die beiden Becken, das Schwimmer- und das Kinderbecken, wimmelten nur so von Köpfen und im Wasser rudernden Armen. Kindergeschrei übertönte die Musik, die aus den Lautsprechern in der Decke herabrieselte. Die Trillerpfeife des Bademeisters schrillte, als ein paar größere Jungs vom Beckenrand ins Wasser sprangen. Papa Hoen summte vor sich hin, als sie zu den orangefarbenen Sitzen über den Heizungsrohren gingen, die unterhalb der beschlagenen Glasfront der Halle angebracht waren, um ihre Handtücher abzulegen. Immer wieder Sonntags kommt die Erinnerung… Trotz der enormen Geräuschkulisse hatte er den Schlager erkannt, den der Radiosender in diesem Moment spielte. Dann standen Vater und Sohn, beide die Hände in die Hüften gestützt und ihre vom Umfang so unterschiedlichen Bäuche unbewusst vorgereckt, auf dem schmalen Gang, der Schwimmer- vom Kinderbecken trennte. Was meinste, sollen wir es wieder versuchen?, fragte Vater Hoen und nickte zum Schwimmerbecken hinunter. Klar!, antwortete Jan, aber ihm war doch ein wenig mulmig zumute. Im Becken tummelten sich die Schwimmer, das Wasser war aufgewühlt und nicht so ruhig wie beim ersten Mal, als er dort geschwommen war. Ob er überhaupt genug Platz haben würde? Würde ihn auch niemand übersehen und einfach über den Haufen schwimmen?

Aber seine Besorgnis war unbegründet. Während er langsam und mit größter Konzentration am Rand entlang schwamm, einatmen, ausatmen, die Hände zusammen und dann in langer Bewegung das Wasser nach hinten drücken, genauso wie es ihm sein Vater gezeigt hatte, schirmte der mit seinem Körper alle anderen Schwimmer von seinem Sohn ab. Vater Hoen trat neben Jan Wasser, sodass niemand seinen Versuch, sich im Brustschwimmen zu üben, stören konnte. Nur einmal sprangen zwei der größeren Jungs vom Beckenrand einfach über die beiden hinweg und eine größere Welle schwappte Jan ins Gesicht. Er erschrak und verschluckte sich so arg, dass er sich hustend am Beckenrand festhalten musste. Als aber der erste Schrecken vorbei war, ging es auch schon weiter. Einatmen, ausatmen… Toll machst Du das!, lobte Papa Hoen ihn, und Jan freute sich so über das Lob, dass er einen Augenblick unkonzentriert war und wieder Wasser schluckte. Gut, dass er Weißbrot gefrühstückt hatte, das saugte das ganze Wasser in seinem Magen auf und sorgte dafür, dass es nicht so rumgluckste.

3. Nach einer Weile aber waren Jans dünne Arme ein wenig schlapp, und er brauchte eine Pause. Er hätte dies nicht zugegeben. Aber er war froh, als sein Vater meinte, es sei genug für heute, Jan solle doch noch ein wenig im Kinderbecken rumplanschen und er würde ein paar Bahnen schwimmen. Jan kletterte die Leiter hinauf und setzte sich einen Moment auf einen der warmen Sitze über der Heizung. Er sah seinem Vater zu, wie jener durch das Becken kraulte. Das werd‘ ich auch bald können!, dachte er träumend und rieb sich seine chlorroten Augen. Du siehst ja aus wie ein Kaninchen!, sagte seine Mutter immer, wenn sie vom Schwimmen nach Hause kamen.

Jan setzte sich dann auf die Stufen, die auf ganzer Front in das Kinderbecken hineinführten. Das Wasser reichte ihm gerade bis zu den Hüften, und es war wärmer als das im Erwachsenenbecken. Das war angenehm, Jan erzeugte kleine Fontänen, indem er seine Hände wie zum Gebet verschränkte und dann mit einem Ruck ins Wasser drückte, sodass ein schmaler Strahl aus der Lücke zwischen Daumen der einen und Zeigefinger der anderen Hand hervorspritzte. Das Becken hatte sich mittlerweile beträchtlich geleert, die meisten Kinder waren mit ihren Eltern nach Hause gefahren, es war Mittagessenzeit. Jan beobachtete die zwei verbliebenen Kinder bei ihren Schwimmversuchen. Du wirst es doch wohl schaffen, den Kopf über Wasser zu halten!, brüllte der eine Vater seinen Sohn beinahe an, der jedes Mal, wenn sein Vater ihn losließ, prustend unterging. Vater Hoen hatte seinen Sohn nie angebrüllt. Jan war froh, er glaubte nicht, dass Schwimmen ihm Spaß machen würde, wenn er es so hätte lernen müssen. Das andere, wesentlich jüngere Kind planschte, getragen von Schwimmflügeln, im Wasser herum, während seine Mutter, gerade einmal bis zu den Knie im Wasser, kopfschüttelnd danebenstand und diesen ungeduldigen Vater beobachtete. Als dieser Junge wieder einmal mit hochrotem Kopf und Wasser spuckend an die Oberfläche kam – Jan musste grinsen, es sah doch ein wenig ulkig aus – stand Jan von den Stufen auf und ließ sich auf dem Rücken liegend zum tiefsten Punkt des Kinderbeckens treiben, der unterhalb jenes schmalen Ganges lag, an dem Kinder- und Schwimmerbecken zusammentrafen. Selbst hier reichte ihm das Wasser nur knapp bis über den Bauchnabel, wenn er sich hinstellte. Während die Mutter und ihr Kind das Becken verließen, hielt Jan sich auf dem Rücken liegend am Beckenrand fest und tauchte, während er mit seinen Beinen knapp unterhalb der Wasseroberfläche Fahrrad fuhr, bis zu seinen Ohren unter.

Mit den Ohren unter Wasser fühlte sich Jan, als wäre er in einer anderen Welt. Ein angenehmes Rauschen dämpfte die Ermahnungen dieses unangenehmen Vaters, die Trillerpfeife des Bademeisters hörte sich an, als puste jemand durch Watte. Jan glaubte die Maschinen zu hören, die das Wasser der Schwimmbecken umwälzten. Aber vielleicht war dieses leise Pochen auch nur sein eigener Puls, der in seinen Ohren wiederklang. Er blickte zur Decke empor, die – so hellblau wie sie war – ihm das Gefühl gab, unter Wasser zu sein. Ich kann unter Wasser atmen!, dachte Jan grinsend, Ich bin der Aqua-man! In diesem Augenblick sprangen zwei der älteren Jungen über ihn hinweg ins Kinderbecken hinein, vor Schreck ließ Jan die Kante des Beckens los und sein Kopf sank unter Wasser. Dieses Mal schaffte er es, die Luft anzuhalten und kein Wasser zu schlucken. Ein paar Mal ruderte er mit seinen Armen, um zu schwimmen und aufzutauchen, dann fiel ihm ein, wo er sich befand und setzte seine Füße auf den Boden und stellte sich hin. Einen ordentlichen Schwung Wasser schluckte er, als er sich aufrichtete und Luft holen wollte, denn einer der beiden Jungen spritzte ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. Treffer!, rief der Junge lachend und schlug noch einmal mit der flachen Hand so auf die Wasseroberfläche, dass ein breiter Strahl sich über Jan ergoss. Der drehte sich dieses Mal aber rechtzeitig zur Seite, sodass das Wasser nicht sein Gesicht traf. Dieses traf dann aber der andere Junge, der ihm von der anderen Seite mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schaufelte. Jan rieb sich seine Augen, die vom Chlor im Wasser ein wenig brannten und tränten. Oh, muss der Kleine weinen!, spottete der eine Junge, der andere sagte: Wohl ein wenig wasserscheu! Nein!, gab Jan trotzig zurück, bin nicht wasser… Wasserscheu hatte er sagen wollen, aber dieses Mal bekam er von beiden Jungs eine Ladung Wasser ab und verschluckte sich. Er musste husten und rang nach Luft. Dass der eine Junge meinte: Das wollen wir doch mal sehen!, bekam er nur am Rande mit. Plötzlich verlor Jan den Boden unter den Füßen, der Junge hatte ihm die Beine weggezogen, und ging unter Wasser. Das ging so schnell, dass Jan gleich noch einmal Wasser schluckte. Er versuchte sich aufzurichten und den Kopf aus dem Wasser zu bekommen, aber da waren auch schon beide Jungen über ihm und drückten ihn unter Wasser.

Jan schlug und trat um sich, versuchte von den Jungs weg- und seinen Kopf aus dem Wasser herauszubekommen, aber die waren viel stärker als er und außerdem zu zweit. Jan hatte keine Angst, noch nicht, er war wütend. Er hörte sie lachen. Zwei gegen einen, die feigen Schweine! Dann konnte er sich für einen Moment losmachen und kam japsend an die Oberfläche. Als er Luft holte, sah er, dass das Gesicht des einen Jungen vor Schmerz verzehrt war. Jan hatte es gar nicht mitbekommen, aber bei seinem Versuch, sich zu befreien, hatte er den Jungen dorthin getreten, wo es richtig wehtut. Kaum dass er ein wenig Atem geschöpft hatte, stürzte sich auch schon der andere Junge wieder auf ihn. Er sprang aus dem Wasser heraus und auf Jan, drückte ihn mit dem ganzen Gewicht seines zehnjährigen Körpers unter Wasser. Dieses Mal hielt Jan die Luft an und schaffte es, seitlich von dem Jungen wegzugleiten und wieder an die Oberfläche zu kommen. Genau vor dem Jungen, den er getreten hatte, kam er hoch. Der Schmerz auf dessen Gesicht war Wut gewichen, und mit dieser Wut im Bauch krallte er seine Hände in Jans Haar und drückte seinen Kopf unter Wasser. Jan zappelte wie ein Fisch an der Angel, und in diesen Momenten gesellte sich Angst zu seiner Wut. Was ihn ängstigte, war weniger, dass die Luft in seinen Lungen knapp wurde, sondern mehr der wütende Gesichtsausdruck des Jungen. Für einen kurzen Moment des Atemholens kam Jan hoch. Er hörte diesen Vater zu seinem Sohn sagen: Siehst du, das kommt davon, wenn Du den Kopf nicht über Wasser hältst! Plötzlich wurden seine Beine festgehalten. Der eine Junge klemmte sie sich lachend unter den Arm. Jan hatte nun keine Möglichkeit mehr, sich hinzustellen. Er versuchte, den Griff zu lösen, drehte und wendete sich. Zwecklos. Lachend presste der Junge Jans Beine an sich und hielt sie knapp über der Wasseroberfläche. Der andere Junge drückte Jans Kopf unter Wasser, und der lachte nicht. Dieses kleine Detail war es, mit dem die Panik in Jan hochzusteigen begann. Er ruderte mit seinen Armen, versuchte, den Jungen zu packen und von sich wegzudrücken. Jan drehte seinen Kopf hin und her, aber der Junge ließ nicht los. Die Luft wurde knapp. Die Panik war da. Das Rauschen des Wassers hatte nun nichts Angenehmes mehr an sich, das Pochen seines Herzschlages in seinem Ohren wurde immer lauter. Plötzlich wusste Jan, dass er ertrinken würde, wenn es ihm nicht gelang, sich zu befreien. Verzweifelt stemmte sich Jan gegen die Hände, die ihn unter Wasser drückten. Und für einen kurzen Augenblick schaffte Jan es tatsächlich, den Kopf aus dem Wasser zu bekommen, für einen kurzen, brennenden Atemzug, den er dafür nutzte, um Hilfe zu rufen. Papa!, vier helle Buchstaben, die sich nach Unterstützung flehend in die Luft erhoben. Jan schluckte erneut Wasser, als der eine Junge kräftig an seinen Beinen zog und er wieder unter Wasser ging. In diesem Moment erreichte sein Hilferuf das Ohr des Bademeisters, der aus seiner Kabine, mit der großen Glasfront zum Schwimmbad hin, trat. Jan unterdessen wurde schwarz vor Augen, er hatte das Wasser in die Luftröhre bekommen und hustete unter Wasser, schnappte in Todesangst nach Luft, aber da war nur Wasser. Von weit her hörte er den einen Jungen lachen, von noch weiter her schrillte die Trillerpfeife des Bademeisters, kaum zu hören, weil sein Herzschlag in seinen Ohren pochte, und immer lauter und schneller pochte, wie Trommeln schließlich dröhnte.

4. In diesem Moment kam Vater Hoen von der Toilette. Er war ein paar Bahnen geschwommen, hatte dann nach seinem Sohn im Kinderbecken geschaut, der auf dem Rücken liegend am Beckenrand Fahrrad fuhr und lächelnd zur Decke starrte, und war dann kurz auf die Toilette gegangen. Als er ins Schwimmbad zurückkam, schrillte die Pfeife des Bademeisters, der zum Kinderbecken hinübersah. Sofort schrillten bei Vater Hoen die Alarmglocken. Über den gute zwanzig Meter entfernten Rand des Kinderbeckens hinweg konnte er die Köpfe zweier älterer Jungen, nicht aber Jan sehen. Er machte einen, dann einen zweiten Schritt, dann schrie er entsetzt auf und begann zu rennen.

Jan unterdessen hörte auf, sich zu wehren. Er war in einer Woge dunklen Dröhnens gefangen und rührte sich nicht mehr. Dann begann sich sein Herzschlag aus seinen Ohren zurückzuziehen, das Dröhnen wurde leiser, und es wurde langsamer. Die gesamte Welt erschien Jan langsamer zu werden, das Lachen des einen Jungen, der immer noch seine Beine festhielt, wurde zu einer dumpfen Folge lang gezogener Vokale, herabgestimmt auch das Schrillen der Trillerpfeife, für Jan klang es wie das langsame Entweichen von Luft aus einem Reifen. Jan fühlte sich plötzlich sehr schwer, sein ganzer Körper schien sich mit Blei anzufüllen, und dieses Gefühl war noch nicht einmal unangenehm. Jan spürte, wie mit zunehmender Schwere seine Angst weniger wurde. J-A-N! Einzeln kämpften sich die Buchstaben seines Namens durch die Wand aus Blei, die sich zwischen Jan und die Welt senkte. Er verstand kaum noch ihren Sinn, und doch klangen sie vertraut, und so streckte er ihnen mit letzter Kraft eine Hand entgegen. Die Finger seiner schmalen Hand streckten und schlossen sich. Streckten und schlossen sich.

In diesem Moment sprang Vater Hoen ins Wasser. Er hielt sich nicht lange mit Reden auf, sondern fegte den Jungen, der blöde lachend die Beine seines Sohnes festhielt, mit einer Armbewegung zur Seite. Der andere Junge bekam eine solche Ohrfeige, dass es ihn seitwärts ins Wasser schmiss. Zügig, aber behutsam hob er dann seinen Sohn aus dem Wasser.

Plötzlich fiel alles Schwere von Jan ab, er fühlte sich federleicht, und einen Moment lang glaubte er, zu fliegen. Den blauen Himmel sah er über sich, so nah, als könne er ihn berühren.

JAN!, Vater Hoen hielt seinen reglosen Sohn im Arm und rief nach ihm, einen grauenhaften Augenblick lang hielt er Jan für tot, Ich bin zu spät gekommen!, explodierte der Gedanke in seinem Herzen. Einen grauenhaften Augenblick lang fühlte er sich vollkommen hilflos, eine schreckliche, ewige Sekunde lang. Doch bereits einen Herzschlag später organisierte sich der Widerstand in ihm. Niemals!, schrie jede seiner Fasern, Das lasse ich nicht zu! Gerade in dem Moment, als Papa Hoen seinen Mund auf die Lippen seines Sohnes pressen wollte, um ihm seinen Atem zu geben, bewegte sich Jan. Sein dünner Arm zuckte empor, seine Finger streckten und schlossen sich, verkrallten sich im Bart seines Vaters, gleichzeitig hustete er und spuckte seinem Vater einen Schwall Wasser auf die behaarte Brust. Vater Hoen traten Tränen in die Augen. Papa, Du weinst ja! Dies waren Jans erste Worte. Vater Hoen schniefte einmal und drückte seinen Sohn erleichtert an sich. Das liegt daran, sagte er, dass Du noch immer an meinem Bart ziehst! Das ziept ganz schön!

Jan ließ den Bart seines Papas los und schlang seine Arme um seines Vaters Hals. Nun war wieder alles gut. Er füllte seine Lungen mit Luft. Da hast Du uns aber einen mächtigen Schrecken eingejagt!, ließ sich der Bademeister vernehmen, der verlegen und scheinbar um Jahre gealtert danebenstand, war er sich doch bewusst, viel zu spät reagiert zu haben. Jan war zwar noch ein wenig wacklig auf den Beinen, aber dennoch wollte er wieder auf eigenen Füßen stehen. Sein Vater setzte ihn ab. Nur Flausen im Kopf, die Blagen von heute!, mischte sich dieser Vater ein, der die ganze Zeit tatenlos zugesehen hatte, Wenn das meine wären, denen würde ich aber den Hosenboden strammziehen!

Vater Hoen verließ wortlos Hand in Hand mit seinem Sohn das Becken und ging, während der Bademeister den beiden Jungen die Leviten las, denen jetzt erst klar wurde, was sie getan und beinahe verschuldet hatten, mit Jan zu den Handtüchern, die auf den orangefarbenen Sitzen lagen. Setz Dich für einen Moment hin und wärm‘ Dich ´was auf!, sagte er zu Jan und strich ihm lächelnd über den Kopf, dann wurde er ernst: Und trockne Dich schon mal ab! Ich hab‘ noch ´was zu erledigen.

Während Jan sich mit seinem Handtuch die Haare trocken rubbelte, ging sein Papa zu diesem bereits wieder mit seinem Sohn schimpfenden Vater hinüber. Vater Hoen machte nicht viele Worte. Mein Junge geht fast ´drauf, und sie stehen dumm wie Schifferscheiße daneben! Dümmlich grinsend zuckte der Mann mit den Schultern, dann klappte er stöhnend um seine Körpermitte zusammen.

Etwas später ließen Vater und Sohn das Rheurdter Hallenbad hinter sich. Bis nächste Woche!, rief Jan zu dem Gebäude hinüber. Das hatten sie bereits in der Umkleidekabine abgemacht. Zeigst Du mir nächste Woche, wie man krault?, hatte Jan beim Ankleiden gefragt, Brustschwimmen und tauchen kann ich ja schon. Dann hatten sie gelacht. Ich hab‘ Hunger!, meinte Jan, als sie in den Käfer einstiegen. Mal schauen, was Mama uns heute zaubert!, antwortete Vater Hoen und rieb sich schnell über die Augen. Er war unsagbar glücklich, dass alles so gut ausgegangen war. Dieses Mal sah Jan nicht die Tränen in den Augen seines Vaters, er malte etwas auf das beschlagene Seitenfenster, dass ein halbes Hähnchen darstellen sollte. Ein halbes Hähnchen hätte ich am liebsten!, meinte er verträumt. An das schlimme Erlebnis dachte er schon nicht mehr. Mit viel Pommes weiß rot! Vater Hoen lachte. Ja, mit einem ganzen Berg Pommes rot weiß!

Ungekürzte Kurzgeschichte „An einem Sonntag im Hallenbad“ aus meinem Buch „Pommes weiß rot, Papagei und Tod. Familiengeschichten.

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