Wenn der Johanniter 5x klingelt – und was einem noch so beim Warten auf den Bus durch den Kopf geht

Sicherheitshinweise_Rollator_Bus
Fahrradfahren verlernt man nicht, heißt es. Und wenn mein geliebter 50ccm Roller weiter so oft muckt, dann werde ich mich wohl daran machen müssen, diese Binsenweisheit zu überprüfen, um die 7 Kilometer reine Fahrstrecke (die Strecke auf der Fähre Meersburg – Konstanz nicht gerechnet) zur Arbeit hinter mich zu bringen.

Aber etwas, das man nach gewisser Zeit wohl verlernt, ist den ÖPNV entspannt zu benutzen. 20 Minuten auf den Bus warten. Früher eine Übung in Gleichmut. Heute… In den Bus steigen, riechen. Früher reflexhaftes Abschalten relevanter Gehirnareale, heute… Teenager am Handy. Früher eine Gelegenheit neue Wörter zu lernen, heute… Körpernähe zu Fremden, früher… und heute…

Und das nach pi mal Daumen 33 Jahren nahezu täglichen Benutzens des ÖPNV, den Zügen und Bussen zum Gymnasium am Niederrhein, der Schwebebahn in Wuppertal auf dem Weg zur Uni oder sonst wohin, den Bussen in Konstanz, der Fähre über den Bodensee (mit anschließender Busfahrt). Da sollte man doch auch nach 5 Jahren des motorisierten Individualverkehrs nicht so empfindlich reagieren…

Mittlerweile hatte ich in diesem Herbst einige Male aufgrund technischer Animositäten meines Rollers die Chance, zur alten Gelassenheit zurückzufinden. Die ersten Male schaffte ich es nicht diese Chance am Schopfe zu packen. Mich dem Fluss der Gegebenheiten zu überlassen. Dabei: Noch nie erreichte ein Bus schneller die Haltestelle, an der man in der Kälte wartete, wenn man öfter auf die Uhr blickt. Kein Fleischkäsbrötle roch im Bus angenehmer, da man mit einer gewissen perversen Fasziniertheit den Fetttropfen mit Blicken folgt, die dem Esser aus den Mundwinkeln laufen. Eine gute Übung in Nietzsches „Fröhlichem Fatalismus“, die ich zunächst nicht meisterte.

Doch heute. Kein Blick auf die Uhr, während ich wartete. Keine Augenbraue, die hoch ging, als die ersten Regentropfen dort an der Haltestelle ohne Unterstand fielen, die ich, nachdem ich meinen Roller zur Reparatur gebracht hatte, aufgesucht hatte. Plötzlich hatte ich sie – die vertraute Gelassenheit. Und gleich stellte sich ein vertrautes Phänomen ein: Meine Gedanken begannen zu wandern – eine Art Gedankenflipper, stieß doch jede Beobachtung, die ich dort an der Haltestelle machte, eine neue Gedankenkette an.

Vor mir auf der Straße bildete sich ein kleiner Stau. Beim neuen PKW vis-à-vis schaltete die Start-Stopp-Automatik den Motor aus. Flipp… Ich dachte an den Tag zuvor in der Mittagspause: Auf dem nahen Parkplatz wie jeden Tag ein Kommen und Gehen der Zulieferer, der Paketdienste. Klar, die haben es immer eilig, Also laufen die Motoren, während Pakete zugestellt werden. Anscheinend erzeugt dieses den Motor nicht ausschalten ein Gefühl von: Ich bin schnell. Auch wenn es oft 5, 10, 15 Minuten dauert, bis der Fahrer zurückkehrt. Mein Blick wandert umher an der Haltestelle. Zigaretten im Rinnstein. Flipp… Ich denke an die Zigaretten auf dem Boden in der Ruhezone dort an meiner Arbeitsstelle. Hier an der Haltestelle gibt es keinen Aschenbecher. Aber in der erwähnten Ruhezone im Umkreis von 5 Metern drei. Und dennoch: Kippen auf dem Boden…

Anscheinend flippte mein Hirn in Umweltproblem-Gedanken. Vielleicht kein Wunder, weil mein Roller deswegen in der Reparatur war, weil er Öl verlor. Öl verloren hatte auch der alte Opel einer Kollegin. Seit einigen Wochen hat sie einen neuen PKW. Skoda Kombi. „Ist ja schon ein praktisches Auto“ hatte sie sich von einem anderen Kollegen anhören müssen, bevor der in sein Mini Cabriolet stiegt. Klar. Er meinte: „Kein schönes Auto, kein Auto mit Stil“. Und sie hörte genau dies, wie sie erzählte, als sie mich vor zwei Wochen zur Werkstatt mitnahm, wo ich meinen Roller abholen wollte (in jener Woche war es nicht Öl, das ich verlor, sondern eine Hinterradbremse, die nicht mehr funktionierte). „Wenn ich mir ein schönes Auto, vielleicht so einen kleinen Flitzer leisten kann, dann gibt es bei uns Tempolimit!“, meinte sie.

An diesem Morgen an der Haltestelle dachte ich: Aber vielleicht gibt es dann ja auch so eine Art „Schnellfahrer-Gutschein-System“. Warum nicht? Tempolimit ist gut für die Umwelt. Also 130 generell als Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen. Wer schneller fahren will, kauft Schnellfahrer-Gutscheine. 30plus, 50plus, 80plus… Und wenn man in eine Geschwindigkeitskontrolle rauscht, zeigt man nur seine Gutscheinkarte vor und alles ist gut.

Dann kam der Bus. Ich zahlte. Der freundlich lächelnde Busfahrer flippte meine Gedanken einen Abend zurück – zu einem Spendensammler, der sein Lächeln wohl auf seiner Tour, bevor er bei uns Sturm klingelte, verloren hatte. Aber als ich dieses Bild von dem jungen Johanniter (hoffentlich wirklich einer und kein „Drücker“ wie vor einigen Jahren in der Presse berichtet) im Kopf mir einen Platz suchte, blieb mein Blick auf einem anderen Bild haften:

Ein älterer Herr. Unterschenkel und Kopf waren abgeschnitten durch den Rand des Fotos. Der Torso im Anzug befand sich auf einem Rollator. Sein Foto mit einem dicken roten Kreuz durchgestrichen. Keine Alten erlaubt, dachte ich erst, als ich das Plakat an der Scheibe des Busses sah. Dann las ich den Text. Aus aktuellem Anlass. Sicherheitshinweis. Sitzen im Rollator unzulässig. Sitzplätze benutzen. Vor allem in Verbindung mit dem Foto: Das hätte man auch netter sagen können.

Apropos netter: Der junge Herr der Johanniter könnte sich wirklich eine Scheibe von den Zeugen Jehovas abschneiden. Denn die sind nett – auch wenn man ihnen freundlich mitteilt, dass kein Interesse besteht. Und ihr „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag!“, scheint von Herzen zu kommen. Der junge Johanniter klingelte am Abend zuvor schon nicht nett. Will man das an einem dunklen Abend im Herbst? Den Daumen auf die Klingel? Dann kein „Guten Abend!“, kein Lächeln, sondern nur ein herunter geleierter Text. Und dann der Blick und das ins aggressive Umschlagen der Stimme, als ich sagte: „Nein, danke!“ „Dann wünsche ich Ihnen noch die Pest auf den Hals!“, so klang er – und leider bestätigte dies meine Erfahrungen mit Hilfsorganisationen an der Tür. Gerade zur Vorweihnachtszeit. Nun gut, der Druck wird auch nicht ohne sein: Vom Spendenkuchen etwas abzukommen. Dennoch: Das hätte man auch netter sagen können.

Apropos netter. Wie es der Zufall wollte, war an diesem Morgen tatsächlich ein älterer Herr mit Rollator im Bus. Er hatte sich an den Sicherheitshinweis gehalten und auf dem herunterklappbaren Sitz neben seinem Rollator Platz gefunden. Eine Haltestelle vor mir wollte er den Bus verlassen. Mühsam stemmte er sich aus dem Sitz hoch, während der Busfahrer wirklich ganz sanft den Bus zum Halten brachte. Vielleicht wusste er, wo der alte Herr für gewöhnlich aussteigt. Ein Mann mit dem Fleischkäsbrötle tupfte sich das Fett aus den Mundwinkeln. Das junge Mädchen, das zuvor nur Augen für ihr Handy hatte, steckte dies in ihre Tasche. Der Busfahrer senkte den Bus herab, öffnete die Tür verließ seinen Fahrersitz, und half zusammen mit dem Handymädchen und dem Fleischkäsmann dem älteren Herrn aus dem Bus.

Dann hatte ich meine Zielhaltestelle erreicht. Der Himmel klarte sich auf, die Morgensonne blickte durch die Morgenwolken. Vielleicht sollte ich, wenn mein Roller nun wirklich einmal den Geist aufgibt, doch nicht aufs Fahrrad, sondern wieder voll auf ÖPNV umsteigen.

Nachtrag 10. Dezember

Mich hatte bereits eine Leserin darauf hingewiesen: Die Stadtwerke haben ihren Sicherheitshinweis, vor allem auch visuell, netter gestaltet. Und ja, dies finde ich auch: Gestern (ja, mein Roller hatte wieder Allüren), sah ich diesen neuen, ebenso durchsichtigen wie einsichtigen Hinweis („Bitte nicht auf den Rollator setzen“) mit eigenen Augen:

Sicherer Umgang mit den Rollator im Bus
Bus_Rollator_neuer_Hinweis

Sehr geehrte Fahrgäste, bitte sichern Sie den Rollator mit der Feststellbreme und stellen sie ihn sicher vor oder neben sich ab.

Der Rollator ist nicht als Sitzplatz im Bus geeignet. Bitte nutzen Sie als Sitzmöglichkeit die Klappsitze im mittleren Busbereich.“

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