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Musik und Literatur – eine Betrachtung

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Oh Du Fröhliche, Take The Long Way Home, The End… Ich kannte es von Stephen King, viele seiner Bücher wurden und werden eingeleitet von Zitaten aus Musikstücken, immer wieder untermalen Musikzitate den Text, geben Zitate aus Songs den Ton vor. Thomas Mann beeindruckte mich mit seiner aus Wagners Schaffen entlehnten Leitmotiv-Technik. Nietzsche kam wieder und wieder auf dieses Thema zurück, dionysisch getrieben, in dem Versuch seine Gedankenfülle apollinisch zu bändigen.

Musik ist in Literatur allgegenwärtig. Als Strukturelement, als atmosphärischer Anklang, als Text gewordene Musik, als Dichtung, als Thema. Nur einige Beispiele aus meinem Bücherregal: Nick Hornby, „High Fidelity“, Benjamin v. Stuckrad-Barre „Soloalbum“, Thomas Mann „Doktor Faustus“, Jack Kerouac „Unterwegs“. Musikalische Anklänge finden sich auch in meinen Geschichten z.B. in der Horrorstory „Oh Du Fröhliche“ rund um einen in Andrea Jürgens vernarrten Fleischer. Oder in der Kurzgeschichte „Take The Long Way Home“. In meinem zweiten Roman (hier vor allem die Musik der Doors).

Umgekehrt ließen und lassen sich auch viele Musiker von literarischen Werken anregen. Z.B. (wenn ich mir meine LPs und CDs ansehe): Pink Floyd „Animals“ (George Orwells „Farm der Tiere“), Vanden Plas „Christ O“ (Alexandre Dumas „Der Graf von Monte Christo“), Kamelot „Epica“ und „Black Halo“ (Goethes „Faust“), die aus meiner Heimat am Niederrhein, in dem Fall aus Krefeld, stammenden Blind Guardian mit u.a. „Nightfall in Middle-Earth (beruhend auf J.R.R. Tolkien „Das Silmarillion“), „Symphony X „Paradise Lost“ (John Milton „Das verlorene Paradies“). Unter der Überschrift „Existierende Vorlagen“ findet Ihr bei Wikipedia eine umfangreiche Liste von Konzeptalben vor allem aus dem Rockmusik-Bereich zum Thema „Literarische Vorlagen für Musikwerke“.

Die einflussreichsten literarischen Werke unter Musikern scheinen mir zu sein: „Die Bibel“ und „Der Herr der Ringe“ (bzw. die Mittelerde-Geschichten Tolkiens, Infos z.B. hier auf TolkienWelt), letzteres auch daran zu erkennen, dass sich viele Bands einen Namen aus Tolkiens Werken ausgewählt haben, z.B. Marillion (eine Aufzählung aus dem Bereich „Metal“ findet Ihr auf Metal Hammer.de). Spannend finde ich auch eine Gruppe wie die ebenfalls aus meiner Heimat am Niederrhein stammenden Faelend, die sich als Mystery- und Tolkien-Rockband nicht nur inhaltlich von Tolkiens Phantasiewelt inspirieren lassen, sondern zum Teil auch die Texte in einer der Kunstsprachen, die Tolkien erfunden hat, schreiben (Sindarin-elbisch, der Bandname bedeutet in dieser Sprache „Seelenreise“). Ein Special zu „Tolkien im Metal“ bietet Metalglory.de.

Manchmal arbeiten Schriftsteller und Musiker auch zusammen: Ein Klassiker der Zusammenarbeit von Musikern und Schriftstellern ist sicherlich das Zusammenwirken von Hawkwind und Michael Moorcock. Aktuellstes Beispiel in meinem CD-Player: Das neue Album von Vanden Plas „Chronicles of the Immortals“, das aus einer Zusammenarbeit mit Wolfgang Hohlbein entstand und auf Hohlbeins „Die Chronik der Unsterblichen“ basiert. Aus der Zusammenarbeit von Hohlbein mit Manowar ist bislang noch kein Album entstanden, aber mit „Thor“ ein Buch Hohlbeins (Teil einer Buch-Serie: „DIE ASGARD SAGA ist der neue große Epos von Wolfgang Hohlbein, entstanden aus der intensiven Zusammenarbeit mit MANOWAR“)

Natürlich gibt es auch Musiker, die schreiben: Viele schreiben ihre Biographie, manche wenden sich anderen Themen zu (z.B. Ted Nugent „Kill it & grill it“, ein Kochbuch, oder Neal Peart von Rush, der Reisebeschreibungen verfasste, z.B. „Ghost Rider: Travelling on the Healing Road: Travels on the Healing“).

Und es gibt Schriftsteller, die musizieren, z.B. die Allstarband amerikanischer Bestsellerautoren (u.a. Stephen King, Amy Tan).

Außerdem gibt es…

Musik und Literatur – „Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.“ Und es kommen immer wieder spannende neue Alben dazu, aktuell (September 2022) die neue starke Platte „The God Machine“ von Blind Guardian (u.a. Bezüge zu American Gods von Neil Gaiman), die ich mir als 2 LP / Picture Disc besorgt habe, tolles Design (Foto weiter unten), oder „Seasons and Mysteries“ von Faelend, die nicht nur im Song „Heal Me“ (in diesem Song geht es um Heilkraut ,Athelas‘, Königskraut aus Mittelerde) wieder starke Bezüge zu Tolkien haben. Hier mein aktueller Favorit von Seasons and Mysteries:

PS: Gerade kam meine Liebste herein und hatte noch einen „Musik und Literatur“-Tipp, einen Song über einen Schriftsteller: Julia Holofernes‘ Song „John Irving“. Und da fiel mir noch ein weiteres Lied über einen Schriftsteller ein: „Goethe war gut“ von Rudi Carrell.

PS 2: Foto der Blind GuardianThe God Machine“ Limited Edition 2 LP / Picture Disk:

Foto der Blind Guardian „The God Machine“ Limited Edition 2 LP / Picture Disk

 

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Verdammt! Hätte ich doch nicht aus der Kirche austreten sollen?

Verdammt_Kirchenaustritt„…in aller Deutlichkeit…“

Sie sind flott, nicht flotter als die Feuerwehr, auch wenn es darum geht, ein Feuer zu löschen. Aber immerhin flotter als das Finanzamt… Das hatte beinahe einen Monat Zeit, meinen neuen Ewigkeitszustand auf der Steuerkarte zu vermerken – aber vielleicht warten sie ja noch? Doch mit Datum drei Tage nach meiner förmlichen Erklärung „Nein, ich möchte das nicht mehr!“ erreichte mich ein eng beschriebener (also eng formatierter) Brief der seit meinem Umzug zuständigen Kirchengemeinde. Bzw., denn Kirchengemeinde scheint ein veralteter Ausdruck zu sein, der „Seelsorgeeinheit“.

Apropos veraltet, apropos „Feuer löschen“: In dem Brief der Seelsorgeeinheit wird nicht der schöne, weil so viele Bilder transportierende Ausdruck des „Höllenfeuers“ verwendet, vielleicht weil er – eben – veraltet ist. Aber gleichwohl – immerhin richtet sich der Brief an jemanden, der fast ein halbes Jahrhundert zur allumfassenden Seelsorgeeinheit dazu gehört hat – schwingt er im Duktus mit.

Für die Eingeweihten muss nicht alles ausgesprochen werden.

„Ich bitte Sie um Verständnis, wenn ich Ihnen die Konsequenzen Ihrer Erklärung des Kirchenaustritts in aller Deutlichkeit dargelegt habe…“

„Mein Pfarrer…“

Ihr Pfarrer – so ist unterschrieben. Wobei ich unter „Mein Pfarrer“ immer noch den Pfarrer meiner Kindheit und Jugend verstehe. Den Pfarrer, der mich getauft hat (woran ich mich nicht erinnere), den Pfarrer, in dessen Nähe ich, die Fahne für unsere Bruderschaft haltend, in der Mitglied war, vor lauter Weihrauchgeruch zusammenklappte. Den ich bei Beerdigungen von verunglückten Schulkameraden von unergründlichen Ratschlüssen Gottes reden hörte, die so unergründlich waren, dass ich sie als Kind nicht verstand. Der eine schöne Rede bei der Beerdigung meiner Oma sprach (wo ich schon älter war). Der – hier springe ich einige Jahre zurück – auf meine Bitte hin, mir Dreikäsehoch einige Sünden zu nennen, die ich beichten könnte, hilfreich beisprang („Eltern belogen“, „Geschwister geärgert“) und mich dann mit einigen Ave Maria und Vater Unser in eine der Bänke unserer schönen Pfarrkirche (und dank seiner Absolution) in eine Höllenfeuer freie Zukunft entließ. Der Pfarrer, der mich Pubertierenden bei meiner letzten Beichte fragte, ob ich denn schon einmal Hand an mich gelegt hätte (meine letzte Beichte, weil ich – der ich mich in meiner Intimsphäre verletzt fühlte – fortan nicht mehr um Absolution ersuchte).

Den Pfarrer der mich nun brieflich kontaktierenden Seelsorgeeinheit habe ich nie kennengelernt. Sicherlich meine „Schuld“, dass er mir unbekannter ist als einige Mitglieder der hiesigen Zeugen Jehovas-Gemeinde, die ich – aufgrund ihrer lächelnden Besuche an unserer Haustüre – wenigstens vom Sehen her kenne. Aber vielleicht bin ich auch nur zu früh ausgetreten? Sieht man sich die Tendenzen an, dann nähert sich die Katholische Kirche solchen Zahlen an, die Haustürbesuche vielleicht einmal notwendig machen.

Aber ich will nicht polemisch werden. Immerhin geht es um mein Seelenheil. Auch wenn dieser – wohl auch veraltete – Begriff nicht in dem besagten Brief benutzt wird. Warum eigentlich nicht? Warum wird hier nicht Tacheles geredet? Mir wird sogar angeboten, mich mit einer katholischen Seelsorgerin zwecks Gespräch zu verabreden. Meine Güte, wie modern. Und das sogar „meiner Wahl“. Da gehe ich vielleicht doch einmal in eine Veranstaltung der hiesigen Seelsorgeeinheit und schaue mir eine besonderes hübsche Seelsorgerin aus…

„…den Glauben zu bewahren…“

Nein, keine Polemik. Zudem bin ich ja auch fest liiert, quasi verheiratet. Wobei dies natürlich – das gehört zu den in aller Deutlichkeit dargelegten Konsequenzen –, wenn es passiert, ohne den Segen der katholischen Kirche passieren wird – es sei denn, der Bischof erteilt eine besondere Erlaubnis und ich verspreche, „den Glauben zu bewahren und an die Kinder weiterzugeben“.

Ist das jetzt ein Hintertürchen für mich oder die Kirche? Und was soll dies ihn meinem Falle bedeuten, dass ich verspreche, „den Glauben zu bewahren und an die Kinder weiterzugeben“? An welche Kinder? An die erwachsenen, fast erwachsenen Kinder meiner Liebsten? An die eigene Kinderschar, die ich mir mit 45 Jahren für meine zweite Lebenshälfte noch erträume? Und was heißt „bewahren“? Bewahren kann man nur etwas, das man hat. Und „den Glauben zu bewahren“ kann ja im Zusammenhang des Briefes nur bedeuten: den Glauben an die katholische Kirche bewahren… Aber hallo! Das ist doch gerade der Kasus Knacksus! Ich habe mit meinem Austritt erklärt, dass ich nicht mehr an die katholische Kirche glaube – dass es hier für mich – bezüglich des Glaubens – nichts mehr zu bewahren gibt.

Aber dieser Punkt kommt in dem Brief doch ein wenig zu kurz. Mir scheint, dass meine ehemalige Seelsorgeeinheit davon ausgeht, dass die Erklärung meines Austritts nur so eine Art störrische Geste war, eine pubertäre Reaktion auf spontane Unlustreize (etwa der Blick auf die Lohnabrechnung oder die neuesten Meldungen über einen Skandal oder Nachrichten darüber, dass Kirchensteuern nur in geringem Ausmaß zu befürwortenden Einrichtungen zu Gute kommen). Dass mir – so unbedacht ich den Austrittsschritt erklärt habe – nicht klar war, was die Kirche bietet, mir bietet.

Es geht im besagten Brief kaum um den Glauben, sondern mehr um die „Gemeinschaft“, darum, was diese Gemeinschaft bieten kann (und weniger bieten kann aufgrund des Verlustes von Kirchensteuern), es geht um „Serviceleistungen“, die mir nun nicht mehr geboten werden.

Und so meint man, mich mich an Selbstverständlichkeiten erinnern zu müssen. Dabei ist es doch klar: Trete ich aus einem Verein aus, dann kann ich das Serviceangebot des Vereins nicht mehr nutzen. Das ist im Turnverein so, das ist in der Kirche so. Mich daran zu erinnern, dass ich die Vorzüge des geistlichen Heiratsservice nicht mehr genießen darf, kann nur bedeuten, dass meine Seelsorgeeinheit davon ausgeht, dass ich mir keine Gedanken gemacht habe.

Hallo! Ich habe der Kirche, mit der ich aufgewachsen bin, deren Glaubensgrundsätze von Kindesbeinen an meine Lebensumwelt (und auch mein Denken) beeinflusst haben, den Rücken zugekehrt. Nach 45 Jahren! Rund 30 Jahre, nachdem ich erstmals Zweifel gehabt habe. Rund 30 Jahre, in denen mich diese Zweifel immer begleitet haben. Bis ich zu dem Entschluss kam, endlich einen Schnitt zu setzen.

Aber nehmen wir einfach mal an: Dieses Hintertürchen ist einfach nur nett gemeint. Die Kirche kennt nach rund 2000 Jahren ihre Schäfchen und ihre gelegentlichen Launen, die einzelne Verirrte unter lautem Blöcken aus der Herde ausbrechen lassen, nur um umso leiser in den Schoß der Gemeinschaft zurückzukehren…

Ja, nehmen wir einfach mal an, meine Liebste verspürt plötzlich den all ihre Fasern durchdringenden Wunsch, in imposanter Kirchenkulisse unter Glockengeläut und Engelsgesang das Ja-Wort zu geben, um von einem katholischen Priester den Segen zu erhalten und vor dem Altar der geistlichen Erlaubnis zu lauschen, dass ich sie nun küssen darf – ja, dann habe ich vielleicht sogar ein paar Trümpfe parat!

Ich könnte einen Teil meines Bücherregals fotografieren und dem Bischof schicken. Den Teil, in dem Bücher wie „Wörterbuch des Christentums“, „Glauben der Millionen“, „Die Bibel“ und mein zur Erstkommunion erhaltenes Gebetbuch stehen (den angrenzenden Teil des Regals mit Titeln wie „Existiert Gott?“, „Hexenwahn“ „Angst im Abendland“ schneide ich aus dem Bild natürlich heraus). Ein – noch nicht einmal gefaktes – Bild von unserer Leseecke auf der Toilette könnte ich anfügen, in der das Buch „Who’s who in der Bibel?“ liegt (ich habe das Buch nach dem letzten Bibelfilm gekauft hatte, weil ich nicht mehr die genaue Reihenfolge der ganzen alttestamentarischen Recken parat hatte). Ich könnte jedes Mal, wenn ich eine Kirche besichtige und am Opferstock meinen Obolus zur Erhaltung dieser grandiosen Manifestation menschlicher Schöpferkraft entrichte, ein Handyfoto schießen. Und hier der Trumpf: Ich könnte von meinen kleinen Neffen, meinem Patenkind, eine selbst geschriebene Erklärung erbitten (mit den Worten und der Orthografie eines Viertklässlers), dass ich ihn mit einem selbst fabrizierten Bibelhörbuch gelangweilt hatte.

Ja, mein Patenkind. Ich bin Taufpate. Als mein Neffe in die Schule kam, habe ich begonnen, ihm die Bibel (eine Kinderbibel mit Bildern, deren Text er noch nicht lesen konnte) als eine Art Hörbuch aufzunehmen. Weil ich es wichtig fand, ihm er – der sich eigentlich nur für Technikkram interessierte – auch diese Seite unserer Kultur nahezubringen. Ich also mit Headset vor dem Computer. Stundenlang. Damit er eine vernünftige Aufnahme erhält. Cooler fand er dann mein Video, dass ich von mir auf meinem Roller gemacht habe. Einfach krachend von links nach rechts die Straße entlang brettern. Bibel ade.

Und – hier ist Schluss mit dem müßigen Gedankenspiel – ade auch mein Trumpf. „Sie dürfen z.B. nicht Tauf- und Firmpate werden“ steht in dem Brief meiner Seelsorgeeinheit. Ob das auch rückwirkend gilt? Muss mein Neffe noch einmal getauft werden, weil ich abtrünnig geworden bin? Wird er ohne meinen Beistand bei der Firmung den Heiligen Geist empfangen müssen?

„Dies ist die einzige Kirche Christi…“

Der eng beschriebene Computerbrief zitiert das II. Vaticanum – was ja hübsch ist, weil dies ja ein schöner Topos für eine Kirche ist, die um ihre Verantwortung den Menschen gegenüber weiß und sich modernisiert, die mit der Zeit geht: „… die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst.“ (aus „Lumen Gentium“, Art. 8).

Zitate sind toll. Hier wird gleich eine vernünftige Vertrauensbasis geschaffen…

Zitat aus „DOGMATISCHE KONSTITUTION – LUMEN GENTIUM – ÜBER DIE KIRCHE“ [..] „Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen […] Das schließt nicht aus, daß außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind […]“ (Quelle Archiv auf der Homepage des Vatikan).

Klingt doch fein, quasi fast tolerant. Die allumfassende Kirche weiß, dass es auch außer ihr Wahrheit, Heiligung, also Seelenheil gibt…

Aber Zitaten ist leider nicht zu trauen: „Das schließt nicht aus, daß außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“ So lautet das vollständige Zitat, entnommen dem Vatikan Archiv.

„Hindrängen“ … Also: Kein Heil außerhalb der Kirche. Jeder andere Glauben ist nur etwas wert, wenn er zu den Wahrheiten der katholischen Kirchen hindrängt…

Und hier sind wir endlich beim zentralen Punkt der ganzen Angelegenheit angelangt. Hier – auch wenn nicht von Seelenheil und Höllenfeuer die Rede ist – geht es ans Eingemachte. Meinen Tod.

Ich darf keine Sakramente mehr empfangen, also auch nicht mehr die Krankensalbung. Bedeutet: Ohne letzte Absolution trete ich vor meinen Schöpfer. Also per Definitionem als Sünder. Folglich habe ich am Tage des Jüngsten Gerichts ein großes Problem – gesetzt den Fall, die Kirche behält Recht. Und das heißt, allen kasuistischen Diskussionen zum Trotz, immer noch: Hölle. Verdammt. Wie auch immer man sich die Gottferne vorstellt. Und das jemand, der in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist, hier gewisse düstere (gleichzeitig schmerzhaft feurige) Vorstellungen* hat, ist evident. Ob nun der Teufel eine Person ist oder eine Idee, eine bildhafte Ausschmückung der Abwesenheit von Heiligkeit, eine bedrückende Metapher für eine Ewigkeit in der Leere, für das Nichts, was nicht Nichts ist, sondern nur schmerzhaftes Abwesenheit von Etwas, für die immerwährende Dunkelheit, was auch immer – hier kann die Kirche, auch ohne ins Detail zu gehen, auf den ganzen Raum kultureller Erinnerungen zurückgreifen.

Aber schließlich ist die Kirche traditionell – man denke nur an solche Einrichtungen wie den Limbus oder das Fegerfeuer* – als barmherzig bekannt. Und so folgt in dem Brief eine gewisse Einschränkung: „Außer in Todesgefahr“. Puh. Glück gehabt. So knallhart ist die Kirche doch nicht. Sterbe ich, wird der in der Nähe weilende Pfarrer nicht seinen Segen verweigern…

Aber lesen wir doch weiter: „Es kann ihnen das kirchliche Begräbnis verweigert werden, wenn Sie vor dem Tod kein Zeichen der Umkehr und der Reue gezeigt haben“. Krankensalbung nur mit Reue zu haben.

Reue? Ich denke die Absätze des Briefes zurück, Ohne Reue auch keine Krankensalbung – Mea Culpa unter Todesgefahr. Und was soll bereut werden? Meine Sünden? Mein Zweifeln an Gott? Nein. Angesichts der Todesgefahr scheint es mir bei diesem Vereinsgehabe meiner Seelsorgeeinheit, weil es in den Brief nur am Rande um Glauben geht, um Profaneres zu gehen. Ich soll offensichtlich meine Erklärung bereuen, dass ich in einem Staat, zu dessen Grundpfeilern die Trennung von Staat und Kirche gehört, diese Trennung vollzogen habe. „Bereue, dass Du aus dem Verein ausgetreten bist…“

„Ich bitte sie um Verständnis, wenn ich Ihnen die Konsequenzen Ihrer Erklärung des Kirchenaustritts in aller Deutlichkeit dargelegt habe. … Es gibt aber immer auch die Möglichkeit einer Wiederannäherung an die Kirche und einen Weg zurück in die Gemeinschaft.“

Vielleicht sollte ich immer einen Scheck dabei haben, in dem ich – im Falle des Falles – so pi mal Daumen meinen Vereinsmitgliedsbeitrag, die Kirchensteuerschuld, eintragen und dann den ich im Falle meines Ablebens anwesenden Pfarrers überreichen kann.

Ein Problem könnte die Zuordnung meines Schecks sein. Der so dringliche Brief meiner Seelsorgeeinheit (in seiner Dringlichkeit noch verstärkt durch Hinweise auf den Bischof) ist adressiert an einen Herrn Böscher. Der Postbote wusste es besser, deswegen erreichte mich dieser Brief (Gott sei Dank). Aber wird der gute Petrus an der Himmelspforte (man bedenke die große Anzahl an Ankommenden) auch so firm sein? Scheck ausgestellt auf Boscher – bei Böscher kein Eintrag – aufgeschmissen – mein Ewigkeitsstatus wurde nicht korrekt in den Papieren notiert – abwärts geht es… Also: Verdammt! Hätte ich doch nicht aus der Kirche austreten sollen?

Apropos: Das Finanzamt hat meinen neuen Status noch nicht zur Kenntnis genommen. Vielleicht haben die ja einen Deal mit der Kirche? „Hey, wartet besser. Wir schreiben da noch einen Brief, und dann sieht die Sache erfahrungsgemäß anders aus…“

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Boschers Roman über Liebe, Tod und Teufel: Engel spucken nicht in Büsche. 2. bearbeitete Auflage

Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel - Cover der für das eBook bearbeiteten 2. Auflage

Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel – Cover der für das eBook bearbeiteten 2. Auflage

Sein Glaube ist ihr Tod…
Der Tod ist in die Stadt gekommen, und er ist auf einer Mission. „Abtreibungskiller“ nennt ihn schon bald die Presse. Der Polizei gelingt es nicht, den heimtückischen Frauenmörder zu stoppen.

Ein Roman über Liebe, Tod und Teufel…
„Engel spucken nicht in Büsche“ ist ein Krimi. Ein Roman über den Verlust der Unschuld, über Fanatismus, Leid und Lust. Hart. Zärtlich. Schonungslos. Ein zupackendes Buch.

„Ein Gesellschaftskrimi – ein Gesellschaftsroman um die Irrungen und Wirrungen der Seele – und einen gnadenlosen Mörder“ (Quelle)

ENGEL SPUCKEN NICHT IN BÜSCHE: ROMAN ÜBER LIEBE, TOD UND TEUFEL von Ralf Boscher – das eBook. 2. bearbeitete Auflage.

Für das eBook hat Ralf Boscher seinen ersten Roman „Engel spucken nicht in Büsche. Roman über Liebe, Tod und Teufel“ überarbeitet (das eBook finden Sie hier bei Amazon…)

LeserInnen-Meinungen:

„Ein überzeugend komponierter Roman, der seine Leser einer außergewöhnlich breiten Palette an Emotionen aussetzt. Ein guter Unterhaltungsroman!“ (Hermann Kinder über meinen ersten Roman „Engel spucken nicht in Büsche. Roman über Liebe, Tod und Teufel“).

„Dies ist kein gewöhnlicher Krimi oder Thriller. Wer erwartet, dass es sich hier hauptsächlich beispielsweise um ein Ermittlerteam und dessen Aufklärungsarbeit um ein Verbrechen dreht, wird dann wohl eher enttäuscht. Wer sich aber in eine Abfolge durchgehend spannender Ereignisse stürzen möchte, Einblicke in die Seele der Protagonisten riskieren möchte, wird begeistert sein.“ (Jayzed, Rezension auf „Das lesende Pony“).

„Viele Szenen werde ich so schnell nicht vergessen. Der Moment, als der Mörder zu einem ebensolchen wird. Oder was dem Krankenpfleger Hartmut als Kind im Heim zustößt. Oder Helens Rückkehr. … Aber was mir neben der spannenden Krimihandlung noch mehr gefallen hat: Das Buch berührt. Denn die Figuren und ihre Schicksale sind lebendig gezeichnet. Mit einigen, vor allem den weiblichen Hauptfiguren, konnte ich mich identifizieren.“ (Marmaid, Rezension auf „Lovelybooks“).

„Nicht nur ein Krimi… Wer den Abschnitt ‘Zu diesem Buch’ und die ersten Seiten liest, der könnte zu der Annahme gelangen, dass dieser Roman ein reiner Krimi ist. Doch da die Geschichte weit mehr beinhaltet, fand ich den Untertitel ‘Roman über Liebe, Tod und Teufel’ sehr passend. Eine gute Mischung aus Krimi und Gesellschaftsroman, mit dem besonderen Etwas. Spannend, abwechslungsreich, kurzweilig und daher sehr flüssig zu lesen.“ (T. Geyer, lesen und mehr, Rezension auf Amazon).

Boschers erster Roman als eBook, 2. bearbeitete Auflage:

Hier geht es zum eBook bei Amazon…

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Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Nikolaus, Knecht Ruprecht und die höllische Nacht

Verdammt_Kirchenaustritt
Früher habe ich mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft oft „Wer hat Angst vor’m Schwarzen Mann“ gespielt. „Niemand!“ hieß es damals jedesmal, und trotzdem mussten alle vor dem „Schwarzen Mann“ fliehen. So waren die Spielregeln. Und das Ende jeder Runde war gekommen, wenn der „Schwarze Mann“ – und seine stetig wachsende Helferschar – alle Kinder gefangen hatte. Es war ein Spiel, und wir hatten damals viel Spaß dabei.

Kein Spaß war es, wenn unsere Eltern mit dem „Schwarzen Mann“ drohten, der die unartigen Kinder zu sich hole. Und wenn dann am Abend des 6. Dezember diese finstere, bedrohliche Gestalt in die Häuser unseres Dorfes kam, um alle die Kinder, über die im goldenen Buch seines Begleiters Schlimmes zu lesen war, mit seiner Rute zu strafen, hatte nicht nur ich eine Höllenangst vor dem Knecht Ruprecht.

Meiner Meinung nach beruht dieser Brauch auf der Vorstellung des Jüngsten Gerichtes: für die „Seligen“ gibt es Zuckerbrot, die „Verdammten“ werden bestraft. Worauf ich hier aber vor allem hinaus will, ist, dass die von mir als böse empfundene Person als dunkle Gestalt auftrat. Und im Kontrast zum freundlichen Nikolaus, mit seinem weißen Bart und den ebenso weißen Haaren, wirkte Knecht Ruprecht sogar noch düsterer, noch bedrohlicher.

Isabel Grübel (siehe Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags) meint, dass der Teufel der christlichen Tradition in nahezu jeder modernen Verkörperung des Bösen präsent sei. Sie sagt dies in Bezug auf die Gestaltung des Bösen in der modernen Literatur. Ich aber kann mir vorstellen, dass sich diese Aussage auch auf die allgemeine Vorstellung vom Bösen erweitern ließe: So lebe im „Schwarzen Mann“ der Teufel in seiner Eigenschaft als „Fürst der Finsternis“ (Grübel, 1991, S. 88) fort, und Knecht Ruprecht verwiese durch sein finsteres Auftreten ebenfalls auf seinen dämonischen Ahnen.

Oft wird die Möglichkeit des Menschen, Böses zu tun, als seine dunkle Seite, seine Nachtseite bezeichnet. Und Menschen, von denen man Böses erwartet, werden „finstere Gestalten“ genannt. Die Verbindung, die so anhand der Attribute der Finsternis zwischen den Vorstellungen vom Bösen im allgemeinen und dem Teufel der Tradition hergestellt ist, zeigt, wie ich denke, dass es sich nicht um ein bloßes Wortspiel handelte, als ich die Angst, die ich damals empfand, als Höllenangst bezeichnete. Ein Schluss, der auch aufgrund einer Aussage Herbert Vorgrimlers gezogen werden kann, denn seiner Meinung nach hängen die realen Höllen im „Mikrokosmos, im geängstigten und gequälten Inneren der Menschen, wie im makroskosmischen menschlichen Zusammenleben… mit den Phantasien über eine göttliche Jenseitshölle zusammen“ (Vorgrimler, 1993, S. 9).

So ist das Wort Hölle auch heute noch in aller Munde, wie z.B. in sprichwörtlichen Redewendungen: „Dies war die Hölle!“, „Ich hatte eine Höllenangst!“ oder: „Ich bin durch die Hölle gegangen!“ Heute ist die Hölle meiner Meinung nach vor allem ein Synonym für äußerste Qualen, unabhängig von dem Gedanken einer moralischen Verurteilung.

Mein Beitrag baut auf der Vermutung auf, dass im Bewusstsein der Menschen die Vorstellungen der Hölle und der Nacht eine gemeinsame Geschichte voller Wechselwirkungen besitzen. So versteht sich diese Arbeit als Versuch, diese Geschichte der Beziehungen zwischen Hölle und Nacht aufzuspüren. Vorgrimler und Grübler folgend wird dies in erster Linie anhand der Auseinandersetzung mit der traditionellen Höllenvorstellung des Christentums geschehen, da ihnen zufolge die Vorstellung des Bösen in der Moderne wie auch seiner literarischen Gestaltung in jüngster Zeit eng mit dieser Hölle zusammenhänge.

PS:
Es ist ein altes Thema, von mir (das ist der Text der nun folgt) als universitäre Hausarbeit 1996 aufgegriffen, vor 19 Jahren, aber die Angst vor dem „Schwarzen Mann“ ist in unseren christlich geprägten Breitengerade immer noch – oder sogar wachsend – präsent. Also wohlan. Spurensuche.

 

„Die höllische Nacht“

 

Einleitung

„Der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode bildet einen allen alten Religionen und dem Christentum gemeinsamen Fundus“ (Aries, 1989, S. 123).
Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens spricht diesen Glauben den naiveren Menschen zu, da ihnen gar nicht der Gedanke käme, daß mit dem Aufhören des körperlichen Lebens auch das menschliche Leben vorbei sei (Spalte 205).
Aber auch wenn in unserer „weniger naiven“ Kultur der Glaube an ein Jenseits und folglich auch an einen jenseitigen Strafort, der zu fürchten ist, nicht mehr selbstverständlich ist, so scheinen mir die Menschen der Moderne trotzdem mit den traditionellen Vorstellungen behaftet zu sein. Dies äußert sich z.B. darin, daß immer noch davon gesprochen wird, daß das Leben wie die Hölle sei.
Minois nennt den Glauben an die Idee der Hölle allgemeinmenschlich, denn die Hölle spiegle die jeweils „für die einzelnen Epochen typischen Ängste und Wahnvorstellungen sowie die herrschende Auffassung vom Bösen wider. … Sie ist einer der ältesten Alpträume der Menschheit, bedingt durch die Furcht vor dem Unbekannten, das uns am Ende unseres Lebens erwartet…“ (Minois, 1996, S. 13).
So können weder „das Judentum noch das Christentum … den Anspruch erheben, die Hölle sei ihrem Geist entsprungen. Die Religionsgeschichte zeigt, wie alt und wie weit verbreitet Unterwelts- und Höllenvorstellungen in der Geschichte der Menschheit sind“ (Vorgrimler, 1993, S. 32). Aber letztlich läßt sich laut Minois die Entstehung der Hölle nicht festlegen, da sie so alt sei wie die Welt selbst oder „ – besser gesagt – so alt wie das Böse. Denn nachdem der Mensch lange Zeit seine Erfahrungen mit dem Bösen gemacht hat, erfindet oder entdeckt er – je nachdem, wie man es sehen will -, daß die moralische Verfehlung geahndet werden muß“ (Minois, 1996, S.15).
Vorgrimler weist darauf hin, daß die uns älteste fassbare religiöse Äußerung (aus der Altsteinzeit) den Glauben bezeugt, daß im Menschen eine nichtmaterielle Seelengestalt wohne, die nach dem Tode den Leib verlasse, „um das Totenreich aufzusuchen und dort für immer zu verweilen“ (Vorgrimler, 1993, S. 32).
Die Idee eines Fortlebens nach dem Tode entstand also sehr früh in der Menschheitsgeschichte, und auch ohne daß das Leben nach dem Tode als Folge der guten oder bösen Lebensweise eines Menschen angesehen wurde, war der Grundstock eines unerfreulichen Jenseits sehr früh gelegt: Denn dieses Totenreich wurde nicht als etwas Erfreuliches gedacht, da dem weiterlebenden Geist durch die Trennung vom Leib „die Quelle zahlloser Freuden, vor allem auch die Möglichkeit der Kommunikation mit seinesgleichen [fehlte]. Das Totenreich galt zuerst ganz unabhängig von der Idee möglicher Bestrafung als Ort der Entbehrungen. Das Grab legte sich in dieser Vorstellungswelt als Pforte oder Durchgangsweg zum Totenreich nahe. Es war von sich her schon mit dem Eindruck des Dunkels versehen; da der Tote aus dem Bereich der Lebenden und der Sonne geschieden war, mußte er selber nun im Dunkeln weilen“ (Vorgrimler, 1993, S. 32).
Der Tod wurde also schon sehr früh als Durchgang zu einem anderen Leben gedacht. Und die instinktive Angst des Menschen vor dem Tod ließ ihm das Leben im Jenseits in dunklen Farben erscheinen: „So stellt er sich also zunächst eine Hölle und nicht etwa ein Paradies vor. Sie ist ein Abbild seines Erdenlebens, eine Art Traum, bei dem alles fehlt, was das Leben schön macht, ein Schattenreich, in dem Phantome freudlos umherirren. Es wird niemand gequält, und doch sind diese Orte unheilvoll“ (Minois, 1996, S. 16).
Zunächst ist also der Tod das Böse. Eine Auffassung, die sich auch im Christentum wiederfindet, wenn davon gesprochen wird, daß der Tod duch den Teufel in die Welt kam.
Aber schon früh treibt die Neugierde die Menschen dazu, den „… künftigen Aufenthaltsort zu besuchen. Schon unter den ältesten religiösen Texten der Welt befinden sich >Höllenfahrten<, die sich im Laufe der Zeit zu einem der beliebtesten Themen entwickeln sollten. Dieser Ort, von dem noch keiner zurückgekehrt ist, wird zum Gegenstand detaillierter Beschreibungen, die Zeugnis von der Urangst geben, die der Mensch vor dem Unbekannten im Jenseits empfindet. Im Laufe der Jahrhunderte werden unzählige Besucher der Hölle – Götter, Helden, Sagengestalten oder einfache Sterbliche, die wissen wollen, welches Geschick die Bösen ereilt, wie Gilgamesch, Odysseus, Vergil, Dante und viele andere – den Inhalt ihrer Träume von der Hölle erzählen und dabei die Phantasie der Menschen mit oft grauenhaften Vorstellungen nähren, die aber immer noch der unerträglichen Ungewißheit vorzuziehen sind“ (Minois, 1996, S. 16).
Diesen Höllenfahrten, die vom Schicksal der Bösen berichten, liegt eine Wandlung des menschlichen Bewußtseins zugrunde: dadurch, daß die Menschen „…auf dem Gebiet der Moral oder bezüglich des Glaubens an ein Weiterleben der Seele oder des Doppelgängers eine gewisse Reife erreicht haben…“ (Minois, 1996, S. 16-17) wird aus der „Hölle für alle“, dem trostlosen Jenseits für alle Menschen, die Hölle für die moralisch Bösen. Mit der Differenzierung des moralischen Gedankens und des sittlichen Empfindens wird auch das Jenseits differenzierter. Es bildet sich nun ein Bereich im Jenseits heraus, welcher den Guten, den Glückseligen vorbehalten ist, und die eigentliche Hölle entsteht als jenseitiger Strafort, an dem die Bösen der Welt in Folge eines göttlichen Urteilsspruchs in alle Ewigkeit für ihre moralischen Verfehlungen sühnen müssen.
Als Höhepunkt dieser Entwicklung ist die christliche Hölle anzusehen: „… das dauerhafteste, am besten durchdachte und vollständigste System von allen…“ (Minois, 1996, S. 13). Ich kann diese Entwicklung hier nicht im einzelnen nachzeichnen und auch die Einflüsse anderer Religionen, die in das christliche Höllenbild übernommen wurden, nicht im einzelnen transparent machen. Vor allem im Hinblick auf unsere Frage aber, wie Hölle und Nacht miteinander in Beziehung stehen, werde ich einige Etappen dieser Entwicklung darstellen: Der jüdische Scheol, der griechische Hades und der römische Orcus. Deshalb werde ich auf Beispiele der Literatur, die die Denker und Dichter des Christentums beeinflußte, eingehen: das Alte Testament, Homer, Plato und Vergil.

Erstes Kapitel

Die „Vor und Umwelt“ der christlichen Hölle

Der Scheol

Laut Isabel Grübel spielte der Jenseitsgedanke im Alten Testament lange Zeit eine sehr untergeordnete Rolle. „Die Seelen gelangten nach altjüdischer Auffassung in den „Scheol“ (= Ödland), einem an sich neutralen Ort, der aber schon früh unter der Erde lokalisiert wurde. … War der jüdische „Scheol“ anfangs ein Ort der Stille und der Finsternis, wo die Verstorbenen weder Strafe noch Belohnung erwartete, so kam es doch allmählich zu einer negativen Bewertung dieses Jenseits, das Trennung von Gott und Trostlosigkeit bedeuten konnte“ (Grübel, 1991, S. 50).
Den Toten wird zunächst – wie es auch andernorts im Alten Vorderen Orient und in der mittelmeerischen Antike geschah – ein schattenhaftes Fortleben an einem Ort unter der Erde zugeschrieben, welches mit „vielfältigen Elementen der Düsternis umschrieben, aber nicht als Strafe bezeichnet wird“ (Vorgrimler, 1993, S. 61).
Der Hölle „vermachte das Scheol die Symbolik der Finsternis… Die gesamte unterirdische Welt der Toten ist in diese Finsternis gehüllt…“ (Le Goff, 1984, S. 41): „…bevor ich fortgehe ohne Wiederkehr ins Land des Dunkels und des Todesschattens (>ad terram tenebrosam et opertam mortis caligine<), ins Land, so finster wie die Nacht (>terra tenebrarum<), wo Todesschatten (>umbra mortis<) herrscht und keine Ordnung, und wenn es leuchtet, ist es wie tiefe Nacht“ (Ijob, 10, 21f. zit. nach Grübel, 1991, S. 50). Minois schreibt, daß der Zustand der Verstorbenen dem Nichts äußerst nahe gewesen sei, da sie unbeweglich im Staube gelegen hätten, „…ohne jegliches Denken und Fühlen, in endgültiger Lethargie, einem ewigen Koma“ (Minois, 1996, S. 26). Und zunächst erwartete alle Toten dieses Schicksal. Es gab kein jenseitiges Gericht, keine jenseitige Bestrafung oder Belohnung. „Wenn der Böse bestraft wird, so geschieht es… in diesem Leben, ein sofortiges Gericht mit irdischen Strafen…“ (Minois, 1996, S. 26). Die Strafrequisiten in dieser „irdischen Hölle“ (Minois) sind zumeist „Besetzung durch den Feind oder Veschleppung, Pest, Hungersnot und wilde Tiere“ (Minois, 1996, S. 27). Die Vergehen, die für die Hebräer Sünden sind, gleichen denen ihrer Nachbarvölker: „religiöse Vergehen, wie das Anbeten von Götzen, rituelle Vergehen wie der Bruch von Tabus bezüglich der Unreinheit, gesellschaftliche Vergehen, die im mosaischen Gesetz streng niedergelegt sind“ (Minois, 1996, S. 28). Die Strafen, die ihr Gott verhängt, sind hart und richten sich streng nach dem Gesetz der Vergeltung: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jehova sei, wie Brittnacher schreibt, ein rachsüchtiger Gott, der in sich lichte und dunkle Anteile vereinige: Der Gott des Alten Testamentes ist „gut und böse, voller Launen und Widersprüche: >Der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe das Böse. Ich bin der Herr, der dies alles tut< (Jes. 45,7)“ (Brittnacher, 1993, S. 169). Laut Vorgrimler ist es nicht möglich, exakt den Zeitpunkt anzugeben, an dem der Gedanke an eine über den Tod hinausgehende Vergeltung durch Gott aufkam, und auch nicht, von welchem Zeitpunkt an dies dazu führte, „daß das alte Totenreich der Schattenexistenzen wenigstens zum Teil in einen Strafort >umgedacht< wurde“ (Vorgrimler, 1993, S. 65).
Aus den Unterweltsbeschreibungen, die bereits von einem Strafort ausgehen, werden, laut Vorgrimler, Feuer und Wurm zu sprichwörtlichen Requisiten: „Denn der Wurm in ihnen [in den Leichen derer, die sich gegen Gott aufgelehnt haben] wird nicht sterben, und das Feuer in ihnen wird niemals erlöschen“ (Jes. 66,24 zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 64). Aber ob die Verfasser des Alten Testamentes mit dem Wurm, dem Feuer oder auch anderen Requisiten wie etwa dem Tor zur Unterwelt konkrete Gegebenheiten gemeint haben oder ob sie metaphorisch zu Illustrations- und Abschreckungszwecken eingesetzt wurden, läßt sich nach Vorgrimlers Aussage bis heute nicht entscheiden.

Der Hades

Daß es zwischen der christlichen Hölle und der griechisch-römischen Unterwelt, meist Hades und Orcus, mannigfaltige Beziehungen gab, lag zum Teil daran, daß „die antiken Autoren, die am eingehendsten über die Unterwelt geschrieben hatten, im Christentum in hohen Ehren standen, obwohl sie >Heiden< waren“ (Vorgrimler, 1993, S. 38). Da in der Antike der Bereich des Göttlichen und Menschlichen, der Bereich des Glaubens und des Wissens, nicht streng geschieden war, wie Vorgrimler schreibt, gehörte die Existenz der Unterwelt zum Weltbild, und den Berichten über Hadesfahrten wurde nicht einfach religiöser Glaube entgegengebracht, sondern sie galten als „reale Gegebenheiten der Empirie. Inwiefern einzelne Weise Dichtungen und Mythen als solche durchschauten oder vielleicht als Einkleidungen geistiger Realitäten verstanden, läßt sich nachträglich kaum mehr ausmachen“ (Vorgrimler, 1993, S. 38). Es war eine der ganzen antiken Welt gemeinsame Idee, daß die Menschen mit ihrem Tod nicht einfach vergangen sind, sondern daß sie in ein Reich der Schatten eingehen, „wo sie eine freudlose, von Licht und Lebenslust abgeschnittene Existenz führen…“ (Vorgrimler, 1993, S.38). Minois weist allerdings daraufhin, daß es schwierig sei, aus den Hadesberichten Hesiods als auch Homers, Allgemeingültiges für die Unterweltsvorstellungen der Menschen in der Antike herauszulesen, da sowohl die Theogonie, als auch die Illias und die Odyssee im wesentlichen von der Welt der Götter und der Helden berichten: „Der Hades ist voll von diesen sagenhaften Unsterblichen mit einem übermenschlichen Geschick, und es ist keineswegs sicher, daß sich die Griechen das Jenseits für die normalen Sterblichen ebenso vorstellten“ (Minois, 1996, S. 30). In den Werken Homers finden sich verschiedene Andeutungen über das Leben der Toten und über die Strafen, die manche von ihnen erleiden müssen. „Der Hades ist ein unheilvoller, dunkler, nebliger Ort. Auch die Illias sagt, daß die neblige Finsternis dem Hades und der weite Himmel Zeus zugeteilt wurde. Der Eingang zum Hades befindet sich am äußersten Ende der Welt… Der Hades mit den verschlossenen Toren ist eine hermetisch abgeriegelte Welt, die man nur mit Grauen anschaut“ (Minois, 1996, S. 32). Zur berühmtesten Hadesfahrt, von der Homer erzählt, wurde diejenige des Odysseus. Allerdings geht Odysseus nicht selbst in den Hades hinunter. Vielmehr schaut er in einer Art Vision in den Hades hinein, indem er die Totengeister durch ein Speise-und Trankopfer (Nekyia genannt) herausruft. Die Toten kommen „als Eidolon (in diesem Fall: Schatten) oder, wie Homer auch sagt, als Psyche, >Seele<, >herauf<, zwar ohne Körper, aber doch mit Sinnen wahrnehmbar, und zwar in dem Zustand, in dem sie bei ihrem Tod waren…“ (Vorgrimler, 1996, S. 40): „…und aus dem Erebos kamen viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. Jüngling’ und Bräute kamen, und kummerbeladene Greise, und aufblühende Mädchen, im jungen Grame verloren. Viele kamen auch, von ehernen Lanzen verwundet, kriegerschlagene Männer, mit blutbesudelter Rüstung. Dicht umdrängten sie alle von allen Seiten die Grube mit graunvollem Geschrei; und bleiches Ensetzen ergriff mich“ (Odyssee, 11. Gesang, zit. nach Minois, 1996, S. 32). Weiterhin sieht Odysseus die immerwährenden Strafen der drei berühmten Frevler gegen die Götter: Tityos, Tantalos, Siyphos. Daß auch andere Verstorbene ein unglückliches Leben im Hades führen, erweist sich daraus, daß im XIV. Buch der Odyssee von schrillen Schmerzesschreien ähnlich den Schreien von Fledermäusen die Rede ist. Odysseus erfährt auch, daß die Seelen der Toten die Lebenden bedrohen können: „Er kann sich nur durch die Flucht retten“ (Minois, 1996, S. 33). Da es in der Unterwelt, wie Homer sie beschreibt, auch „Verstorbene in seliger Existenz-weise gibt, auf den elysäischen Feldern oder auf der Insel der Seligen, muß es sich beim Hades, auch wenn nur die wenigen Strafen veranschaulicht werden, um ein ewiges Strafgeschick handeln“ (Vorgrimler, 1996, S. 40). Minois erkennt in der von Homer beschriebenen Unterwelt eine Hölle mit zwei Ebenen, „denn unter dem Hades befindet sich noch der Tartarus, das Gefängnis der Titanen, aus dem niemand wiederkehrt.“ (Minois, 1996, S. 32): „…Oder ich fass’ und schwing’ ihn hinab in des Tartaros Dunkel, ferne, wo tief sich öffnet der Abgrund unter der Erde: Den die eiserne Pforte verschleußt und die eherne Schwelle, so weit unter dem Hades wie über der Erd’ ist der Himmel.“ (Illias, 8. Gesang, 10, zit. nach Minois, 1996, S. 32) Diese Unterscheidung zwischen Hades und Tartaros weise laut Minois auf die spätere Höllenvorstellung des Christentums hin: Dort finde sich dann die Pforte, und die Hölle sei ein finsterer Abgrund unter der Erde, welche sich in verschiedene Bereiche gliedere: die obere Hölle, der Hades, werde zum Fegefeuer und „die untere Hölle zum Reich Satans“ (Minois, 1996, S. 32). „Unter den klassischen griechischen Philosophen ist Platon derjenige, der den traditionellen Gedanken von der Hölle am meisten geprägt hat“ (Minois, 1996, S. 63). Minois nennt Platon den „Vater der philosophischen Hölle“. Was auch laut Vorgrimler seine Berechtigung hat, wurde Platon doch „vom zweiten nachchristlichen Jahrhundert an von christlichen Theologen als >der< Philosoph in Anspruch genommen. In seinem Gottesdenken kam er der jüdisch-christlichen Gottestradition so nahe, daß sogar die Meinung aufkam, er habe das Alte Testament wenigstens gekannt, wenn nicht bewußt aufgenommen. … Es ist gewiß, daß die christliche Theologie ohne Platon ihre Sprache nicht gefunden hätte. Daher versteht es sich von selbst, daß auch in seinen Darlegungen zu einer Rechenschaft nach dem Tod und zum Schicksal der Gerechten und Ungerechten im Jenseits große Entsprechungen zur biblichen Botschaft, aber auch weitere Aufschlüsse über das noch Unbekannte gefunden wurden“ (Vorgrimler, 1993, S. 41).
In den Werken, in denen Platon von der Hölle spricht, folgt auf den Tod ein Gericht. Im Phaidon [113-114] zum Beispiel vier Möglichkeiten: Zunächst werden „diejenigen gerichtet, welche schön und heilig gelebt haben und welche nicht.“ Bei denen, die nicht schön und heilig gelebt haben, gibt es dann drei Gruppen: Diejenigen, die einen mittelmäßigen Lebenswandel geführt haben, gehen zum Acheron. „Hier wohnen sie und reinigen sich, büßen ihre Vergehungen ab…“ Die Gruppe der Unheilbaren, deren Verbrechen zu groß waren, „wirft ihr gebührendes Geschick in den Tartaros, aus dem sie nie wieder heraussteigen.“ Als letzte Gruppe führt Platon die Menschen an, die zwar große Vergehen begangen haben, aber doch als heilbar erkannt werden. Auch sie werden in den Tartaros geworfen, können aber, nachdem sie ein Jahr dort gewesen sind, die Seelen der Menschen, welche sie getötet haben oder an denen sie Frevel begangen haben, um Gnade anflehen. „Wenn sie sie nun überreden, so steigen sie aus, und ihre Übel sind zu Ende; wo nicht, so werden sie wieder in den Tartaros getrieben…“ (Phaidon [113-114], zit. nach Minois, 1996, S. 64).
Diese Einteilung der Sünder in „die Guten (Frommen und Heiligen), die Mittelmäßigen (die sowohl Gutes als auch Unrechtes getan haben), die großen, aber heilbaren Verbrecher sowie die unheilbaren Verbrecher“ (Vorgrimler, 1993, S. 46) findet sich später wieder in der christlichen Lehrmeinung, z. B. bei Augustinus.
Ebenfalls im Phaidon stellt Platon eine Geographie der Hölle auf: „In der Tiefe der Erde befinden sich ungezählte, mehr oder weniger große Höhlen. Sie sind in verschiedener Tiefe und miteinander verbunden. Dort fließen Ströme von Schlamm, Feuer, heißem und kaltem Wasser, die – wie in Sizilien – manchmal an die Erdoberfläche treten. Im Mittelpunkt des Ganzen befindet sich der Tartaros, zu dem alle Flüsse hinfließen und von dem sie auch ausgehen, pulsierend im höllischen Rhythmus…“ (Minois, 1996, S. 66).
Platon wähle, so Vorgrimler, bewußt die Form des Mythos, wenn er von der Unterwelt spreche (wie z.B. in der Politeia, wo er vom nach zwölf Tagen wieder zum Leben gekommenden Er erzählt, welcher über das „Drüben“ berichtet ). Er wähle diese Form nicht, weil er an der Gewißheit des kommenden Lebens und des gerechten Ausgleichs irgendeinen Zweifel gehabt hätte, sondern weil ihm der Mythos die angemessene Form gewesen zu sein scheint, über das dunkel bleibende Wie des Kommenden zu sprechen. So gibt er zu verstehen: „Ganz wörtlich muß eine derartige Erzählung nicht aufgefaßt werden, aber auf jeden Fall ist eine strenge Bestrafung des bewußt getanen Unrechts zu erwarten. Es ist nicht zu leugnen, daß Platon mit dem Angstmotiv arbeitet“ (Vorgrimler, 1993, S. 48). Im Mittelpunkt stehe aber die Idee der Gerechtigkeit, die nicht existieren würde, hätte sie nicht auch über den Tod Geltung. So bleibe bei Platon – trotz einiger sadistischer Züge in der Illustration durch die mythische Erzählungen von der Unterwelt – der Gedanke vorherrschend, „daß es eine Entwicklung auch nach dem Tode gibt und daß (fast) jeder eine Chance zu Einsicht und Besserung hat. So sehr … auch durch zwar proportionale, aber überharte Strafen abgeschreckt wird, so deutlich ist, daß ihr letzter Sinn therapeutisch ist“ (Vorgrimler, 1993, S. 48).

Der Orcus

Die berühmteste Schilderung der römischen Unterwelt, des Orcus, stammt von dem Dichter Vergil. Minois, der Platon den Vater der philosophischen Hölle nennt, bezeichnet Vergil als den Vater der volkstümlichen Hölle. Nicht zuletzt, da Dante Vergil als seinen Führer durch die Hölle wählte. Mit der Unterscheidung einer philosophischen und einer volkstümlichen Hölle weist Minois auf eine Entwicklung hin, die auch die spätere Diskussion der Höllenvorstellungen im Christentum prägte: Die philosophische Hölle, welche die geistigen Qualitäten der Sünde betont, und stellenweise in der Nachfolge Plato’s die Höllenqualen als Metaphern ansieht, steht in ständiger Auseinandersetzung mit der „… Hölle der Dichter [und Visionäre], die … voller Lärm und Getöse ist, und die von den Gläubigen … angenommen werden sollte… Die volkstümliche Hölle entwickelt in der Folge die geistigen Themen der Philosophen zu konkreten, bildhaften Darstellungen, während letztere den Sinn der Mythen, die in der volkstümlichen Hölle entstehen, vertiefen“ (Minois, 1996, S. 67).
Die Aeneis des Vergil ist nun der „erste große Reiseführer durch die Hölle. … Die Qualität der Beschreibung, die viele bekannte mythologische Elemente beinhaltet, sollte aus ihr das unbestrittene Referenzwerk machen, und dadurch wurden für Jahrhunderte bestimmte Bilder festgeschrieben“ (Minois, 1996, S. 68). Vergil war bei den Christen der Alten Kirche sehr angesehen, und dies nicht nur wegen „der großen Ernsthaftigkeit seiner Dichtungen und der von ihm verkörperten Tugenden, sondern in besonderer Weise wegen seiner 4. Ekloge“ (Vorgrimler, 1993, S. 50). In dieser preist Vergil die Geburt eines göttergleichen Jungen, mit der eine Zeit des Friedens und der Glückseligkeit auf der ganzen Welt beginnen sollte. Die Ekloge wurde im Hinblick auf Augustus geschrieben, wie auch die Aeneis geschrieben wurde, um den Zeitgenossen und Förderer Vergils als mythischen Gründer der römischen Nation zu ehren. Als aber Kaiser Konstantin, der sich später im Jahre 337 auf dem Sterbebett taufen ließ, in seiner „Karfreitagspredigt des Jahres 323 diese Passage auf das göttliche Kind von Bethlehem [deutete] … galt Vergil als Prophet und Seher des christlichen Heils, obwohl er >Heide< war. Die Verehrung für ihn hielt im Mittelalter und in der Zeit des Humanismus an“ (Vorgrimler, 1993, S. 50).
Im VI. Buch der Aeneis läßt Vergil Aeneas in die Unterwelt hinab gehen, „daß ich enthüll, was tief, tief unter Erden die Nacht deckt“ (Vergil, 1963, Vers 266). Aeneas bittet die Seherin Sibylle von Cumae, ihm das Höllentor zu öffnen: „Hier ist doch das ,Tor des Unterweltsfürsten’, wie man es nennt, und der nächtige Pfuhl, des Acheron Stauung“ (Vers 106 f., zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 50). Sibylle warnt ihn vor den Gefahren: es sei leichter hinab als wieder herauf zu kommen, denn es hieße: „zweimal den stygischen See zu befahren, zweimal zu sehn des Tartarus Nacht“ (Vers 134 f., zit. nach Vorgrimler, 193, S. 50).
„Der Eingang hat die Form einer von schwarzem Gewässer umgebenen Höhle, aus der ekelerregender Gestank dringt. Aeneas und Sibylle stürzen sich hinein, und in völliger Finsternis beginnt der Abstieg“ (Minois, 1996, S. 69):„Dunkel schritten sie dort unter einsamer Nacht durch Schatten/ und durch Plutos öden Palast und die Reiche der Ohnmacht,/ wie bei ungewiß gleißendem Mond unter boshaftem Flimmern/ dämmert durch Wälder der Weg, wenn Juppiter schattend umwölkt den/ Himmel und düstere Nacht den Dingen löscht ihre Farben…“ (Vers 268ff., zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 51).
Noch vor dem eigentlichen Tor zum Orcus „lagert der Gram und wohnt der Fluch verlorener Reue,/ Haust bleichblickende Seuch und Sucht, trübseliges Alter,/ Furcht und verleitlichen Hungers Gier und schmähliche Notdurft, / Auch des Augs unfaßlich Graun: der Tod und die Sorge,/ Auch des Todes Gesell, der Schlaf, und hämischer Herzen/ Schadenlust; der Krieg, mordwitternd, hütet die Schwelle…“ (Vergil, 1963, Vers 275ff.). Minois weist an dieser Stelle darauf hin, daß sich durch diese allegorischen „unheilvollen Gestalten… die Hölle auf der Erde fort[setzt]. So entsteht hier der Gedanke einer schon in diesem Leben beginnenden Hölle. Von dieser Basis ausgehend zögerten spätere Philosophen nicht mehr, das Stammhaus in seine irdischen Filialen zu verlegen“ (Minois, 1996, S. 69).
Vergil beschreibt im folgenden das Jenseits topographisch genauer, als dies „in den meisten antiken Höllendarstellungen“ (Le Goff, 1984, S. 36) geschieht. Es würde den Rahmen der Hausarbeit sprengen, alle Einzelheiten von Vergils ausführlicher Unterweltsschilderung zu nennen. Le Goff bringt eine Zusammenfassung: Auf den Eingang „folgen das Tal der nicht beerdigten Toten, der Fluß Styx [mit dem furchtbaren Fährmann Charon und dem Höllenhund Cerberus vor dem eigentlichen Eingang zur Unterwelt am anderen Ufer], das Tal der Tränen und die letzten Auen, bevor der Weg sich gabelt und links zum Tartarus (zur Hölle) und rechts, wenn man die mauer des Dis (Plutos, das Herrschers der Unterwelt) überwunden hat, zum Elysium, einem paradiesichem Ort, führt, hinter dem der heilige Hain liegt und der Lethe, der Fluß des Vergessens, fließt“ (Le Goff, 1984, S. 37).
Im Hinblick auf den Zusammenhang von Hölle und Nacht finden sich außer den schon oben angeführten Stellen noch weitere interessante Partien. So richtet zum Beispiel Charon an Aeneas folgende Worte: „Hier ist das Reich der Schatten, der schlaftrunkenen Nacht und des Schlummers“ (Vers 390, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 51).
Als ihnen die Selbstmörder begegnen, heißt es von diesen: „Wie gern jetzt droben im Lichte/ Würden sie Mühsal, Not und bitteren Mangel ertragen!/ Aber der Spruch verbeut’s Mit unerfreulicher Woge/ Hemmt sie der nächtige Pfuhl…“ (Vergil, 1963, Vers 436 ff.).
Ein Zusammenhang zwischen Unterwelt und Nacht besteht bei Vergil auch darin, daß Aeneas „vor Mitternacht wieder aus der Unterwelt aufgestiegen sein [muß], denn Mitternacht ist die Stunde der wahren Schatten (Vers 893 ff.)“ (Le Goff, 1984, S. 38). Le Goff weist in seinem Kapitel über Vergil darauf hin, daß auch in den Apokalypsen und den mittelalterlichen Visionen die Reise ins Jenseits meist vor Sonnenaufgang, vor dem ersten Hahnenschrei beendet sein muß. Wie schon bei Plato wird auch in der Aeneis über alle Verstorbenen Gericht gehalten und individuelle Rechenschaft velangt. Auch Vergil’s Dichtung hat „moralpädagogischen Charakter. Die Einschätzung der Menschen durch den Dichter wird an drei Kategorien von Toten erkennbar. Eine unschätzbar große Zahl ist in die Hölle verdammt, aber größer ist die Zahl derer, die zur Läuterung im Jenseits gepeinigt werden und zur Wiederverkörperung bestimmt sind; ganz klein ist die Zahl der wahrhaft Schuldlosen, die in ewigem Glück wohnen“ (Vorgrimler, 1993, S. 54).
Die Unterweltsfahrt des Aeneas war aufgrund des hohen Ansehens Vergils im Christentum durch Jahrhunderte von großem Einfluß, zumal auch weiten Kreisen ein strenger Unterschied zwischen Dichtung und Prophetie nicht bewußt war. „So kehren in der späteren Literatur wie in der bildenden Kunst lebende und starre Requisiten dieser Reisebeschreibung wieder. … Personifizierte Mächte wie der Tod, mythische Figuren wie Dämonen und Furien, Mischgestalten zwischen Mensch und Tier wurden zum geläufigen Inventar der Hölle. Die in die Unterwelt gelangten Menschen führen eine leiblose Schattenexistenz, sind aber gestalthaft wahrnehmbar und daher auch abbildbar“ (Vorgrimler, 1993, S. 54).
Minois schließt sein Kapitel über die Unterwelt bei Vergil mit der Feststellung ab, daß die Aeneis über die Volkskunst eine echte Faszination auf die Völker ausübte, und daß viele spätere Höllendarstellungen nur Varianten oder Weiterentwicklungen der Aeneis seien. „Aber diese volkstümliche Hölle ist noch nicht die vollkommene Hölle, ihr fehlt die Ewigkeit, … um die absolute Qual zu schaffen“ (Minois, 1996, S. 72).

Überleitung zur Hölle des Christentums

Aus einer dunklen Schattenwelt für alle Toten, die „wie tiefe Nacht“ ist, wurde – wie zuvor gezeigt – im jüdischen Altertum allmählich ein Strafort für die Sünder, die in der Finsternis unter der Erde von Wurm und Feuer gequält werden. Auch der Hades der Griechen war in erster Linie ein finsterer Ort, an dem die Toten abgeschnitten vom Licht und von der Lebenslust ein Schattendasein fristeten. Schließlich ist auch bei Vergil die Nacht das Zeichen einer Unterwelt, in der die Seelen der Menschen, die Verbrechen begangen haben, Schreckliches in der Finsternis erleiden müssen. So ist die Nacht und die Finsternis zuallererst als Metapher für die dem Menschen feindlichen Mächte zu verstehen: den Tod und das Böse.
Wie im Abschnitt über die Aeneis aufgezeigt wurde, ist die Nacht aber auch die Tageszeit, die besonders günstig für Visionen und Reisen in das Jenseits ist. Und sie wird – wie wir im Laufe der Auseinandersetzung mit der christlichen Höllenvorstellung noch sehen werden – auch die Zeit werden, in der „Reisen“ in der entgegengesetzten Richtung möglich und zu fürchten sind: Die Nacht wird die Zeit werden, in der die Mächte der Hölle die größte Kraft besitzen, das Leben und das Seelenheil der lebenden Menschen zu bedrohen. Das, was Odysseus am eigenen Leib erfahren mußte, nämlich, daß die Schatten des Totenreiches ihm schaden können, wird zu einer großen Angst der Menschen des Mittelalters bis hinein in die Neuzeit: Die Angst vor dem Teufel, dem Fürsten der Finsternis.
Die Betrachtung einer Geste des Aeneas soll nun überleiten zur Darstellung der christlichen Hölle. Zu Beginn seiner Unterweltsreise „zeigt Äeneas nach oben auf die lichtüberfluteten Gefilde – eine typische Geste aus der [finsteren] Tiefe zum Licht…“ (Le Goff, 1984, S. 38). Dieser Fingerzeig des Aeneas weist auf die christliche Weltsicht hin, die durch zweierlei geprägt wird: zum einen durch die finstere, gefürchtete Nacht der Sünde und zum anderen durch die Hoffnung auf ein Leben im licht- und lebenerfüllten Himmel, nahe bei Gott. „Im Rahmen der stark ausgeprägten Lichtsymbolik der christlichen Tradition übernahm die Nacht die Rolle der feindlichen Macht“ (Daemmrich, 1995, S. 260), und Jesus wurde das Licht der Welt. Und so beruht die „sittliche Entwicklung des Menschen … auf dem erfolgreichen Kampf mit den Mächten der Finsternis und der Suche nach göttlicher Erleuchtung“ (Daemmrich, 1995, S. 260). Das Christentum wurde aus dem Bewußtsein heraus geboren, daß der Kampf mit dem Bösen in seine Endphase eingetreten war. Wir wollen nun betrachten, wie sich aus diesem Bewußtsein heraus die christliche Vorstellung einer Hölle als ewigem Strafort entwickelte und welche Rolle der Nacht zugedacht wurde.

Zweites Kapitel

Die Hölle des Christentums

Die Finsternis draußen

Minois weist darauf hin, daß sich Paulus als der „älteste Zeuge und erste Aufbereiter des christlichen Gedankens … souverän über die Hölle hinweg[setzt]“ (Minois, 1996, S. 89). Er folgert: „Diese äußerste Zurückhaltung bei einem Mann, der die Apostel gekannt und lange Diskussionen mit ihnen geführt hat über die Lehre Christi und ihre Auslegungen, zeigt, daß der Glaube an die Hölle bei dem Schöpfer des Christentums eine sehr marginale Rolle gespielt hat…“ (Minois, 1996, S. 89).
„Nach einer Anzahl neutestamentlicher Zeugnisse hat Jesus [allerdings] selber das Wort >Hölle< verwendet“ (Vorgrimler, 1993, S. 17), „obwohl keineswegs bewiesen werden kann, daß die Worte, die Christus zugeschrieben werden, wirklich genau zutreffen“ (Minois, 1996, S.. 91). Mit dem deutschen Wort Hölle sind hier die neutestamentlichen Bezeichnungen für den Strafort der Frevler gemeint: Abyssos, Hades, Infernum und vor allem Gehenna. „Die Bezeichnung Gehenna im neutestamentlichen Griechisch ist ein Lehnwort aus dem Hebräischen. Dort heißt ge-hinnom … das Hinnomtal in der Nähe Jerusalems. Dort wurde der assyrische Gott molek (Moloch) an einem Kultort namens Tophet durch Brandopfer, manchmal wohl auch durch Kinderopfer im achten und im siebenten Jahrhundert v. Chr. verehrt. … Zur Zeit Jesu war ge-hinnom eine geläufige Bezeichnung eines Ortes geworden, der von Gott verworfen und zur Stätte seiner Strafe bestimmt sei“ (Vorgrimler, 1993, S. 18). Und allmählich „entwickelte sich die Vorstellung, daß dort beim Letzten Gericht die Frevler versammelt würden. Damit war das Gehinnom-Tal als >Gehenna< identisch geworden mit dem jenseitigen Strafort“ (Grübel, 1991, S. 52). „Das deutsche Wort >Hölle< geht auf eine gemeingermanische Wurzel hel-, verbergen … zurück. Der westgotische Bischof Ulfila (gestorben 383 oder 382) gibt mit dem gotischen halja das griechische Wort Hades wieder, das einfachhin das Totenreich bezeichnet. Den fremden Begriff >Gehenna< aus dem Neuen Testament übernimmt er als Lehnwort >gaiainnaHölle< (>helle< u.ä.) mit der praktisch ausschließlichen Bedeutung von Strafort für Verstorbene verbunden“ (Vorgrimler, 1993, S. 17). Aber zunächst nahm die Hölle im Bewußtsein der Christen keinen breiten Raum ein: „…die Hölle innerhalb des Neuen Testamentes [wird] nirgendwo so breit ausmalend dargestellt … wie die Freuden des >Himmels< oder das >Neue Jerusalem<“ (Vorgrimler, 1993, S. 78). Denn die frühen Christen glaubten, daß das Gericht Gottes unmittelbar bevorstehe: „Mit dem Ostererlebnis war alsbald und zunächst die feste Überzeugung verbunden, der zu Gott Erhöhte werde bald(igst) wiederkommen, dieses Mal in offenbarer Herrlichkeit als der von Gott mit dem Gericht beauftragte Richter“ (Vorgrimler, 1993, S. 14). „Es kann, historisch gesehen, kein Zweifel daran sein, daß Jesus selber mit drohenden Worten vom Gericht und seinen Folgen gesprochen hat. … Wie die Gerichtsankündigungen Jesu im einzelnen gelautet haben, läßt sich [allerdings] kaum mehr ausmachen“ (Vorgrimler, 1993, S. 16). Mit diesem Gericht würde für die Gottgetreuen eine Zeit der immerwährenden Gerechtigkeit und Freiheit anbrechen: das Gottesreich. Es würde die allumfassende Versöhnung der gesamten Schöpfung sein, so daß alle Gewalt- und Machtausübung aufgehoben wäre. Die Menschheit wäre somit in „jenem gott-gemäßen, friedvollen und versöhnlichen Zustand, der es Gott ermöglichen würde, in seiner nun vollendeten Schöpfung bleibend >sein Zelt aufzuschlagen<“ (Vorgrimler, 1993, S. 12). Jesus sah diese Gottesherrschaft in seiner Person angebrochen. Da der Gott des Jesu ein Gott des Lebens und der Lebendigen war, würden die toten Gottgetreuen als Auferweckte in diesem Gottesreich leben, welches nicht im „Jenseits“, sondern in dieser konkreten Schöpfung errichtet wird. Alle Mächte des Bösen, die von Anfang an Widerstand gegen diese Verwirklichung von Gottes Willen geleistet hatten, alle gottwidrigen Kräfte, zu denen vor allem der Tod gehörte, alle Menschen, die sich gegen die Umkehr im Namen Christi und somit für das Böse, welches durch sie und ihnen wirkte, entschieden haben, würden endgültig vernichtet werden. Die Folgen einer Entscheidung gegen das Heilsangebot Gottes waren bei Jesus „gewiß“ (Vorgrimler) in erster Linie im Kontext menschlicher Eigenverantwortung angesprochen worden: Wer keinen Einlaß fand in das Gottesreich, also „draußen“ bleiben mußte, hatte sich bewußt für „draußen“ entschieden. Mit den Worten des Matthäus: für „die Finsternis draußen“ (Mt. 25, 30). Diese „Finsternis draußen“ wurde zum einen weiterhin im Sinne der alttestamentlichen Tradition als die Finsternis des Todes verstanden, die wie die „ewige Nacht“ eine Übertragung der konkreten Dunkelheit des Grabes in den Bereich der bildlichen Rede war. Die Vorstellung, daß der Tod eine Trennung von Gott bedeute, hatte sich bereits im jüdischen Bewußtsein entwickelt, und im Anschluß daran illustrierte „die Finsternis draußen“ auch die Distanz der Toten zu Gott. Durch die Heilsbotschaft des Jesus von Nazareth, wie sie die Evangelien verbreiteten, wurde – um im Bild zu bleiben – die so verstandene „Finsternis draußen“ noch finsterer: Denn nun war der Tod nicht mehr einfach nur ein Zustand, der ausnahmslos alle betreffen würde. Somit waren auch die „Finsternis“ oder die „ewige Nacht“ nicht mehr Metaphern für eine Totenwelt, in der alle Toten ein freudloses Schattendasein führten. Da das Neue Testament den Tod zur Strafe für alle die Menschen erklärte, die Jesus nicht nachfolgen, erfuhr die Vorstellung vom Tod eine „Verschärfung“. Der Tod war nicht mehr das unabänderliche Schicksal aller Menschen, ob gut oder böse, sondern ein Zustand, der auf die bewußte Abkehr von Gott folgt. All jene, die Jesus als den Sohn Gottes anerkennen, werden – da Jesus den Tod besiegte – auferstehen und so am ewigen Leben nahe bei Gott teilhaben. Der Gott des Neuen Testamentes stellt sich demnach auf die Seite des Lebens. Dadurch, daß Gott nun eindeutig mit dem Leben identifiziert wird, wird dem Tod eine neue Qualität zugesprochen: Der Tod wird zur gottwidrigen Kraft, zum Bösen. Folglich haben sich alle, die die Heilsbotschaft nicht annehmen, für das Böse entschieden und werden nicht auferstehen. Da das Leben und Jesus als der Gott der Lebenden symbolisiert werden durch das Licht, stellt der Tod als Folge einer bewußten Abkehr von Gott die „Finsternis draußen“ dar. Diese Finsternis ist zum einen die Abwesenheit des Lichtes, bedeutet also weiterhin im Sinne der Tradition Gottferne. Weil der Tod nun aber eine gottwidrige Kraft und eine Folge sündigen Handelns ist, erhält die Finsternis eine weitere, eine „positive“ Bestimmung: die Finsternis ist ein Zeichen der Sünde, die Finsternis ist ein „positives Merkmal“ des Gottwidrigen, des Bösen. Daß innerhalb einer solchen Vorstellungswelt neben der Finsternis auch die Nacht durchweg mit dem Bösen in Verbindung gebracht wird, illustrieren Textstellen, die Jean Delumeau in seinem Buch über die „Angst im Abendland“ zusammengestellt hat: „Christus selbst muß die Passionsnacht durchleben. Als die Stunde gekommen war, lieferte er sich den Gefahren der Nacht aus (Jo. 11, 10), jener Nacht, in die der Verräter Judas untergetaucht war (13, 30), jener Nacht, in der seine Jünger Ärgernis nehmen sollten (Mt. 26, 31); er aber wollte dieser >Stunde und der Macht der Finsternis< die Stirne bieten (Lk. 22, 53). Am Tage seines Todes senkte sich Finsternis auf die ganze Erde herab (Mt. 27, 45). Seit der Verkündigung des Evangeliums und der Auferstehung Christi leuchtet jedoch Hoffnung am Horizont der Menschheit. Gewiß befindet sich der Christ gegenwärtig noch >in der Nacht<, sagt der Apostel Paulus. Doch ist diese Nacht bereits >vorgeschritten< und jener Tag, der ihr eine Ende setzen wird, schon ganz nahe (Röm. 13,12). Wenn er die Berge der Nacht überwinden will (Jo. 12,35), so muß er auf Christus hören und ein >Kind des Lichtes< werden (Jo. 12, 36) Um sich gegen den Fürsten der Finsternis vorzusehen (Eph. 6, 12), muß er Christus und die Waffenrüstung des Lichtes anziehen und >die Werke der Finsternis< ablegen (Röm. 13,12ff.; 1.Jo. 2,8f)“ (Delumeau, 1989, S. 125-126). Interessant für mein Thema, die „höllische Nacht“, ist in diesem Zusammenhang auch ein „…Ereignis, das im Neuen Testament kaum erwähnt wird, …[aber] die ersten Christen stark beschäftigt [hat], nämlich die angebliche Höllenfahrt Christi“ (Minois, 1996, S. 109). Bald entwickelte sich ein reichhaltiges, apokryphes Schrifttum, welches über die Andeutungen im Neuen Testament weit hinausgehend detailreiche Berichte über die Höllenfahrt Christi unter das gläubige Volk brachte. Im Mittelpunkt steht die Konfrontation Jesu mit dem Teufel, aus welcher Jesus siegreich hervorgeht, da er „alle Toten des Alten Bundes erlöst“ (Minois, 1996, S. 110). Diese Episode gehe – so Le Goff – auf ein altes orientalisches Motiv zurück, „nämlich auf den Kampf des Sonnengottes mit den Gewalten der Finsternis; das Reich, in dem die Sonne gegen die Finsternis kämpft, ist auch das Reich der Toten“ (Le Goff, 1984, S. 63). Minois weist auf gnostische Einflüsse hin, was einerseits die Gegenüberstellung des guten und des bösen Prinzips im Kampf, andererseits die Identifizierung des Guten mit dem Licht und des Bösen mit der Finsternis betrifft. Da die christliche Kirche am monotheistischen Gottesbild festhielt, wurden dualistische Lehren, wie die Gnosis, als Häresien bekämpft. Die gleichnishafte Sprache des Neuen Testamentes leistete dualististischen Tendenzen allerdings Vorschub: Besaß der Gott des Alten Testamentes noch lichte wie dunkle Anteile, war er ein Gott, der das Leben und den Tod brachte, der gut und böse war, so wurde der Gott des Neuen Testamentes eindeutig als das Licht der Welt angesprochen: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis“ (Joh. 1, 5/6). Der Gott des Neuen Testaments ist ein guter Gott, ein Gott der Liebe und des Lebens, ein eindeutig gutes Prinzip. Innerhalb einer dualistischen Lehre wäre folglich die Finsternis, der Haß, der Tod, alles Übel dieser Welt nicht Gott, sondern ein böses Prinzip. Da die Christen aber kein anderes Prinzip neben dem Prinzip Gott anerkennen wollten, ergab sich das Problem, wie das Böse in der Schöpfung eines guten Gottes seinen Platz finden konnte. Im Hinblick auf die „höllische Nacht“ ist es – denke ich – statthaft, das Theodizee-Problem beiseite zu lassen, denn die dualistische Vorstellungsweise war, wie ich im folgenden darstellen werde, maßgeblich für die Ausgestaltung der christlichen Hölle und für weitere Entwicklung der Beziehung zwischen Hölle und Nacht. So kam, als sich die Hoffnung auf ein baldiges Kommen ihres himmlichen Herrschers nicht erfüllte, innerhalb der christlichen Gemeinden vermehrt ein apokalyptisches Denken auf, welches das Reich Gottes nicht mehr innerhalb dieser Schöpfung anbrechen sah, sondern in naher Zukunft das Weltende im Rahmen einer kosmischen Katastrophe erwartete. Diese letzte Epoche wurde gedeutet „als Kampf zwischen Guten und Bösen, über die am Ende der Zeiten Gericht gehalten würde“ (Grübel, 1991, S. 51). Dabei wurden die Feinde der Gläubigen „nicht nur in menschlicher Gestalt gesehen: als Satan, böse, gefallene Engel, als Drache usw. nahmen sie auch jenseitig-dämonische Züge an. Sobald das Totenreich zu einem Reich der Strafhölle gemacht worden war, konnte man sich diese unheimlichen Figuren als dessen Beherrscher denken, die vom >Jenseits< aus ihre Angriffe auf Erden führten“ (Vorgrimler, 1993, S. 78).
Ein entscheidener Schritt zur Etablierung der Strafhölle war getan, als sich das Christentum bei „der Wahl zwischen einer einförmigen Totenwelt – wie das jüdische Scheol – und einer zweigeteilten Welt nach dem Tode, einer Welt des Schreckens und einer Welt des Glück, wie der Hades und das Elysium, …für das dualistische Modell…“ (Le Goff, 1984, S. 10) entschied. So wurde die „Finsternis draußen“ konkreter.
Langsam gewannen die Topographie der Hölle und ihre Strafen an Gestalt. „Der zunehmende Einfluß der östlichen Religionen, deren Jenseits von Dämonen bevölkert ist, die zunehmende Sorge um das persönliche Heil, die Beunruhigung über das, was nach dem Tode kommt…“ (Minois, 1996, S. 97), trugen zur Ausgestaltung der Höllenvorstellung bei. Da die kargen Anspielungen in der Bibel „die Neugierde der Gläubigen nicht befriedigen [konnte], die auf Einzelheiten und faßbare Darstellungen aus…“ (Minois, 1996, S. 97) sind, müssen sie also erfunden werden. Da Christus das Heil versprochen hat, dieses aber „nicht jedem widerfahren kann, bedarf es eines Gegenpols, nämlich der Hölle. Und so beginnen die Gläubigen an diesem Thema, das einer überschäumenden Phantasie so sehr entgegenkommt, fleißig weiterzuspinnen. Erst in zweiter Linie beginnen die Kirchenväter eine Theologie für diesen Glauben zu schaffen…“ (Minois, 1996, S. 97).

Die finstere Hölle

Die Evangelisten griffen bei der Beschreibung dessen, was den Sündern in der „Finsternis draußen“ blüht, auf jüdische Anschauungen zurück: „Die Hölle [Gehenna] wie auch ihr Feuer waren … für die Hörerinnen und Hörer der Jesusbotschaft geläufige Vorstellungen. … Ein weiteres mit solchen Vorstellungen verbundenes Motiv ist die (ewige) Finsternis. Etliche Male ist es kombiniert mit >Heulen und Zähneknirschen<, die in jener Finsternis herrschen sollen“ (Vorgrimler, 1993, S. 19-20). „In der Auslegungsgeschichte gaben diese Anschaulichkeitsmotive wie auch dasjenige des Feuers … Anlaß zu abenteuerlichen und uferlosen Spekulationen. Mit Feuer, Heulen und Zähneknirschen sollten Elemente extremer Schmerzerfahrung als Warnung vor >Draußen< benannt werden. Finsternis ergab sich als Bild für das Getrenntsein vom Land der Lebenden aus der Dunkelheit des Grabes und der mit ihm verbundenen Totenwelt. Sobald die Warnungsworte als buchstäblich zu nehmende Vorausinformation verstanden wurden, wurde über ein Feuer gerätselt, das brennt und nicht verbrennt und sich gleichzeitig mit Finsternis vereinbaren ließe. Aus dem Heulen und vor allem Zähneknirschen oder – klappern erschloß man eine Strafe von äußerster Kälte (gefolgt von Wut oder Reue auf seiten der Bestraften), woraus sich das Problem ergab, wie eine Koexistenz von Feuer und Kälte zu denken sei“ (Vorgimler, 1993, S. 20). In dem Maße, wie die „Finsternis draußen“ konkreter wurde, wandelten sich im allgemeinen Bewußtsein der Gläubigen auch die Metaphern für die gottwidrigen Kräfte, „Anschau-ungsmotive“, wie Vorgrimler sie nennt, zu realen Wesenheiten des Bösen. Diesen bösen Wesenheiten, deren Oberhaupt der Teufel war, Satan, Lucifer, Herr der Finsternis, wurde als ihr Herrschaftsgebiet zunächst einmal die Hölle, als der finstere Ort der Bösen, zugesprochen, dann aber weiteten sie ihre Herrschaft auf die Erde aus und insbesondere die Nacht als konkrete Tageszeit wurde zur Zeit der bösen Mächte. Diese Entwicklung will ich im folgenden darstellen. „Der Glaube an eine zukünftige Hölle für die Übeltäter dieses Erdenlebens wurde zu Beginn des 3. Jahrhunderts Allgemeingut…“ (Minois, 1996, S. 123), geglaubte Wirklichkeit, den Gläubigen bekannt durch Höllenvisionen und Höllenreisen, wie sie durch zahlreiche apokryphe Schriften und durch Prediger verbreitet wurden. „Die Hölle, die sich das Volk ausgedacht hat, ist eine reichlich konfuse Angelegenheit, bei der nur ein Element konstant ist: die Qual“ (Minois, 1996, S. 123). Es gibt zwar auch schon in der unmittelbar nachchristlichen Zeit „Zeugnisse einer theologisch und spirituell niveauvollen Reflexion…, die … an der Ausmalung jenseitiger Zustände oder gar Strafen nicht interessiert sind…“ (Vorgrimler, 1993, S. 78). Da ich jedoch denke, daß sowohl die heutige Vorstellung der Hölle als auch die Entwicklung der Beziehung zwischen der Hölle und der Nacht vor allem von den „volkstümlichen“ Vorstellungen geprägt wurde, gehe ich auf die theologische Diskussion nur am Rande ein. Eine sehr einflußreiche Höllenbeschreibung, die erst „eine Synode des Jahres 397 in Karthago“ (Vorgrimler, 1993, S. 82) aus dem Kanon der biblischen Bücher ausschloß, ist die auf einen unbekannten Autor zurückgehende Petrusapokalypse, vermutlich 135 n. Chr. entstanden: „das älteste christlich-nachbiblische Zeugnis über das Ergehen des Menschen nach seinem Tode“ (Vorgrimler, 12993, S. 79), „…die erste Beschreibung der Höllenqualen, der noch sehr viele folgen werden. Sie ist gewissermaßen tonangebend, denn von nun an geht es darum, den Vorgänger an bis ins Detail beschriebenen Grausamkeiten zu übertrumpfen“ (Minois, 1996, S. 107). Als die Apostel auf dem Ölberg den Auferstandenen bitten, „ihnen den seligen Lohn der Gerechten im Himmel schauen zu dürfen, damit ihre Verkündigung darüber noch wirksamer werde, [wird ihre Bitte erfüllt]. … Außer dem Ort der Herrlichkeit wird [dann von Petrus] auch der Ort der Bestrafung beschrieben.“ (Vorgrimler, 1993, S. 79). „Die Hölle wird nach traditioneller Art beschrieben: Es herrscht dort tiefe Finsternis (XXI. Kap.): >Ich sah einen weiteren, völlig finsteren Ort; das war die Stätte der Bestrafung< (Le Goff, 1984, S. 50). „Die Bösewichter, Sünder und Heuchler aber werden in den Tiefen nicht verschwindender Finsternis stehen, und ihre Strafe ist das Feuer… Man bereitet ihnen ein nie verlöschendes Feuer“ (Petrus-Apokalypse, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 79). Zu dem ewigen Feuer der Strafe, welches in der niemals schwindenen Finsternis brennt, kommen noch etliche Qualen hinzu: Lästerer der Gerechtigkeit, Frauen wie Männer hängen an ihren Zungen über dem Feuer; Frauen, die mit Hurerei Männerseelen fingen zum Verderben, hängen an Nacken und Haaren, werden dann in die Grube voll Feuer geworfen; die Männer, die mit ihnen zusammen waren, hängen die Strafengel mit den Schenkeln ins Feuer; Mörder werden ins Feuer geworfen, in dem giftige Tiere sind; da gibt es die Mütter, ihnen fließt Milch aus den Brüsten, die „gerinnt und stinkt, und daraus gehen fleischfressende Tiere hervor, und sie gehen heraus, wenden sich und quälen sie in Ewigkeit mit ihren Männern, weil sie verlassen haben das Gebot Gottes und ihre Kinder getötet gaben.“ (Petrusapokalypse, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 80); weiterhin Qualen durch glühendes Eisen, Selbstzerfleischung, Zerstückelung, Lügner schneidet man ihre Lippen ab, und Feuer geht in ihren Mund und ihre Eingeweide; da gibt es Gewürm, Dämonen, die quälen, Feuerräder, fleischfressende Vögel … usw. usw.. Neben der geradezu sadistischen Schilderung der Höllenstrafen werden noch andere Elemente traditionsbildend wirken: nämlich die „entsprechend den Sünden und den Sündern klassifizierten Höllenstrafen“ (Le Goff, 1984, S. 50). So werden z.B. die Lügner – wie oben genannt – am Organ ihrer Sünde gestraft. Weiterhin befinden sich die ungetauften Kinder in der Hölle. Und die Qualen werden den Sündern von Dämonen zufügt: Qualen, die ewig dauern werden, da es für die Sünder, sind sie erst einmal gestorben und in der Hölle, keine Gnade mehr gibt. Auch findet sich in der Petrusapokalypse die Vorstellung, daß die Gerechten die Sünder sehen können: die ermordeten Kinder sehen die Qualen ihrer Eltern, von denen sie umgebracht wurden. Schließlich geschieht dies alles in einer undurchdringlichen Finsternis. Die Finsternis ist hier ein konkretes äußerliches Merkmal für diesen Ortes der Bösen. Die Bedeutung der Finsternis als Metapher für die Gottferne tritt hinter die als real vorgestellte Finsternis zurück. Angesichts der Qualen, die ausführlich und breit dargestellt werden, scheint die Finsternis nur den selbstverständlichen Hintergrund für die Ausmalung der Strafen zu liefern. Dies ist die Hölle, wie sie im großen und ganzen im Bewußtsein der Christen bis in unsere Zeit hinein vorhanden sein wird, ungeachtet dessen, ob sie als realer Ort, als Zustand oder auch nur als illustrierendes Wort angesehen wird. Minois nennt sie die volkstümliche Hölle: die Hölle als Synonym für unermeßliche Qualen. Durch all die Jahrhunderte hindurch wird sie in diesem Stil von Predigern ausgemalt werden, die mit solcherlei drastischen Bildern versuchen, die Angst der Gläubigen vor der Hölle wachzuhalten, um sie vor der Sünde zu bewahren. Denn selbst wenn die Allgemeinheit der Christen die Angst vor der Hölle bis hinein ins frühe Mittelalter nicht kannte, weil sie als die Gemeinschaft der Getauften das zukünftige Gericht mit Optimismus erwarteten (Grübel, 1991, S. 53), und die Hölle somit nicht sie, sondern „die anderen“ betraf, so hatte es nicht lange gedauert, bis Prediger versuchten, die Angst vor der Hölle zu schüren. Denn die Heiden sollten so auf den rechten Weg gebracht werden. Dies brachte den Christen schon sehr früh – im 2. Jahrhundert – den Vorwurf ein, „Seelsorge mit der Angst zu treiben“ (Minois, 1996, S. 117). Höllenschilderungen wie diese Visionen der Petrusapokalypse wurden von der Allgemeinheit der gläubigen Christen als Beschreibung einer wirklichen Realität angesehen, die schließlich auch die Christen treffen konnte: „Keiner aus dem Volke Gottes ist seines Heiles mehr sicher, nicht einmal die, die der profanen Welt die Einsamkeit der Klöster vorgezogen haben“ (Aries, 1989, S. 130). Schon sehr früh hatten die christlichen Denker ihre Schwierigkeiten, die Widersprüchlichkeiten des geläufigen Höllenbildes miteinander in Einklang zu bringen. „Die Absurditäten der volkstümlichen Hölle ziehen den beißenden Spott der heidnischen Intellektuellen auf sich. Man muß also diese Auswüchse beschneiden und das Christentum mit glaubwürdigen Argumenten verteidigen…., aber die volkstümliche Hölle stellt die Vernunft vor zahlreiche Probleme: Wer kommt in die Hölle? Wann beginnen die Qualen? Sind sie ewig? Wie kann die Seele körperliche Qualen wie Feuer empfinden?“ (Minois, 1996, S. 126). Wie lassen sich Feuer und Finsternis miteinander in Einklang bringen? Wie können die Seligen die Qualen der Sünder in der undurchdringlichen Finsternis sehen? Wie verträgt sich die Existenz einer ewigen Strafhölle mit der Liebe und Gnade Gottes? Wie ist die Beschaffenheit eines Feuers zu denken, das in alle Ewigkeiten quält, also brennt, ohne zu verbrennen? Selbst einige frühe christliche Theologen sprachen diesen Höllenbeschreibungen ihren Realitätsgehalt ab und sahen – der platonischen Tradition folgend – in den Höllenqualen, wie sie die Bibel beschreibt und wie sie in den volkstümlichen Visionen beschrieben werden, warnende Metaphern. So schreibt Ambrosius im 3. Jahrhundert: „Was ist diese äußere Finsternis? Soll sie bedeuten, daß es ein Gefängnis gibt, in das der Schuldige gesperrt wird? Sicher nicht. Aber jene, die außerhalb des göttlichen Willens und seiner Verheißung leben, sind in der äußeren Finsternis, denn Gottes Wille ist das Licht, und wer ohne Christus lebt, lebt ebenfalls in der Finsternis. […] Es gibt also kein wirkliches Zähneknirschen und kein ewiges, von echten Flammen genährtes Feuer, es gibt auch keinerlei Gewürm im körperlichen Sinn“ (zit. nach Minois, 1996, S. 131). Dieser Auffassung entsprechend meint die Schrift, wenn sie „vom höllischen Feuer spricht… die brennenden Gewissensbisse der Verdammten. Dieses Feuer ist nicht materiell, es ist geistig, es durchdringt die Seele und nicht den Körper. Es ist der Schmerz über die begangenen Sünden“ (Minois, 1996, S. 127). Und so bedeutet die Finsternis nach metaphorischer Lesart die selbstverschuldete Distanz der Verdammten zu Gott. Auch Origenes (gest. um 253/254) verstand die Beschreibungen der Hölle metaphorisch. Da auch das Böse seinen Platz in der Schöpfung des guten Gottes hat, lehrte er die Apokatastasis, „die Lehre von der Rückführung aller Dinge in ihren ursprünglichen, rein geistigen Zustand. … Alles kehrt in seinen ursprünglichen Zustand im Schoße des wahren, guten Gottes zurück. Dies würde bedeuten, daß die Verdammten, nach Verbüßen ihrer Strafe, auch gerettet werden…“ (Minois, 1996, S. 129). So wurde die Ewigkeit der Höllenqualen angezweifelt, denn wie „könnte ein Gott der unendlichen Güte seine eigenen Geschöpfe endlosen Qualen ausliefern?“ (Minois, 1996, S. 126). Jene Theologen, die „so dachten, konnten keinen Grund erkennen, warum die menschliche Freiheit mit dem Tod aufgehoben und keiner Entscheidungsakte mehr fähig sei. Sie hielten eine ewige Koexistenz des Bösen in Gestalt des verstockten Teufels und der reuelosen Verdammten mit der ewigen Liebe und Schönheit Gottes für undenkbar“ (Vorgrimler, 1993, S. 99). Diese Lehrmeinungen konnten sich bei der sich entwickelnden Amtskirche, die die Hölle als realen, ewigen Strafort für die Bösen etablierte, allerdings nicht durchsetzen, auch da jene der Meinung war, „daß die Angst vor der Hölle eine positive sittliche Ausdwirkung habe“ (Vorgrimler, 1993, S. 101). Die Auffassung einer ewigen Hölle und eines wirklichen, realen, aber vom irdischen Feuer unterschiedenen Höllenfeuers, welches in der undurchdringlichen Finsternis brennt, setzte sich durch. Visionen und Berichte von Höllenreisen konkretisierten weiterhin die Vorstellung von der Hölle, Prediger brachten sie unters Volk, die Theologen systematisierten sie. Als Beispiel für einen Versuch, die Koexistenz von Feuer und Finsternis ohne Widersprüche darzustellen, sei Basilius (gest. 379) zitiert, der auch zwischen den Wesenheiten der Hölle und der Nacht eine Verbindung herstellt: „Derjenige, der in seinem Leben viel Böses getan hat, wird sich furchterregenden, unheilvoll aussehenden Engeln gegenüberstehen, die wegen der Härte ihres Wesens in ihrem Atem und ihren Blicken Feuer ausströmen und mit ihrem finsteren, drohenden Verhalten im Antlitz der Nacht gleichen. Seht den tiefen Abgrund, undurchdringliche Finsternis, Feuer ohne Helligkeit, das zwar brennen kann, aber des Lichtes beraubt ist. Dann stell euch eine Art Wurm vor, der giftig und fleischfressend ist, der gierig fressen kann, ohne jemals satt zu werden, und mit seinen Bissen unerträgliche Schmerzen auslöst. Denkt dann an die allerschlimmste Strafe: ewige Vorwürfe und Schande…“ (Basilius, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 101). Auch für Augustinus ist die Hölle ewig und das Feuer materieller Natur, es hat die Eigenschaft, alles zu schwärzen, was es verbrennt, „und ist doch selbst leuchtend. Und allem, was es umzüngelt und einhüllt, nimmt es die Farbe…“ (Gottesstaat, zit. nach Minois, 1996, S. 147). Wurm und Finsternis scheint Augustinus dagegen metaphorisch zu interpretieren, so daß ihm die Koexistenz von Feuer und Finsternis keine Schwierigkeiten macht: Die Bisse des Wurmes bedeuten demnach die Gewissensbisse der Sünder, und die Finsternis sieht er als Metapher dafür an, daß die Sünder sich außerhalb des Gottesreiches befinden: „Deshalb nennt der Herr auch diese Stätte >die Finsternis draußen< (Mt. 25,30)“ (Gottesstaat, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 121). Augustinus, der „den Kirchen der katholischen und reformatorischen Tradition eine große theologische Autorität bis heute [ist]…, über tausend Jahre lang … im Abendland sogar die theologische Autorität schlechthin“ (Vorgrimler, 1993, S. 117), war sich mit fast allen Kirchenvätern des 4. Jahrhunderst darüber einig, „daß die Hölle erst nach dem Jüngsten Gericht wirklich beginnt, denn damit die Qualen vollständig sind, muß der Körper auferstehen“ (Minois, 1996, S. 138). Diese Meinung ist gegenüber der Botschaft der Evangelien, laut der nur die Seligen auferstehen werden, eine erneute Konkretisierung der Hölle und der bösen Mächte. Dadurch, daß auch die Verdammten im Fleische auferstehen werden, sind sie in gewisser Weise den Seligen gleichgestellt: Augustinus drückt dies mit seinem Zwei-Staaten-Modell aus. „Der Heilsbotschaft der Gläubigen (>civitas Dei<) stellte Augustinus die >civitas diaboli< gegenüber, die bis zum Ende der Zeiten auf der Welt nebeneinander existieren und zwischen denen sich der Christ entscheiden muß“ (Grübel, 1991, S. 53). Und nach dem Ende der Welt, wenn „nach der Auferstehung das Allgemeine Gericht abgehalten und vollstreckt ist, dann haben die beiden, das Reich Christi und das Reich des Teufels, ihre festen Grenzen. Das eine umschließt die Guten, das andere die Bösen, und beide umfassen sowohl Engel als auch die Menschen…“ (Gottesstaat, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 119). Die Frage, ob diese Auffassung „nicht doch einen metaphysischen Dualismus verrät, der der jüdisch-christlichen Tradition widerspricht, braucht hier [wie Vorgrimler sagt] nicht entschieden zu werden“ (Vorgrimler, 1993, S. 120). Dieses Weltbild, das die Menschheitsgeschichte als das Schlachtfeld der Kämpfe der Guten mit den Bösen ansieht, wirkt bis heute fort. Und die Konkretisierung, die das „Reich des Teufels“ dadurch erfahren hatte, beeinflußte auch die Vorstellungen der Menschen von Nacht als konkrete Tageszeit: War die Hölle der Ort der „Finsternis draußen“, so wurde die Nacht die bevorzugte Zeit für Angriffe aus dieser „Finsternis draußen“. Bevor ich aber diese Entwicklung darstellen werde, sei als ein Beispiel für die Konkretisierung des Bösen gerade im Hinblick auf die Finsternis eine Aussage des Thomas von Aquin (gest.1274) zitiert: „Die Einrichtung der Hölle wird derart sein, wie es am meisten dem Elend der Verdammten entsprechen wird. Demgemäß sind dort Licht und Finsternis, wie es am meisten zum Elend der Verdammten paßt. … gelegentlich kommt es auch vor, daß das Sehen leidvoll ist, wenn wir nämlich etwas sehen, was uns schädlich oder unserm Willen zuwider ist. Und deshalb muß die Räumlichkeit der Hölle in der Weise nach Licht und Finsternis für das Sehen eingerichtet sein, daß nichts deutlich gesehen wird, sondern nur in einer gewissen Vernebelung das gesehen wird, was dem Herzen Leid zufügen kann. Daher ist die Räumlichkeit schlechthin gesprochen finster; dennoch gibt es nach Gottes Anordung dort etwas Licht, das hinreicht, um das zu sehen, was die Seele quälen kann. Und dem tut die natürliche Lage des Ortes Genüge; denn in der Erdmitte, wo man die Hölle annimmt, kann es nur ein rußiges, trübes, gleichsam schwelendes Feuer geben.
Manche sehen jedoch die Ursache der Finsternis in der Zusammenballung der Leiber der Verdammten, die in ihrer großen Zahl derart den Raum der Hölle ausfüllen werden, daß dort keine Luft übrigbleiben wird. Und so wird es dort nichts Durchsichtiges geben, das Licht oder Finsternis aufnehmen könnte, außer den Augen der Verdammten, die verfinstert sein werden“ (Die letzten Dinge, 97. Frage, Artikel 4., zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 202).

Überleitung zur höllischen Nacht

Die Finsternis als Metapher für die konkrete Dunkelheit des Grabes und der damit verbundenen Vorstellung der Distanz zu Gott hat eine neue, zusätzliche Qualität bekommen: Als „Finsternis draußen“ verbildlicht sie einmal die geistige Qual „im ewigen Ausschluß von der Anschauung Gottes… die Einsamkeit und Verzweiflung bedeutet“ (Grübel, 1991, S. 61), und zum zweiten wurde die Finsternis ein konkretes äußerliches Merkmal der als real vorgestellten Strafhölle und der bösen Mächte, welche in der „Finsternis draußen“, nun auch verstanden als „civitas diaboli“, als reale Wesen leben. Ist hier noch die Hölle der Ort, an dem das Böse seine Macht ausübt, so weitet das Böse in der Folgezeit seinen Herrschaftsbereich auf die „Welt“ aus, und die Nacht wird die bevorzugte Zeit für die Angriffe des Bösen auf die „civitas Dei“ werden.
„Eine unglaubliche Furcht vor dem Teufel begleitete die Heraufkunft der Moderne in Westeuropa. Die Renaissance übernahm zweifellos Vorstellungen und Bilder vom Teufel, die sich im Laufe des Mittelalters herausgebildet und vermehrt hatten… Der Teufelswahn nimmt zwei grundlegende Formen an, die sich beide in der Ikonographie widerspiegeln: eine grauenhaft höllische Bilderwelt und eine panische Angst vor den unzähligen Fallen und Versuchungen, die der große Verführer ersinnt, um die Menschen zu verderben“ (Delumeau, 1989, S. 358 – 359).
Laut Delumeau bezeichnet Dantes „Göttliche Komödie“ symbolhaft den „Zeitpunkt, von dem ab das religiöse Bewußtsein der abendländischen Elite der Flutwelle des Satanismus auf lange Zeit nichts mehr entgegenzusetzen hat“ (Delumeau, 1989, S. 359). Eine eingehende Betrachtung der „Göttlichen Komödie“ würde den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen, aber da sie in einer Arbeit über die Hölle nicht fehlen darf, sei sie an dieser Stelle des Überganges zur Höllischen Nacht kurz behandelt.
Dante Alighieri, 1265 in Florenz geboren, schuf mit seinem Werk den „Höhepunkt der klassischen Geschichte der Hölle, … Resultat und Krönung einer langen Reifezeit. Wie Reims und Amiens die Perfektion der gotischen Klassik symbolisieren, so ist Dantes Hölle die Kathedrale des Bösen, das unterirdische Meisterwerk mit umgekehrtem Aufbau, das Ergebnis einer langen Reflexion über die Verdamnis“ (Minois, 1996, S. 224). Mit Dantes Dichtung ist die Ausmalung der Hölle „am Ende: neue Elemente tauchen nicht mehr auf“ (Vorgrimler, 1993, S. 191). Die „Göttliche Komödie“ wurde durchaus nicht nur als Dichtung angesehen, sondern „unter der stillschweigenden Vorraussetzung der Wissenschaftlichkeit, der Zuständigkeit für die Regionen Himmel, Hölle, Purgatorium“ (Ross, 1986, S. 56), sie galt „als Schilderung einer visionären Jenseitsreise“ (Vorgrimler, 1993, S. 175).
Minois bezeichnet Dantes Höllenvision nicht nur als Synthese aus volkstümlicher und theologischer, sondern auch als Verschmelzung von mythologischer und christlicher Hölle. „Die bisher besuchten Höllen waren ein Chaos mit einer wirren Topographie, … Qualen und widersprüchliche Geschichten, ohne jeglichen Zusammenhang. … Die Höllenfauna war bunt zusammengewürfelt aus Drachen, monströsen Untieren, echten Tieren und Dämonen. Die Strafen waren zwar je nach der Verfehlung unterschiedlich, hatten jedoch kaum eine Beziehung zu der Art der begangenen Sünden. Dante organisiert, strukturiert, klassifiziert und ordnet. … Dantes Hölle ist ein riesiges intellektuelles Gebäude nach dem Bild der theologischen Summen seiner Zeit. Er ist ein visionärer Thomas von Aquin; beide klassifizieren sie und ordnen ein, der eine die Bilder, der andere die Ideen. … Die Summa und die Hölle sind rationale Gebilde und unabweisbar, sobald man ihre Prämissen anerkennt“ (Minois, 1996, S. 211-212).
Die „Göttliche Komödie“ des Dante, die „gewiß religiöse Absichten verfolgt, … [will aber] primär Dantes politische Auffassung zur Geltung bringen und Abrechung mit seinen Gegner halten…“ (Vorgrimler, 1993, S. 175): „Was beim Inferno im Vergleich zu Texten und bildlichen Darstellungen früherer und späterer Zeiten auffällt, ist die enorme Erden-, Menschen-, Zeitgenossennähe“ (Ross, 1986, S. 57). Dante benannte die Sünder namentlich. Etwas, das die offizielle kirchliche Lehre nie tat: „Diese hat nie einen Menschen namentlich und mit Gewißheit in die Hölle versetzt“ (Vorgrimler, 1993, S. 190). Minois sagt dazu, „daß der Dichter die Sünden mit der Hölle bestraft und die Personen nur als Beispiel zitiert“ (Minois, 1996, S. 219).
Ich denke, daß sich Dantes Hölle durch diese „Erd- und Menschennähe“ in den von mir beschriebenen Prozeß der Konkretisierung der „Finsternis draußen“ einfügen läßt. Denn dadurch, daß die Verdammten nicht anonym bleiben, sind sie den Rezipienten der „Göttlichen Komödie“ vertrauter, und so wird auch die Hölle zu einer konkreter faßbaren Realität.
Was die Beziehung zwischen der Hölle und der Nacht betrifft, so beginnt die „Göttliche Komödie“ Dantes zur Nachtzeit. Dante hatte sich des Nachts in einem dunklen Wald, dem Wald der Sünde, verirrt. Dort kam ihm der Geist Vergils zur Hilfe, der Dante das Angebot machte: „Am besten scheint es mir an deiner Stelle,/ Daß du mir folgst; ich will dein Führer sein/ Und mit dir wandern durch die ewige Schwelle…“ (Dante, 1957, I. Gesang, S. 10). Vergil ging daraufhin weg, Dante schloß sich ihm an, und : „Der Tag verging; das Dunkel brach herein“ (Dante, 1957, II. Gesang, S. 11).
Die Jenseitsreise selbst beginnt allerdings nicht in der Nacht, sondern am „Karfreitag-morgen des Jahres 1300“ (Vorgrimler, 1993, S. 176). Ich denke jedoch, daß Dante, da er die „Göttliche Komödie“ zur Nachtzeit im Wald der Sünde beginnen läßt, auf den Abstieg des Aeneas in die Unterwelt anspielt. Denn dort – vor dem eigentlichen Tor der Unterwelt – lauern lauter unheilvolle, allegorische Gestalten, durch die sich – wie Minois schreibt – die Hölle auf Erden fortsetzt. Und Dante wird – wie Aeneas – an dieser Stelle seiner Reise angegriffen: Ihn bedrohen „drei Tiere…, die die drei Laster verkörpern“ (Dante, 1957, Anmerkungen S. 479): Wollust, Hochmut, Habgier. Dante könnte hiermit also den Übergang der eigentlichen Hölle auf die Erde gemeint haben: Die Sünde wäre demnach die Verbindung zwischen den lebenden Menschen und den Mächten der Hölle, die durch die Sündhaftigkeit der Menschen ihren Machtbereich auf die Erde ausweiten.
Die Hölle selbst ist für Dante „Kälte, Hitze und ewige Nacht“ (Dante, 1957, S. 18). So spricht er z.B. vom tiefen Abgrund „und des Tals des Leiden,/Das grenzenlosen Jammers Tosen bannt./In Nacht und Nebel lagen seine Weiden“ (ebd., S. 20), von lichtverstummten Gründen, finsteren Gestaden, der „Nacht hienieden“ (ebd., S. 27) und „finsteren Zonen“ (ebd., S. 29).
Als er und Vergil in den untersten Kreis der Hölle gelangen, stellt Dante angesichts dessen, was er da sieht, mittels eines Vergleichs eine Verbindung zur Nacht als irdischer Tageszeit her: „Wie aus Distanz, wenn dichter Nebel weht,/Und wenn die Nacht beginnt in unseren Landen…“ (ebd., S. 151). Alles in allem aber scheint mir die Nacht, wie die Finsternis, in der „Göttlichen Komödie“ ein illustrierendes Detail zu sein, welches den traditionellen Hintergrund für die Strafen und Qualen liefert. Die Nacht oder die Finsternis als Zeichen der Gottferne tritt meiner Ansicht nach bei Dante hinter die Ausmalung der Höllenqualen zurück.
Bevor ich nun aber zur Nacht als der höllischen Tageszeit komme und meine Hausarbeit mit der Betrachtung der „höllischen Nacht“ abschließe, möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen, den ich bereits im ersten Kapitel erwähnt habe: nämlich auf den Aspekt, daß – laut Le Goff – die Reise ins Jenseits in den Apokalypsen und in den mittelalterlichen Visionen vor Sonnenaufgang beendet sein müsse, sie also in der Nacht stattfinde. Einige Beispiele solcher Reisen werde ich nun anführen:
In der Paulus-Apokalypse, die ebenfalls wie die Petrus-Apokalypse auf einen unbekannten Verfasser zurückgeht und deren einflußreichste Fassung aus dem 4. Jahrhundert stammt, wird „Paulus“ die Hölle gezeigt: „Paulus“ reist, getragen von einem „Deute-Engel“ (Vorgrimler), „nach Sonnenuntergang zu… und es war nicht Licht an jenem Orte, sondern Finsternis und Traurigkeit und Betrübnis…“ (Paulus Apokalypse, zit. nach Vorgrimler, 1993, S. 107). Die Reise des „Paulus“ in Richtung Hölle geht ‘gen Sonnenuntergang, also in die Nacht.
In der „Vision des heiligen Fursy“, aufgeschrieben im Jahre 735, ist geschildert, wie Fursy krank wurde und ein Gesicht hatte, denn seine Seele hatte den Körper „vom Abend bis zum ersten Hahnenschrei“ (Beda, zit. nach Le Goff, 1984, S. 139), also in der Nacht, verlassen.
Die „Vision des Drythelm“ schildert die Jenseitsreise des Drythelm, der schwerkrank wurde und eines Abends starb. „Im Morgengrauen erwachte er wieder zum Leben…“ (Le Goff, 1984, S. 140), und später erzählte er dann, was er während der Nacht gesehen hatte.
Die „Vision des Wetti“ berichtet, wie der Mönch Wetti mit geschlossenen Augen krank in seiner Zelle ruhte. Er schlief aber nicht. Nachdem ihm zunächst Satan erschienen war, den aber lateinisch sprechende Engel vertrieben, zeigte ihm ein Engel das Jenseits. Nach einer langen Rede des Engels über die Laster der Welt, erwachte Wetti bei Tagesanbruch und diktierte einem Bruder seine Vision.
In der „Vision Karls des Dicken“ wird Karl als er sich „in einer heiligen Sonntagnacht nach der nächtlichen Gottesdienstfeier zur Ruhe legte und schlafen wollte…“ (zit. nach Le Goff, 1984, S. 146) im Geiste ins Jenseits, auch in die Hölle, entführt.
Ausgehend von einer Legende des 5. Jahrhundert heißt es vom „Fegefeuer des heiligen Patrick“, eine „noch heute im Mittelpunkt einer irischen Wallfahrt stehende Grube…, in der sich Sünder läutern könnten“ (Vorgrimler, 1993, S. 169): „Wer es wagt, eine Nacht in einem dieser Löcher zu verbringen, wird von bösen Geistern ergriffen und verbringt die Nacht in furchtbaren Qualen in einem unauslöschlichen Feuer, so daß man ihn am nächsten Morgen halbtot wiederfindet. Es wird erzählt, daß man von den Höllenstrafen nach dem Tode verschont bleibt, wenn man sich, um bereits in diesem Leben Buße zu tun, jenen Martern unterzieht, es sei denn, man begeht danach von neuem schwere Sünden“ (Le Goff, 1984, S. 241).


Drittes Kapitel

Die höllische Nacht

Begegnete uns die Nacht bisher vor allem im Motivkreis der Finsternis, als Äußerlichkeit der Hölle, als Metapher für den Tod und die Distanz zu Gott, so wird sie nun, da sich die Finsternis der Hölle – wie gezeigt wurde – zu realen, wirkmächtigen Wesenheiten konkretisierte, zur Tageszeit, in der die Mächte der Finsternis ihre Schrecken auf die Welt des christlichen Abendlandes ausüben.
Jean Delumeau beginnt sein Buch „Angst im Abendland“ damit, daß er – Montaigne zitierend – beschreibt, wie schwer es im 16. Jahrhundert war, „des Nachts Augsburg zu betreten…: vier große, aufeinanderfolgende Tore, eine Brücke über einen Graben, eine Zugbrücke und eine eiserne Schranke scheinen nicht zuviel eine Stadt von 60000 Einwohnern, die zu jener Zeit die einwohnerreichste und wohlhabendste Stadt Deutschlands ist, gegen jede Überraschung abzusichern. In einem Land, das religösen Streitigtkeiten ausgesetzt ist, während der Türke um die Grenzen des Reiches streicht, ist jeder Fremde verdächtig, vor allem bei Nacht“ (Delumeau, 1989, S.10-11).
Delumeau bezeichnet die Zeit zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert als „eine Periode gesteigerter Angst…, während der Europa in besonderem Maße von Schicksalsschlägen heimgesucht wurde, die eine nachhaltige geistige Erschütterung bewirkten: der >Schwarze Tod<, der 1348 die jähe Rückkehr tödlicher Epidemien markiert, die Aufstände, die vom 14. bis 17. Jahrhundert nacheinander in den verschiedenen Ländern ausbrechen, der endlos erscheinende Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich,… das Vordringen der Türken, das >Große Schisma< – der Skandal der Skandale -, die Hussistenkriege, der moralische Niedergang des Papsttums vor seiner Erneuerung durch die katholische Reformbewegung, die Abspaltung der Protestanten mit all ihren Folgen: gegenseitige Exkommunikation, Massaker und Kriege“ (Delumeau, 1989, S. 311). „In weiten kirchlichen Kreisen schrieb man die Zustände dem Ausbruch des Teufels und seiner Dämonen aus der Hölle zu. Die religiösen Aggressionen wurden auf Fremde und physisch schwache Minderheiten gelenkt: Muslime, Juden und Frauen (>Hexen<) galten als Agenten des Satans“ (Vorgrimler, 1993, S. 215). Daß im allgemeinen Bewußtsein die finsteren Mächte der Hölle bevorzugt in der Nacht die Menschen angriffen, liegt sicherlich auch in der uralten Angst des Menschen in der Dunkelheit begründet: „Angst in der Dunkelheit empfanden die ersten Menschen, die nachts den Angriffen der wilden Tiere [und bestimmt auch anderer Menschen] ausgesetzt waren, ohne daß sie sie in der Dunkelheit heranschleichen sahen. Sie mußten durch Feuer diese >objek-tiven< Gefahren fernhalten. Diese jeden Abend von neuem erwachenden Ängste haben die Menschheit zweifelsohne vorsichtig gemacht und sie gelehrt, die heimtückischen Gefahren der Nacht zu fürchten“ (Delumeau, 1989, S. 128). Für Delumeau ist es mehr als wahrscheinlich, daß diese >objektiven Gefahren< durch ihre Häufung im Lauf der Zeit die Menschen veranlaßt haben, „die Nacht mit >subjektiven Gefahren< zu bevölkern. So konnte die Angst in der Dunkelheit sich als Angst vor der Dunkelheit intensivieren und verallgemeinern“ (Delumeau, 1989, S. 129). Die über Jahrtausende gemachte Erfahrung, daß in der Nacht Gefahren lauern, bewirkte so, daß ein Unbehagen der Menschen vor der Nacht entstand, denn in „ihrem Schoß schmiedeten die Feinde der Menschen Pläne zu deren physischen und moralischen Verderben“ (Delumeau, 1989, S. 125). Dieses Unbehagen vor der Nacht fand seinen Ausdruck auch in der Ausmalung einer Totenwelt und dann einer jenseitigen Strafhölle, die wie eine „ewige Nacht“ sei. Auch daß die Menschen sich die Bösen als „finstere“ Gestalten vorstellen, hängt – so denke ich – mit diesem Unbehagen zusammen, denn „ehrliche Leute treiben sich um diese Zeit nicht draußen in der Finsternis herum“. Und „der böse Feind macht sich … die Nacht zunutze, um den Menschen, der durch das fehlende Tageslicht anfälliger dafür geworden ist, zu Sünde und Unrecht zu verleiten“ (Delumeau, 1989, S. 138). Schon früh gehörten zu den Gefahren der Nacht auch Feinde aus dem Jenseits. So war die Nacht im Aberglauben der Völker „die Zeit der Geister und des Zaubers, besonders die Stunde von 12 bis 1 Uhr, sonst gewöhnlich die Zeit bis zum ersten Hahnenschrei oder bis zum Sonnenaufgang“ (HdA, Spalte 776). Da sich die Menschen die Hölle „wie die Nacht“ vorstellten, und den Ort der Bösen und das Böse mit den Attributen der Dunkelheit und Finsternis und den „objektiven Gefahren“, die die Nacht für sie besaß, ausmalten, lag es nahe, die Nacht zur bevorzugten Zeit des personifizierten Bösen zu machen: war es zuvor das wilde Tier, etwa der Wolf, so war es nun der Teufel z.B. in Wolfsgestalt, welcher in der Nacht die Menschen ängstigte. So war aus dieser Tageszeit, vor und in der die Menschen Angst hatten, auch die Zeit des Teufels, des finsteren Bösen des christlichen Glaubens geworden, die Zeit, zu der er die Hölle verläßt, um das Seelenheil der Menschen zu verderben. So hat sich die Angst, die der Mensch vor der Nacht empfand, in einem Jenseits des Todes, welches er sich finster, unsicher und erschreckend „wie die Nacht“ vorstellte, zu einer Vorstellung von bösen Wesenheiten verdichtet, die dem alten Schrecken der Nacht ein neues Gesicht geben und die Angst mehren. Denn: „Der christliche Kartograph lokalisiert das Böse in der Hölle, aber auch er weiß, daß es zwischen Hölle und Erde mehr Wege und Eintrittspforten gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt. … Kriege und Seuchen, Klimaeinbrüche und katatrophale Mißernten waren als Geißel der Menschheit bekannt und gefürchtet: Nun aber wurde das Übel, jene dunkle Kraft selbst – als Ursache all dieser Geißeln – in >purer< Personifikation an das Tageslicht gezerrt. Der Pesthauch des Bösen verdichtete sich – die Wurzel allen Übels wird identifiziert in der Gestalt der >Bündnispartner< des Leibhaftigen: der Hexen und Zauberer, der Kundigen und Künder der schwarzen Magie“ (von Radhen, 1993, S. 28).
Außerdem ist in der Nacht „der Teufel am mächtigsten … In seiner ganzen Herrlichkeit und Größe zeigt sich der Teufel bei den nächtlichen Zusammenkünften der Hexen, die jede Mittwoch- und Freitagnacht, besonders aber in der Walpurgisnacht …stattfinden. … In der Nacht verrichten die Hexen auch ihre schädlichen Werke, und nur nachts können sie Tiergestalt annehmen…“ (HdA, Spalte 777-778).
Der Tatsache, daß vor allem Frauen nachgesagt wurde, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, liegt eine lange Geschichte der Diskriminierung der Frau und der Angst der Männer vor den Frauen zugrunde. „Zwar gab es auch Männer, die zaubern konnten, und auch sie mußten mit dem Teufel im Bunde stehen. Aber sie wurden nur angeklagt und verfolgt, wenn sie mit den Hexen gemeinsame Sache machten. Meistens standen sie im hohen Ansehen … [Denn die] Männer hatten sich ihre Zauberkunst durch lebenslange planmäßige Schulung erworben. Und der Teufelspakt, für den man allerdings auf sein Seelenheil verzichten mußte, war eine willkommene Möglichkeit, tiefere, dem Menschen sonst verschlossene Einsichten in die Natur zu bekommen. Die Frau aber hatte mit Geistigkeit und Intelligenz nichts zu tun. Sie galt als primitiv, kreatürlich und wurde eher mit dem Tier als mit ihrem Mann verglichen. Primitiv und animalisch mußten deshalb auch ihre Beziehungen zum Bösen sein. Vertrauensselig, neugierig und geil öffnete sie ihm Tür und Tor. Und weil ohnehin die Sexualität als Haupteinflußbereich des Teufels galt, hatte er hier leichtes Spiel“ (Haag, 1974, S. 155).
Der Mann beschuldigte die Frau, „…die Sünde, das Unglück und den Tod in die Welt gebracht zu haben. … Der Mann hat einen Verantwortlichen für das Leiden, den Mißerfolg, das Verschwinden des irdischen Paradieses gesucht und die Frau gefunden. … Die Höhlung des weiblichen Geschlechts ist zum Höllenschlund geworden“ (Delumeau, 1989, S. 461).
Die Frau galt von alters her, als die, die das Leben schenkt und den Tod bringt, die „Erdmutter ist der nährende Schoß, aber auch das Totenreich“ (Delumeau, 1989, S. 459). Eine Äußerung Simone de Beauvoirs über die Angst des Mannes vor dieser „Zweideutigkeit“ (Delumeau) der Frau führt uns nach diesem Exkurs zur „höllischen Nacht“ zurück: „So ist das Antlitz der Mutter Erde in Finsternis gehüllt … Sie ist das Chaos, aus dem alles hervorgegangen ist und in das alles eines Tages wieder zurückkehren muß. (…) Nacht herrscht in den Eingeweiden der Erde. Dies Dunkel, in das der Mensch zu versinken droht und das die Kehrseite der Fruchtbarkeit ist, erfüllt ihn mit Grauen“ (zit. nach Delumeau, 1989, S. 459).
Bei dieser Nähe der Frau zu der Finsternis der Hölle verwundert es nicht, daß es vor allem die Frauen waren, denen vorgeworfen wurde, bei nächtlichen Zusammenkünften Verkehr mit dem Teufel zu haben. „Der Sabbat oder die nächtlichen Versammlungen, deren die Hexen in den Prozessen beschuldigt wurden, ist ein … bevorzugtes Thema der Hexenankläger“ (di Nola, 1990, S. 288), da sie glaubten, daß die Hexen im Rahmen dieser nächtlichen Zusammenkünfte einen Pakt mit dem Teufel abschlössen. Dadurch unterschieden sie sich von den unfreiwillig vom Teufel Besessenen. Die Hexe „ist nicht Opfer des riesigen Heers von Dämonen, das die schwache menschliche Kreatur umlauert; vielmehr ist sie Protagonistin eines gefährlichen und verabscheuungswürdigen Unternehmens, denn sie sucht eine persönliche Beziehung zur Welt des Bösen und stellt, aus Haß auf die Welt und auf ihre Mitmenschen, Körper und Seele in den Dienst des Teufels, um so in den Besitz einer vergänglichen, aber schrecklichen Macht zu gelangen“ (di Nola, 1990, S. 283).
An dieses „riesige Heer von Dämonen“, welches im Dienste des Teufels die Menschen zu verderben suchte, glaubten nicht nur die Katholiken: Luther „war jedesmal, wenn er auf ein Hindernis stieß, einen Gegner oder eine Institution bekämpfte, davon überzeugt, es mit dem Teufel zu tun zu haben“ (Delumeau, 1989, S. 365).
Speziell über Deutschland schreibt Delumeau, daß in diesem Land, in dem sich die Faust-legende entwickelte, die Einwohner fest daran glaubten, daß Lucifer König sei. Er führt daran anschließend an, daß dieses Gefühl nicht so ausgeprägt gewesen wäre, „wenn nicht Theater und vor allem Buchdruckerkunst jene Angst und zugleich auch einen morbiden Gefallen am Satanismus verbreitet hätten … durch dicke Bände, aber auch durch volkstümliche Schriften. … Broschüren und Flugblätter gab es wie Sand am Meer. Hausierer, wandernde Magier und Teufelsaustreiber verkauften Druckwerke; … sie deuteten Träume, gaben Verbrechen und Schauergeschichten zum besten… [Es] wimmelte … von Geschichten über Besessene, Werwölfe und Teufelserscheinungen. Dies war im 16. und frühen 17. Jahrhundert Deutschlands täglich Brot“ (Delumeau, 1989, S. 366-369). Aber die gesamte europäische Kultur hat – laut Delumeau – „zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert die beunruhigende Seite der Nacht … aufgewertet, und zwar in dem Maße, in dem sie mit geradezu krankhafter Vorliebe Nachdruck auf die Hexerei, den Satanskult und die Verdamnis legte. Man glaubte, daß die meisten Hexensabbate im Schutz der Nacht veranstaltet wurden, da Sünde und Dunkelheit zusammengehören. … So scheint die europäische Kultur an der Schwelle zur Neuzeit einer wachsenden Angst vor der Dunkelheit nachgegeben zu haben…“ (Delumeau, 1989, S. 133-134).

Schluß

Wie Brittnacher in seinem Buch über die „Ästhetik des Horrors“ schreibt, überschwemmten aber selbst um 1800 noch die „… nicht in Hunderten, sondern in Tausenden zu zählenden Schauer- und Geheimbundromane, Gespenstergeschichten, Erzählungen von übersinnlichen Begebenheiten und Traktate zu okkulten Lehren … den Markt“ (Brittnacher, 1994, S. 64).
Doch zu dieser Zeit trat die Aufklärung der „Angst vor der Dunkelheit“ (Delumeau, 1989, S. 134) entgegen. Durch das Wirken der Aufklärung, die sich, wie Kant es ausdrückte, als Befreiung vom Aberglauben verstand, wurde sowohl der traditionellen Höllenvorstellung als auch der „höllischen Nacht“ – wie sie hier als die Zeit der Übergriffe des Bösen dargestellt wurde – der „>wissenschaftliche< Boden [entzogen]… Aber auch wenn die dämonologische Frage wissenschaftlich >erledigt< schien, sie beschäftigte gleichwohl das Alltagsbewußtsein, die Phantasien und die Träume. Nach der Vertreibung des Bösen aus den Wissenschaften durch die Wissenschaften haben die Künste ihm Zuflucht gewährt“ (von Rahden, 1993, S. 41). Allerdings begegne der Dichtung, die im 17. und 18. Jahrhundert die Hölle thematisierte, etwa Miltons „Paradise Lost“ von 1667 oder das II. Buch von Klopstocks „Messias“ von 1748, – laut Vorgrimler – der „Spott der Aufgeklärten…“ (Vorgrimler, 1993, S. 371). Neben der krassen Kritik von Aberglauben und traditioneller Religion überhaupt fände sich – wie Vorgrimler ausführt – jedoch auch ein tiefes Nachdenken über das, was Hölle sein oder was mit dem Wort Hölle gemeint sein könnte Vorgrimler führt hier als Beispiel die Dichtung Jean Pauls an, der nicht die Realität der Hölle negiere, sondern sie in dem Sinne umdeute, daß die Grundelemente der Hölle nicht mehr Schuld und Strafe seien, sondern „die Ängste vor dem Sterben und daraus stammende Vernichtungsvisionen. Jean Pauls >Traum von der Hölle<, nur zur Hälfte fertiggestellt, sucht die Hölle zu beschreiben, die nicht ein jenseitiger Ort, sondern die Welt im Zustand wachsender Vernichtung ist“ (Vorgrimler, 1993, S. 371). Und so nenne Jean Paul, wie Vorgrimler an dieser Stelle schreibt, seinen „dunkelsten Nachtgedanken“, „daß der Tod […] mir meine teure Geliebte aus den ohnmächtigen Händen ziehe…“ (Vorgrimler, 1993, S. 372).
Ich denke, daß sich anhand der Gedanken Jean Pauls zur Hölle, so wie sie hier skizziert sind, ein Bogen von den Anfängen der Höllenvorstellungen im Alten Testament bis hin zu der Angst vor der Nacht, aus deren Dunkel heraus das Böse die Welt zu verderben droht, spannen läßt: Denn es war die Angst vor dem Tod – Jean Pauls „dunkelster Nachtgedanke“ -, die im Verbund mit der Dunkelheit des Grabes die Ursprünge der Höllenvorstellung des Alten Testamentes prägte: die Vorstellung einer Totenwelt „so finster wie die Nacht“ (Ijob, zit. nach Grübel, 1991). Diese Totenwelt entwickelte sich zu dem jenseitigen Strafort Hölle und dem von Angst geprägten Glauben an die „höllische Nacht“, einer Vorstellung, an die Jean Pauls Beschreibung einer nun seiner jenseitigen Wurzeln beraubten Hölle als „Welt im Zustand wachsender Vernichtung“ (Vorgrimler, 1993, S. 371) anzuknüpfen scheint.
Auch Nietzsche knüpft meiner Meinung nach an christliche Traditionen an, wenn er, die äußerste Konsequenz der Aufklärung – die Heraufkunft des Nihilismus – illustrierend, den „tollen Menschen“ verkünden läßt, daß Gott tot sei und: „…Was thaten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen?… Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?…“ (Nietzsche, KSA 3, S. 481).
Daß, was Nietzsche beschreibt, ist meiner Meinung nach die ins Äußerste gesteigerte Distanz zu Gott: Nicht nur die Toten, wie im Alten Testament, oder die Bösen, wie im Christentum, befinden sich in der „Nacht“, sondern alle Menschen, ja, die ganze Erde. Und Gott ist nicht nur abwesend, wie in der Hölle verstanden als „Finsternis draußen“, sondern tot. Sogar mehr noch als tot, nämlich ermordet, denn: „Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!“ (Nietzsche, KSA 3, S. 481).
Auch der zweifelnde, verzweifelte Faust in Goethes Dichtung befindet sich zu Beginn seiner Tragödie – wie die Regieanweisung sagt – in der Nacht. In Goethes Dichtung findet auch die „höllische Nacht“ im engen Sinne an mehreren Stellen ihre Aufnahme: als die Zeit, in der das Böse bevorzugt in Erscheinung tritt: Faust beschwört in der Nacht den Erdgeist, dessen Anblick er nicht erträgt. In einer Nacht erscheint ihm Mephistopheles, und in eben dieser Nacht schließt Faust seinen Pakt mit dem Teufel. Die eher volkstümliche, derb-sexuell aufgeheizte Walpurnisnacht im ersten Teil des „Faust“ findet ihre klassische Variante im zweiten Teil.
Aber auch im „Erlkönig“ ist die Tradition der „höllischen Nacht“ zugegen. In dieser Dichtung erscheint das Böse, der Tod, ebenfalls in der Nacht. Die „Höllische Nacht“ ist zum Beipiel auch in Goethes Gedicht „Der Totentanz“ aufgenommen, in dem ein Türmer zur Mitternacht die Toten aus ihren Gräbern heraussteigen sieht.
In unserem Jahrhundert wählt z.B. Camus, um das Absurde der menschlichen Existenz, ihre metaphysische Sinnlosigkeit, zu verdeutlichen, den Mythos des Sisyphos, der einer der Frevler war, die in der dunkelsten Tiefe der antiken Unterwelt gequält wurden.
Diese Beispiele aus der anspruchvollen Literatur zeigen, daß die in dieser Hausarbeit herausgearbeitete gemeinsame Geschichte der Hölle und der Nacht nicht mit dem Wirken der Aufklärung ihr Ende fand. Fortgeführt wurde sie auch in den vielen Werken „der Nachtseite der Literatur“ (Brittnacher, 1994, S. 7) über Vampire, Werwölfe, Gespenster und andere teufliche Wesen der Nacht, wie z.B. in den Bestsellern der Anne Rice über Vampire wie „Der Fürst der Finsternis“ oder „Interview mit einem Vampir“, welcher auch als Verfilmung ein großer Publikumserfolg war. Die „höllische Nacht“ findet sich aber auch in vergleichsweise trivialen Filmen wie „Freitag der 13.“ oder „Halloween“, in denen ein Untoter mit einer Maske vor dem Gesicht nächtens die restlichen Figuren des Filmes massakriert, bis er am Ende zurück in die Hölle geschickt werden kann, wo er anscheinend auf die nächste Fortsetzung der Spielfilmreihe wartet.
So war zwar die Angst des Menschen vor den ihm feindlichen Kräften der Auslöser dafür, daß Hölle und Nacht zu einem gemeinsamen Zeichensystem verschmolzen. Aber das morbide Gefallen an der Darstellung des Bösen scheint mir zu einem nicht geringen Teil die Ursache für das Auf- und Weiterleben der „höllischen Nacht“ zu sein. Ein anderer Grund dafür mag gewesen sein, daß sich die „Befreier vom Aberglauben“ Aufklärer nannten, also das Aufzuklärende im Bereich des Dunkeln ansiedelten. So wurde die Lichtsymbolik des Christentums beibehalten, und all das, was als das Böse identifiziert wurde, konnte weiterhin mit Metaphern aus dem Vorstellungsbereich der „Höllischen Nacht“ bezeichnet werden. Dieses Zeichensystem verlor zwar im Bewußtsein der Menschen durch das Wirken der Aufklärung seine metaphysische Glaubwürdigkeit, es verlor aber nicht seine ursprüngliche Bedeutung: Weiterhin konnten mit ihm Dinge versinnbildlicht werden, die die Menschen ängstigen.
So heißt es noch heute, wenn von bösen Erinnerungen die Rede ist, daß „einen Gespenster aus der Vergangenheit quälen“, oder von dem Bösen, zu dem der Mensch fähig ist, es sei seine „dunkle Seite“, seine „Nachtseite“. Und erinnert nicht die Straßenbeleuchtung in unseren Städten und Dörfern an das Licht des Glaubens, und daran, daß auch unsere säkularisierte Kultur ihre „ höllische Nacht“ kennt?

 

Literaturverzeichnis

ARIES, PHILIPPE (1989): Geschichte des Todes, München (Deutscher Taschenbuch Velag), 4. Auflage.
BRITTNACHER, HANS-RICHARD (1993): „Der Leibhaftige. Motive und Bilder des Satanismus“, in: Schuller, Alexander; von Rahden, Wolfert (Hrsg): Die andere Kraft : Zur Renaissance des Bösen, Berlin (Akademie-Verlag), S. 167-192.
BRITTNACHER, HANS-RICHARD (1994): Ästhetik des Horrors, Frankfurt am Main (Surkamp Taschenbuch).
DAEMMRICH, HORST S. (1995): Themen und Motive in der Literatur : ein Handbuch, Tübingen ( UTB für Wissenschaft : Uni-Tashenbücher), 2., überarb. und erw. Auflage.
DANTE ALIGHIERI (1957): Die göttliche Komödie, München (Winkler-Verlag).
DAXELMÜLLER, CHRISTOPH (1996): Aberglaube, Hexenzauber; Höllenängste : Eine Geschichte der Magie, München (Deutscher Taschenbuch Verlag).
DELUMEAU, JEAN (1989): Angst im Abendland : Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.bis 18. Jahrhunderts, Reinek bei Hamburg (Rowohlt Taschenbuch Verlag).
DIE BIBEL (revidierter Text 1975), nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart (Deutsche Bibelgesellschaft).
DiNOLA, ALFONSO (1990): Der Teufel : Wesen, Wirkung, Geschichte, München (Eugen Diederichs Verlag).
FRENZEL, ELISABETH (?): Motive der Weltliteratur, Stuttgart (Alfred Kröner Verlag).
GOETHE (1989): Faust I u. Faust II, in: Johann Wolfgang Goethe Werke, Sechster Band, Frankfurt am Main (Insel Velag).
GRÜBEL, ISABEL (1991): Die Hierarchie der Teufel, Kulturgeschichtliche Forschungen Bd. 13, München (tuduv-Verlagsgesellschaft).
HAAG, HERBERT (1974): Teufelsglaube, Tübingen (Katzmann-Verlag).
HdA, Band IV (1931/32) = Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Stäubli, Hanns- Bächtold unter Mitwirkung von Hoffmann-Krayer, E., Berlin und Leipzig (Walter De Gruyter & Co.).
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KANT, IMMANUEL (1963): Kritik der Urteilskraft, Stuttgart (Philipp Reclam Jun.).
MINOIS, GEORGES (1996): Die Hölle : Zur Geschichte einer Fiktion, München (Deutscher Taschenbuch Verlag).
NIETZSCHE, FRIEDRICH (1988): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1-15, Hg. von Colli, Giorgio u. Montinari, Mazzino, München (Deutscher Taschenbuch Verlag).
ROSS, WERNER ( 1986): „Himmel und Hölle in der Literatur“, in: Greshake, Gilbert (Hrsg): Ungewisses Jenseits? : Himmel – Hölle – Fegefeuer, Schriften der katholischen Akademie in Bayern Bd. 121, Düsseldorf (Patmos Verlag), S. 55-71.
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VORGRIMLER, HERBERT ( 1993): Geschichte der Hölle, München (Wilhelm Fink Verlag).

Quelle des Beitrags:

Seminar (Deutsche Literatur):
„Die Nacht“
Universität Konstanz
Philosophische Fakultät
Fachgruppe Literaturwissenschaft
„Die höllische Nacht“
Hausarbeit vorgelegt von: Ralf Boscher
im Sommersemester 1996

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Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen

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„Jetzt wird der Krebs wieder konkret. So konkret, wie er seit der OP und seitdem die Operationswunde verheilt ist, nicht mehr gewesen war. Es hatte keine Schmerzen mehr gegeben. Keine Zeichen dafür, dass etwas in einem ist. Der Krebs als reale Möglichkeit, als eine Aufgabe, die einer Lösung harrt, als eine Frage, die nach einer Antwort verlangt, war zwar da. Doch mehr schwarz auf weiß als im bunten Alltag. Man las von ihm, spürte ihn aber nicht. So schien er mehr eine andere, eine dritte Person zu betreffen, als einen selbst. Man hätte ihn vergessen können…

Nun aber kehrt der Krebs in den Alltag zurück. Die Zeit, in der ich Verstand und Herz disziplinieren musste, um für eine Entscheidung, mit der ich mein restliches Leben würde leben können, den nötigen Abstand zu gewinnen, ist vorbei. Keine Dritte Person mehr. Kein Überlegen, informieren, abwägen. Ab jetzt ist nicht mehr Urteilsvermögen gefragt, sondern Durchhaltewillen. Ich.

Und ich will eine positive Einstellung an den Tag legen. Alles ist gut. Das Misstrauen, dass sich seit dem Tag der Hoden-OP vor allem gegenüber Ärzten aufgebaut hatte, will ich vergessen. Mein Gang in die Klinik soll ein Sprung ins Vertrauen sein. Für mich ist gut gesorgt. Und ich sorge gut für mich. Ich habe gelesen, dass Rauchen die Wirkung der Zytostatika behindert, ja verringert, also nehme ich mir fest vor, während der Chemo keine Zigaretten anzupacken.

Und so geht es in die Klinik. Cisplatin (P), Etoposid (E) und Bleomycin (B) – dies sollen nun meine besten Verbündeten gegen ein erneutes Tumorwachstum sein. Ein wahrlich wirkungsvolles Trio aus der pharmazeutischen Giftküche – und in ihrem Zusammenwirken dafür verantwortlich, dass die Sterblichkeitsrate bei Hodenkrebs seit Jahren so beruhigend stark gesunken ist. My deadly Friends.(per E-Mail)

Ich hatte ihn während seiner Chemo nur zweimal kurz am Telefon gesprochen, dann hatte er aufgelegt. „Zu anstrengend!“ Besuche wollte er überhaupt nicht erhalten. Am Abend des ersten Tages seiner Chemo postete er einen kryptischen, nur für Eingeweihte verständlichen Statusbericht auf Facebook. Dann und wann verschickte er eine sms an seine Freunde mit einem Kürzestbericht zum Stand der Dinge. Angesichts dessen, dass sein Kommunikationsbedürfnis so extrem heruntergefahren war, erstaunte mich dann doch die E-Mail, die ich von ihm erhielt: „Ich bin auf deinen Spuren gewandelt.“, schrieb er mir, „Hab mich einfach an den PC gesetzt und geschrieben. Hatte schon das Gefühl zu verblöden, so sehr schlug die Chemo auf meine Konzentration. Da war das Schreiben für mich wie so eine Art „Gehirn-Walking“. Und wenn dir das Ergebnis einigermaßen sinnig erscheint, kannst du auch diesen letzten Teil meiner Krebsgeschichte gern auf deinem Blog posten. Vielleicht ist das für den einen oder anderen ja interessant.“ Hier also der von mir mit Bildmaterial ausgestattete letzte Teil der Hodenkrebsgeschichte meines alten Freundes in seinen eigenen Worten.

Zum Hintergrund:

1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie

I. Der stationäre Teil meiner PEB Chemo

PEB_Plan_www.urologielehrbuch.de

PEB Chemotherapieplan, Quelle: http://www.urologielehrbuch.de/PEB.html

 

Eröffnungsveranstaltung sehr gut gelaufen!
„Friendly Poison“ – eine Themenwoche, die unter die Haut geht!
Publikum und Veranstalter zeigten sich nach der gestrigen Premiere äußerst zufrieden.
„Der Anfang war ein wenig kribbelig, aber das ist normal. Es gilt erst einmal einen Zugang zum Thema zu finden – und der liegt nun einmal nah am Herzen.“
„Also mir lief das gut rein, weiter so!“

(Facebook Status)

„Hinein damit!“

Montagmorgen um 7.30 Uhr betrat ich das Krankenzimmer. Der Krankenhaus-Urologe, der mich die 5 stationären Tage über (sehr gut!) betreuen und auch jeweils die Zytostatika-Infusionen anhängen würde, begrüßte mich. Er informierte mich, was an diesem Tag alles anstehen würde, beantwortete meine Fragen. Weil die Voruntersuchungen (Bluttests, u.a. Tumormarker, Leber, Niere, Sonographie, Lungenfunktionstest, EKG, Neurokonferenz, Hörtest beim HNO-Arzt) keine Ergebnisse erbracht hatten, die gegen eine Chemotherapie sprachen, ging es dann los, wie geplant.

Häufige Nebenwirkungen einer PEB Chemotherapie

Häufige Nebenwirkungen einer PEB Chemotherapie

Ich händigte dem Doc die von mir unterzeichnete Patientenaufklärung aus, die u.a. über die häufigen Nebenwirkungen einer PEB-Chemotherapie aufklärte, welche auftreten, weil Zytostatika keinen Unterschied zwischen Krebszellen und gesunden Zellen machen. Dann wurde ich auch schon mitsamt Bett auf die Intensivstation gefahren, damit ein Anästhesiearzt mir das Zentrale Venenkatheder (ZVK) legt (ZVK weil dieser schonender sei, als das tägliche Legen einer Viggo und die Zytostatika die kleineren Venen angreifen. Der ZVK verbleibt bis zum Ende der 5 stationären Tage).

Das Legen des ZVK war in den 5 Tagen Krankenhaus die unangenehmste Erfahrung. Während der gut Dreiviertelstunde, die es dauerte, bis das Katheter richtig lag (ultraschallgestützte Anlage, 18cm rein, bis zum Herzvorhof vorschieben, dann ca. 1cm zurückziehen bis EKG wieder normal, dann liegt ZVK richtig), musste ich einige Male ins Bettlaken greifen. Doch als es einmal lag (und an der Haut vernäht und verpflastert war), machte das ZVK keine Probleme mehr. Ich hatte mich, weil ich meist auf der rechten Seite schlafe, für die linke Halsbeuge entschieden. Das war die richtige Entscheidung. Das ZVK störte insgesamt weniger als ein venöser Zugang in einer Armvene.

Zurück auf Station ging es dann mit der Chemo los. Oral erhielt ich Emend 125mg, eine Kotzbremse erster Güte, bzw. um es mit einem Fachwort auszudrücken: Ein sehr wirksames Antiemetikum. Dann kam mein Doc und bald hing mein Galgen voll mit Beuteln. Dies lief am Tag 1 in mich hinein: Infusion Granisetron („Antikotz“) & Dexamethason („Entzündungshemmer“). Dann Infusion NaCl für Spülung. Dann Infusion des ersten Zytostatika Bleomycin und gleichzeitig Infusion Mannitol (osmotisches Diuretikum, soll Nierenschädigungen durch Zytostatika vorbeugen, „Nephrotoxizitätsprophylaxe“, und deren Ausscheidung über die Nieren fördern, „renale Elimination“). Wieder NaCl. Dann das erste Mal Infusion Cisplatin. NaCl. Dann Infusion Etoposid. Wieder NaCl-Lösung und wieder (bis zur nächsten Runde Chemo wird Flüssigkeit zugeführt).

Ich hatte gelesen, 2-3 Stunden nach der ersten Cisplatin-Infusion würde (wenn man denn zu diesen unglücklichen Menschen gehört) die Übelkeit beginnen. Ich verschlief diesen Zeitpunkt. Konnte ihn verschlafen, weil nach 2-3 Stunden nichts passierte.

Es passierte auch den Rest der stationären Woche nichts Gravierendes: Keine Übelkeitsattacken, keine gravierenden Nebenwirkungen. Halleluja! Ein Hoch auf die Antikotz-Medikamente. Ein Hoch auf was auch immer, dass ich zu den Patienten gehörte, die die Chemo gut vertrugen. Ja, Friendly Poison…

So verging meine stationäre Woche: Medizinischer Höhepunkt jeden Tages war die vom Doc in die Wege geleitete Chemotherapie. Die Infusionen liefen jeden Tag wie auch Tag 1 ab, mit dem Unterschied, dass an den Tagen 2-5 keine Bleomycin-Infusion stattfindet (und dass statt Emend 125mg oral Emend 80mg gegeben wird). Dauer der Chemo circa 3 Stunden.

Hinein damit! Die Tage in der Klinik waren ein einziges langes Gefüllt- und Gespültwerden. Irgendeine Flüssigkeit lief immer in mich hinein. Zusätzlich trank ich mindestens 3 Liter Wasser am Tag. Die Folge: Bereits am zweiten Tag brachte ich 6 Kilo mehr auf die Waage – und das obwohl ich alle halbe Stunde meine Blase entleeren musste. Ich las, hörte Musik über meine Kopfhörer oder schlief abwechselnd. Dann ging es wieder auf die Toilette, pinkeln. Mehrmals am Tag schob ich den Galgen zum Wasserkasten neben dem Schwesternzimmer, um mich mit Nachschub zu versorgen. Ich versuchte, mich zu bewegen. Wobei ich spürte, dass ich langsam machen sollte. Die Zytostatika zerrten an meinen Kräften (wobei ich einfach nur „schlapp“ war, von wirklicher Erschöpfung konnte keine Rede sein). Also ab ins Bett. Wieder schlafen. Auf Toilette usw.

Viele Chemopatienten haben Probleme mit ihrem Appetit, können Lebensmittel nicht riechen: Bei mir davon keine Spur. Zwar hatte ich manchmal einen metallischen Geschmack im Mund oder meinte, etwas Metallisches zu riechen, aber das wirkte sich nicht auf meinen Appetit aus. Ich aß die ganz normale Vollkost (leckeres Krankenhausessen übrigens), selbst auf meinen Kaffee musste ich nicht verzichten, verhielten sich meine Schleimhäute doch robust, so dass ich in der ersten Chemowoche keinerlei Verträglichkeitsprobleme hatte.

Zwischenbemerkung_Vertrauen_gut_versorgt

Randbemerkung zum Thema „Vertrauen / gut versorgt“

Zweimal wurden in dieser stationären Woche die Blutwerte bestimmt (Mittwoch und Freitag am letzten Tag), meine Blutwerte waren je im normalen Bereich. Ich bekam kein Fieber, mein Blutdruck war normal. Selbst mein Stuhlgang pendelte sich mit Hilfe von Macrogol ein. Bis zum Ende der Woche ging mein Gewicht herunter, am Freitag wog ich 4 Kilo weniger als noch den Dienstag zuvor. Ich hatte mehr Flüssigkeit ausgeschieden als aufgenommen (aufgenommen hatte ich mindestens 6 Liter jeden Tag).

Nachdem mir eine Krankenschwester ohne Probleme am Freitagnachmittag das ZVK („tief Luft holen, tief ausatmen…“) gezogen hatte, konnte ich heim. Ich war geschafft, aber sehr froh, wie die Woche verlaufen war. Meine erste Woche mit „Friendly Poison“ war doch sehr freundlich abgelaufen – und ich hatte es tatsächlich geschafft, nicht zu rauchen.

 

II. Der ambulante Teil meiner PEB Chemo

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Der „ambulante Teil“ – das klingt doch gegenüber „stationärem Teil“ vergleichsweise harmlos. „5 Tage jeden Tag eine mehrstündige Chemositzung“ klingt gewichtiger als an den Tagen 8 und 15 innerhalb von nicht einmal einer halben Stunden noch einen Bolus von je 1x Bleomycin zu erhalten…

„Bis in die Haarspitzen“

Die Tage in der Klinik zuvor waren ein einziges langes Gefüllt- und Gespültwerden. Beides fand nun nicht mehr statt. Die einzigen Medikamente, die ich an den Tagen 6 & 7 nehmen sollte, waren das Mittel gegen Übelkeit Emend 80mg und der Entzündungshemmer Dexamethason. An Tag 8 stand als Bolus die Bleomycin-Infusion an.

Da ich nach wie vor sehr häufig Wasserlassen musste (mindestens alle halbe Stunde), sah ich es weiterhin als wichtig an, viel zu trinken. Mindestens 3 Liter Wasser am Tag, das hatte ich mir vorgenommen (was in diesen Tagen kein Problem war, weil ich ständig Durst hatte).

Ich fühlte mich gut. Wobei ich im Verlauf der Tage spürte, dass die Schlappheit, die mich immer wieder überkam, eine andere Qualität annahm. In der Klinik war mein Körper, so erschien es mir, passiv gewesen. Ein Gefäß, dass es zu füllen galt. Jetzt war mein Körper gefüllt, ich fühlte mich „bis in die Haarspitzen voll“ – und er wurde Hand in Hand mit den Friendly Poison sehr aktiv.

In mir arbeitete es auf Hochtouren, die Zytostatika hatten ihr Werk aufgenommen – und so war meine Schlappheit in den Tagen 6 bis 9 immer weniger von der Art „müde“, sondern nahm Formen der Erschöpfung an.

Die Infusion von Bleomycin am Tag 8 verstärkte den Wirkprozess. Meine Sorge, dass die erneute Zytostatika-Gabe (Dauer der Infusion eine halbe Stunde) mein gutes Gefühl ändern würde, bewahrheitete sich nicht. Als sehr beruhigend empfand ich es, dass laut Labor alle meine Blutwerte normal waren. Ich erhielt auch keine unterstützenden Mittel wie einen Übelkeitshemmer, weil der Onkologe nicht mit Nebenwirkungen rechnete. So kam es auch. Keine Übelkeit. Ich fühlte mich gut. Vielleicht noch etwas erschöpfter als zuvor, aber gut.

Gleichwohl ging mit der Erschöpfung eine Art geistiger Schwäche einher. Ich hatte den Eindruck, mich weniger gut konzentrieren zu können. Ein Buch lesen empfand ich nun als zu anstrengend. Tippte ich ein paar Zeilen auf dem Computer, so merkte ich, wie schwer es mir fiel, die richtigen Tasten zu treffen und mich an Rechtschreiberegeln zu halten.

Kommunizieren empfand ich im zunehmenden Maße als anstrengend, vor allem in Form von Telefonaten. Hier wird auch eine Rolle gespielt haben, dass sich zwischenzeitlich ein beidseitiges leises Ohrengeräusch bei mir bemerkbar machte, nicht so schlimm, dass ich von Tinnitus sprechen würde, nicht so schlimm, dass ich nicht hätte darüber hinweg hören können (vor allem mit dem Wissen, dass es nach der Chemo auch wieder weggehen wird), aber dennoch da.

Aber, wie gesagt, mein Grundempfinden war, dass es mir gut ging. Ich war halt ein Organismus unter Hochlast. Dies zeigte sich auch an meinem Gewicht: Von Tag 6 bis zum Tag 10 der Chemo nahm ich fast 4 Kilo ab. Dabei aß ich gut (und dank meiner Liebsten auch gesund). Zwar waren von Tag zu Tag meine Magen- und auch meine Hals- und Mundschleimhäute empfindlicher geworden (auf meine Tasse Kaffee musste ich verzichten). Aber ich hatte keine Schmerzen. Es traten keine Entzündungen der Schleimhäute auf, sehr schmerzhafte Entzündungen in der Mundhöhle, im Magen, im Darm, die leider viele Chemopatienten quälen. Ich hatte Glück. Hatte Durst und hatte Appetit. Konnte eigentlich essen, auf was ich Lust hatte. Es gab einige Momente, in denen ich mir erlaubte zu denken: Vielleicht gehörst Du ja wirklich zu den Glücklichen, die eine Chemo über die ganze Distanz ganz gut vertragen.

Ach ja, ich ging jeden Tag ein wenig spazieren (hatte mir Nordic Walking Stöcke gekauft) und – ich war natürlich stolz wie Oskar – ich hatte nach wie vor keine Zigarette angepackt. Da musste es doch einfach weiter gut laufen…

„System down“

30 Mio.E.0,5ml Filgrastim
Es passiert nicht bei allen PEB Chemopatienten, aber bei vielen, und wenn es passiert, dann um den Tag 10 herum – wie bei mir: Die Zahl meiner weißen Blutkörperchen ging in den Keller. Somit fuhr mein Immunsystem nahezu komplett herunter.

Es geschah, schien mir, von jetzt auf gleich. Ohne Vorwarnzeit. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr nur erschöpft, sondern total ausgelaugt, bis ins Mark ausgesaugt. Ich hatte das Gefühl „immer weniger“ zu werden – und dass obwohl ich plötzlich begann, wieder an Gewicht zuzulegen.

Was den Eindruck der Schwäche verstärkte, war, dass zudem meine Oberschenkel zu schmerzen begannen. Sie schienen mein Gewicht nicht mehr zu tragen, meine Beine knickten manchmal weg. Auf einem Bein stehen, um in eine Hose zu schlüpfen, ging nicht mehr. Laufen fiel schließlich schwer.

Ich war bedient – und nur froh, dass ich an Tag 11 einen Termin beim Onko-Doc zwecks Bestimmung der Blutwerte vereinbart hatte. Ich machte mir große Sorgen, dass die Schmerzen und meine Gehschwäche etwas mit den Nerven zu tun haben könnten (eine der Nebenwirkungen einer PEB Chemo, die gerne irreversibel ist).

Was meine Beine anging, konnte mich der Doc nach einigen Test beruhigen, keine Nervenangelegenheit, sondern Muskelschmerzen und -schwäche als eine späte Nebenwirkung des Cisplatin.

Beunruhigend entgegen waren meine Blutwerte, denn seit dem letzten Labor 4 Tage zuvor war die Anzahl meiner Leukozyten so stark gesunken, dass meine Immunabwehr quasi nicht mehr vorhanden war.

Das bedeutete: Prophylaktisch ein Antibiotikum schlucken (Ciprofloxacin 500mg, 2x täglich) und 1x täglich einen Wachstumsfaktor für weiße Blutkörperchen subkutan spritzen (30 Mio.E./0,5ml Filgrastim, dass das Knochenmark anregt, weiße Blutkörperchen zu produzieren). Kontrolle der Laborwerte am Morgen des Tages 15, einem Montag, dem Tag, an dem die nächste und letzte Chemo-Infusion stattfinden soll. Dann schickte mich der Onkologe mit der Auflage, Menschenansammlungen zu meiden, und dem Rat, 30 Minuten am Tag spazieren zu gehen (wenn es denn die Muskelschmerzen zulassen), heim. Infektionen vermeiden, Immunabwehr stärken, die Devise für die kommenden Tage, das kommende Wochenende. Sollte ich allerdings Fieber bekommen, dann müsse ich in die Notaufnahme…

Zwischenbemerkung_stationär_ambulant

Randbemerkung zum Thema „stationär / ambulant“

Das folgende Wochenende war ich nicht wirklich entspannt, um nicht so sagen nervös. Dieses Kratzen im Hals… Kommt das jetzt von der Chemo, die meine Schleimhäute angreift? Oder ist das Kratzen ein Anzeichen einer Erkältung? Apropos Erkältung… Wie sind denn diese plötzlichen Hitzewallungen zu werten? Die Nachtschweißattacken? Und das meine Temperatur von sonst durchschnittlich 36,4° nun auf 37,5° gestiegen ist? Ist das bereits als Fieber zu werten?

Sehr froh war ich aber, dass die Muskelschmerzen in den Oberschenkeln und damit die Muskelschwäche verschwanden (kaum in die Badewanne hineinzukommen, um zu duschen – ich habe keine separate Dusche -, war bedrückend). Somit konnte ich spazieren gehen (das Wetter war ja auch noch herrlich), und etwas für meine Immunabwehr tun.

Dann kam der Montagmorgen. Nach einer sehr unruhigen, verschwitzten Nacht war ich ziemlich geschafft, aber dennoch guter Dinge: Ich hatte kein Fieber bekommen (die 37,5° hatte ich als einmaligen Ausrutscher nach oben gewertet), hatte mir keine Infektionen eingehandelt. Das Wochenende hatte ich überstanden.

Meine Liebste brachte mich zum Onkologen. Tag 15 meiner Chemo. Laut Therapieplan sollte ich an diesem Morgen meine letzte Dosis erhalten, eine letzte Infusion Bleomycin. Und so schlapp ich mich auch fühlte (und so blass wie ein Vampir auf Diät ich auch war), ich war mir sicher, dass meine Blutwerte besser sein würden als den Donnerstag zuvor. Friendly Poison. Kinders, so sind die Kleinen halt, wenn sie einmal losgelassen werden… Schießen einfach gerne mal übers Ziel hinaus… Ich freute mich, auf die Zielgerade meiner Chemo einzubiegen.

Die Laborwerte verzögerten meinen Schlussspurt. Die Anzahl meiner Thrombozyten war so weit abgesackt, dass mit einer erhöhten Blutungsneigung zu rechnen war. Die Zahl meiner Leukozyten war nach wie vor unterirdisch. Mir Bleomycin in die Vene zu jagen, war dem Onko-Doc zu riskant. Ich war enttäuscht. Jetzt hieß es: Weiter spritzen, weiter Antibiotikum schlucken, Kontrolle den Mittwoch darauf. Jetzt hieß es: Keimen, Bakterien, Viren aus dem Weg gehen, Infektionen vermeiden, Immunabwehr stärken, auf eventuelle Blutungen achten, durchhalten. Und es lief so weit auch alles ganz gut. Die Muskelschmerzen, die als Nebenwirkung des Filgrastim auftraten (erst in den Kiefermuskeln, dann auch im Rücken) empfand ich als weniger belastend als die Schmerzen in den Oberschenkeln die Tage zuvor, wusste ich doch, sie werden abklingen, wenn ich nicht mehr spritzen muss. Dennoch, die Kieferschmerzen waren nicht ohne, bereiteten mir zusammen mit den Nachtschweißattacken schlaflose Nächte. Aber zumindest die Rückenschmerzen sprachen recht gut auf Ibuprofen an.

Dann die Kontrolle am Mittwoch, dem Tag 17: Werte besser, aber noch nicht gut genug. Weiter spritzen, weiter Antibiotikum schlucken, mich mit keinem Keim, keiner Bakterie, keinem Virus infizieren. Kontrolle am Freitag, dem Tag 19, an meinem Geburtstag.

Bad Hair Days & Happy Birthday
Happy_Birthday_Bad_Hair_Day1

Waren sich die Herren und Damen Doctores auch bei den sonstigen Nebenwirkungen der Chemo nicht einig gewesen, bei einer Sache hatten sie übereingestimmt: Meine Haare werden ausfallen.

Ab Tag 16 war es soweit. Meine Kopfhaare begann auszufallen. Zuerst an den Schläfen, dann an den Seiten. Die Haare am Hinterkopf hielten sich zunächst noch standhaft an Ort und Stelle. Aber auch das sah bald anders aus. Ich musste nur mit der Hand über meinen Kopf streichen und meine Finger waren voll mit Haaren.

Auch meine Barthaare fielen aus. Es war ein ganz eigentümliches Gefühl zu bemerken, dass ich mir meine Barthaare, während ich mir mit kalten Wasser mein Gesicht abwusch, einfach mit der Hand abrubbeln konnte. Rasieren mit der Handkante, voll Kung Fu.

Ich hatte mir meine Haare nicht im Vorfeld abrasiert, weil ich wissen wollte, wie das vor sich geht und wie sich das anfühlt, wenn sie ausfallen. Als ich schließlich wie ein gerupftes Huhn aussah, war aber die Zeit des Rasierers gekommen. Tag 19 meiner Chemo. An meinem Geburtstag sollte es geschehen. Ganz passend fand ich. Eine besondere Rasur an einem besonderen Tag. Zwar trug ich meine – vor allem auf dem Oberkopf – eher in geringerer Zahl vorhandenen Haare seit etlichen Jahren kurz geschnitten. Aber mir eine Glatze zuschneiden, fühlte sich doch ungewöhnlich an. Wie gesagt, für meinen Geburtstag in meinem Krebsjahr ganz passend.

Aber zuvor hoffte ich, ein weiteres Event an meinem Geburtstag über die Bühne bringen zu können: meine letzte Dosis Friendly Poison, die Bleomycin Infusion. Dafür mussten sich natürlich meine Blutwerte, insbesondere die Anzahl der Leukozyten, normalisiert haben – und endlich war es soweit. 2 Stunden nachdem mir beim Onko-Doc das vierte Mal innerhalb von 10 Tagen Blut abgenommen worden war, erstrahlten die entscheidenden Werte auf dem Laborbericht in schönster Normalität.

„Womit habe ich nach der Infusion zu rechnen?“, fragte ich. „Mit nichts Besonderem!“, antwortete mein Onko-Doc – und ich in meiner Freude, endlich wieder mit einem funktionierendem Immunsystem ausgestattet zu sein (und vielleicht sogar meinen Geburtstag nun doch mit Freunden feiern zu können) und nun bald meine Chemo hinter mir zu haben, hörte: „Nichts!“ Schließlich war die erste ambulante Bleo-Infusion am Tag 8 meiner Chemo unspektakulär verlaufen. Also Bleomycin vorbereiten, Viggo legen – und hinein damit.

Und zunächst passierte auch nichts. Ich fuhr heim. Spürte eine gewisse Müdigkeit. Aber das war ja auch kein Wunder, nichts Besonderes. Schließlich war ich früh aufgestanden, hatte 3 Stunden mit meinem Arztbesuch verbracht und mir innerhalb einer halben Stunde eine satte Dosis Zellgift in die Vene jagen lassen. Da kann man schon müde werden… Also legte ich mich – für ein Stündchen, so der Plan – aufs Ohr. Kaum lag ich einige Minuten, ging es los.

Als hätte jemand gigantische Kühlaggregate aufs Bett gerichtet. Als würde draußen ein Eisblizzard toben und die schützenden Wände samt Fenster wären eingerissen worden, so dass ich plötzlich inmitten des Kältesturmes liegen würde. So einen Schüttelfrost, wie der, der mich da plötzlich überkam, hatte ich noch nie erlebt. Was war mir kalt. Glücklicherweise war ich ja nicht allein und bald mit zwei Wärmflaschen und heißem Tee versorgt.

Nach einer halben Stunden Zähneklappern war es mit dem Kältesturm genauso schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Und die Temperatur begann zu steigen – jedenfalls die von mir gefühlte und meine Körpertemperatur. Ich bekam Fieber, 38°, 38,7°, 39,5° zeigte das Fieberthermometer, Tendenz also steigend. Und mit steigendem Fieber wuchs – obwohl laut Labor wenige Stunden zuvor mein Immunsystem ok war und auch nichts auf eine Infektion hindeutete – meine Besorgnis. Zwar gaben die ersten Treffer bei Google zur Anfrage „Bleomycin Schüttelfrost Fieber“ Entwarnung in dem Sinn, dass dies nach einer Infusion Bleomycin typisch sei und nur bedenklich, wenn die Temperatur nicht bald wieder hinuntergeht (unterstützt durch etwa fiebersenkende Tabletten – oder wenn jemand nicht schlucken könne – Zäpfen und durch Hausmittel wie Wadenwickel). Aber ich wollte zur Sicherheit noch einen ärztlichen Rat.

Ich versuchte also meinen Onko-Doc zu erreichen – vielleicht war er an diesem Tag zufällig ja länger als bis um 12 Uhr in der Praxis geblieben. Nur der AB. Dann rief ich im Krankenhaus an, um den Urologen, der mich an den stationären Chemotagen betreut hatte, um Rat zu fragen. Leider konnte ich nicht mit ihm persönlich reden, die Sekretärin schirmte ihn an, sie überbrachte aber meine Anfrage – und übermittelte mir seine Einschätzung: Ich solle ins Krankenhaus kommen, mich an der Inneren melden. Happy Birthday! Toll. Ich hatte gehofft, der Urologe beruhigt mich. „Hey, ganz typisch nach einer Bleomycin Infusion. Das geht vorbei, keine Panik. Hausmittel anwenden. Fiebersenkende Tablette schlucken. Die Temperatur im Blick behalten. Nur ins Krankenhaus, wenn sie nicht bald wieder sinkt…“

Ich gab meiner Körpertemperatur eine Stunde, bis ich mich entscheide: Ist sie nach Ablauf der Stunde gesunken, bleibe ich daheim. Ist sie weiter gestiegen, dann geht es ins Krankenhaus. Und mein Körper tat mir den Gefallen, mit dem Fieber klarzukommen und mir den erneuten Klinikaufenthalt zu ersparen. 39,2°, 38,6°, 37,5°, Tendenz: die Temperatur normalisiert sich. Mein Körper schwitzte das Fieber weg. Ich war klatschnass, aber froh. 36,9° Die Notwendigkeit, ins Krankenhaus zu gehen, sah ich nicht mehr. Fühlte mich über dem Berg.

Gestern wurden noch einmal die Blutwerte bestimmt, und die Werte gaben meiner Entscheidung recht. Dies bestätigte mir auch der Urologe, der mich während der stationären Phase des Zyklus betreut hatte und der (mein Onkologe hatte zwischenzeitlich, wie ich erfahren musste, seinen Urlaub angetreten) meine aktuellen Laborwerte für mich interpretierte. Alle Werte normal. Alles bestens. „Sie haben es geschafft – und wenn ich das sagen darf: Die Glatze steht Ihnen sehr gut!“

Meine Liebste hatte mir einen Tag nach meinem Geburtstag den Kopf rasiert. Und ich war wirklich erstaunt gewesen, wie fremd mir mein Anblick im Spiegel wurde – und dass obwohl meine normale Haarpracht, wie gesagt, eh bereits eine deutliche Tendenz Richtung Glatze hatte. Aber so glatt geschoren, das war doch etwas anderes (hoffe nur, dass meine Wimpern und Augenbrauen nicht ausfallen). Und kühl war mir plötzlich am Kopf. Auch das war erstaunlich: selbst kurze Haare wärmen.

Zum Glück hatte meine Liebste mir zum Geburtstag eine coole britische Schiebermütze geschenkt, damit war ich sowohl wärmetechnisch wie auch stylisch auf der richtigen Seite. Zum Glück brauchte ich nur ein paar Tage, um mich an die Glatze zu gewöhnen. Ja, schließlich begann sich in mir sogar das Gefühl zu regen, dass mir die Glatze eigentlich ganz gut steht, so dass ich jetzt die Mütze nur wegen der Kühle brauche oder sie anziehe, weil ich sie cool finde, und nicht, um mich zu verstecken.

Ich war und bin sehr froh. Sehr froh, dass die Chemo vorbei ist. Dass ich die Chemotherapie so gut vertragen habe. Ja, my Deadly Friends Cisplatin, Etoposid und Bleomycin waren wirklich freundlich zu mir gewesen. Werden weiter freundlich zu mir sein, denke ich hinsichtlich eventueller Spätfolgen (z.B. Lungenprobleme aufgrund des Bleomycin). Wie Anfangs gesagt: Ich will eine positive Einstellung an den Tag legen… Die Nebenwirkungen, die sich derzeit noch bemerkbar machen, sind jedenfalls nicht schlimm: Der Haarausfall (das sichtbarste Zeichen meiner Chemozeit, glücklicherweise immer noch nicht meine Augenbrauen und Wimpern betreffend), die Ohrengeräusche (werden schon leiser), die veränderte, flüssigere Konsistenz und blassere Farbe meines Spermas und eine sehr starke Erschöpfung, die mich mindestens einmal am Tag überkommt und dann für mehrere Stunden in ihrem Griff behält.

Letzteres könnte jene starke, unter Umständen gar Monate dauernde Müdigkeit sein, die mit dem Begriff „Fatique“ bezeichnet wird (vgl. Blauer_Ratgeber_Hodenkrebs_Krebshilfe, S. 69). Muss es aber nicht sein. Ich gehe davon aus, dass es eine stinknormale Erschöpfung ist, weil die Chemo anstrengend für Körper und Seele war, immer noch ist und sein wird, bis sich mein Zell- und mein seelischer Haushalt komplett normalisiert haben. Ja, normalisieren… Jetzt heißt es, mich erholen. Stress vermeiden. Und gelassen in die Normalität, in einen Alltag ohne Krebs, zurückkehren. In zwei Monaten dann die erste Nachsorgeuntersuchung. Aber hier verlasse ich mich ganz auf meine Deadly Friends.

Und nun werde ich eine Runde spazieren gehen, bzw. Nordic Walken… Gerade bricht die Nachmittagssonne durch die Wolken. Ideal, um ein wenig an die frische Luft zu gehen. Denn frische Luft ist gut, um sich zu erholen, die Phase der Müdigkeit zu überwinden. Die Stöcke zu schwingen ist gut, um mich abzulenken. Denn während ich diese letzten Zeilen zu meiner PEB Chemotherapie schreibe, habe ich wieder einmal große Lust, mir eine Zigarette anzuzünden. Toi toi toi: Bisher bin ich stark geblieben, habe keine geraucht. Bald feiere ich meinen Geburtstag nach. Ja, wenn ich stark bleibe, wird dies der erste Geburtstag seit rund 25 Jahren sein, von dem es kein Foto von mir mit einer Kippe in der Hand oder im Mundwinkel geben wird. Der Gedanke gefällt mir.

 


 

Links und Quellen zur PEB Chemotherapie


 

Die ganze Geschichte in 4 Akten:

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp

Hodenkrebs_Erfahrungen2
„Ich habe nicht inhaliert!“ – ich sah meinen alten Freund förmlich vor mir, wie er breit grinsend ins Telefon sprach. Ich war nicht der Erste, der ihn Sonntagabend nach dem Münster-Tatort anrief. Dabei war es bei mir Zufall. Ich hatte den Tatort nicht gesehen, in dem Prof. Börne behauptet: „Kiffen erhöht das Hodenkrebsrisiko um 70 Prozent“. Nicht Pot, sondern Plot – das war meine Sonntagsbeschäftigung – kurz ich sah kein TV, sondern brütete an meinem Schreibtisch über der Dramaturgie meines dritten Romans. Als mein Tag- und Abendwerk beendet war, rief ich an, weil ich wissen wollte, was es Neues an der Hodenkrebs-Front gab.

Ich war noch auf dem Stand von einigen Tagen zuvor. Bedeutet: Die Fragen, die sich ihm gestellt hatten, bevor er sich entscheidet, ob er active surveillance oder PEB Chemo wählt, waren beantwortet worden. Endlich!

Das Warten und die Empfehlung

Der Nachtragsbefund des Pathologen, der das Orchiektomie-Präparat untersucht hatte und bezüglich der Einordnung des Tumors unsicher gewesen war, lag als Erstes vor. Leider hatte man versäumt, meinem Freund dies mitzuteilen, obwohl er mehrmals nachgefragt hatte. „Ich habe meinen ergänzten Befund doch bereits vor einer Woche übermittelt!“, gab sich der Pathologe erstaunt, als mein Freund mit ihm persönlich telefonierte. Wie auch immer. Bezüglich der strittigen Frage, ob eine vaskuläre Invasion vorliege (und somit ein bedeutender Risikofaktor), brachte der Mediziner nun Licht ins Dunkel: Die erneute Betrachtung des Präparates hätte seine Unsicherheit beseitigt und den ursprünglichen Bericht bestätigt. Vaskuläre Invasion der Lymphbahn (L1).

Länger dauerte es, bis die beiden Fragen „Was sagt das Zweitmeinungsprojekts der Deutschen Hodentumor Studiengruppe (GTCSG) zu seinem Fall? Und wenn Chemo: Reicht nicht auch 1 Zyklus PEB?“ beantwortet waren. Das lag zum einen daran, dass sich der Urologe eine Woche Zeit ließ, bis er den Fall dort vorstellte. Und zum anderen hatte jener den Fall nicht über die Homepage des Zweitmeinungsprojektes und die dort installierte Eingabemaske eingereicht (es wird auf der Homepage eine Zeitspanne von längstens 24 Stunden genannt, bis eine Empfehlung vorliegt), vielmehr hatte er ein Fax mit dem Befund und der Anfrage an eine an das Projekt angeschlossene Universitätsklinik geschickt. Dieses Fax war unbemerkt geblieben und unter einem Stapel verschwunden. Es dauerte rund zwei Wochen bis das Schriftstück entdeckt wurde und sich die Zweitmeinungsstelle meldete.

Dann aber hatte das Warten ein Ende und alle Fragen waren geklärt: Der Tumor sei, so die Zweitmeinungsstelle, aufgrund der vaskulären Invasion und der Infiltration der Rete Testis als high risk non-seminom Karzinom zu werten. Auch bei einem Stadium 1B Tumor sei in diesem Fall von „wait and see“ (active surveillance) abzuraten. Da mit der adjuvanten Chemotherapie von 1 Zyklus PEB aufgrund neuerer Studien Rezidiven ebenso erfolgreich vorgebeugt werden könne wie mit stärker belastenden 2 Zyklen PEB (eine Vorgehensweise, die zwar noch nicht in die Leitlinien übernommen worden sei, aber das wäre nur eine Frage der Zeit…), laute die Empfehlung 1 Zyklus PEB.

Und mein alter Freund war der Empfehlung gefolgt, hatte sein OK zur Chemo gegeben. Mit der Überweisung des Urologen in der Tasche war er zum vorgeschlagenen Onkologen gegangen. Hier hatte man ob seiner Bitte um einen baldigen Termin erst einmal gelächelt („Also frühestens in 3 Monaten“), dann aber nach einem gewissen freundlichen Insistieren doch einen Termin eine Woche später herausgerückt. Und dieser Termin war drei Tage vor gesagtem Tatort. Dies war mein Informationsstand, als ich ihn an besagtem Abend anrief.

Sind die denn alle bekifft?

„I didn’t inhale!“, begrüßte er mich mit dem alten Clinton-Spruch. Ich war beileibe nicht der Erste, der bei ihm an diesem Abend durchklingelte, wie er meinte. Er fasste den Münster-Tatort kurz zusammen. Börne hätte bewirkt, dass einige Menschen, die sich bislang nicht so getraut hatten, sich bei ihm zu melden, jetzt anriefen. Die Sprüche vom Börne zum Hodenkrebs wären wohl ein guter Aufhänger gewesen, um das schwierige Thema ein bissel locker anzugehen. Es gab zwar auch Stimmen der „Das lass mal besser!“-Fraktion, aber die kannten ihn, der selbst auf Partys, wo Cannabis in Hülle und Fülle angeboten wurde, bei seinem Bier blieb, nicht gut. Er war da wie ich. Cannabis war nicht seine Droge.

„Aber wer weiß?“, meinte er, „Vielleicht wird sie das angesichts der Nebenwirkungen der Chemo ja noch – wobei: Bis auf den Onkologen sagen eigentlich alle: 1 Zyklus PEB wird nicht ganz so furchtbar arg.“

Ja, der Onkologe. Ein sehr netter Mann. Das wäre dann ja alles easy, sagte der, die Urologie des Krankenhauses hätte ihn schon wegen seines Falles angerufen und ihm die Diagnose durchgegeben. Zweimal müsse er zu ihm ambulant kommen, um die Infusionen zu erhalten. Und gut.

Und gut? Ich selbst hatte ja schon häufiger mit Ärzten zu tun, und nicht immer lief alles glatt, aber hier schien es hinsichtlich eines gewissen Kommunikationsproblems an kein Ende zu kommen. Denn nichts war gut. „Was heißt zweimal ambulant? Ich dachte der erste Teil eines Zyklus würden an 5 Tagen stationär verabreicht?“, fragte mein Freund verwirrt, „Und warum hat die Urologie des Krankenhauses wegen meines Falles angerufen? Mit denen habe ich das letzte Mal nach den OP-Tagen gesprochen.“

Und dann stellte sich heraus, dass der Onkologe aufgrund des Anrufes aus dem Krankenhaus davon ausgegangen war, dass der erste, der stationäre Teil schon gelaufen wäre. Das war natürlich nicht der Fall. Und somit war der Onkologe nicht zuständig. Der stationäre Part einer PEB Chemo wird von der Krankenhaus-Urologie betreut. Die Überweisung durch den Urologen war ein Fehler gewesen. „Das hätte der aber wissen müssen…“ Eine Woche hatte mein Freund auf den Termin gewartet – umsonst.

Na ja, nicht ganz umsonst. Denn der Onkologe nahm sich gut eine dreiviertel Stunde Zeit, um ihn über die Nebenwirkungen einer Chemo aufzuklären (was bislang so ausführlich bei ihm noch kein Arzt gemacht hatte – „einen mündigen Patienten muss man auch über den worst case aufklären“). Interessant war: Der Onkologe hatte zwar vom Urologen Unterlagen zum Fall erhalten, aber nicht den Bericht des Tumorboardes und nicht den histologischen Befund – also die wichtigsten Unterlagen. Diese hatte mein Freund dabei. Interessant war: Die Nebenwirkungen sind – laut der Einschätzung des Onkologen – nicht ohne. Und das heißt nicht nur Haarausfall und Übelkeit und Schleimhautprobleme im Mund (Nebenwirkungen, die nach Beendigung der Chemo abklingen), sondern eventuelle (gerne länger anhaltende) Probleme wie Tinnitus, Nervenschädigungen (Kribbeln oder Taubheit in den Gliedern), Lungenschädigungen – und vor allem: Bereits während des ersten Zyklus‘, ab dem Tag 10., würde erfahrungsgemäß das Immunsystem so down sein, dass man höllisch auf eine Infektion mit Irgendetwas aufpassen müsse (und das gerne länger anhaltend). Als Zugabe: Eine Chemo könne andere Tumore auslösen… Zu bedenken sei übrigens auch, dass seiner Erfahrung nach die Zahlen, die üblicherweise hinsichtlich des Wiederauftretens eines Rezidivs (30% unter active surveillance bekommen ein Rezidiv, nur 3-5% nach einer Chemo) genannt werden, seinen Erfahrungen nicht entsprechen: Er halte die Zahlen 20% unter active surveillance, etwa 10% nach einer Chemo bezüglich der Gefahr eines Rezidivs für wahrscheinlicher. „Sie sind ja, wie ich merke, nicht blöd“, sagte der Onkologe, „Und ein mündiger Patient sollte schon richtig aufgeklärt werden. Jetzt haben sie noch die Wahl.“

Angesichts dieser Zahlen (und angesichts der beschriebenen Nebenwirkungen) erschien die Strategie active surveillance jetzt doch wieder sehr attraktiv. Vor allem: Vielleicht hatte der Urologe, dessen Überweisung an den Onkologen schon falsch gewesen war, der diesem Onkologen gerade die wichtigsten Befunde nicht übermittelt hatte, auch dem Zweitmeinungsprojekt nicht genügend Informationen übermittelt (nur ein Fax,  kein Einholen der Zweitmeinung über das standardisierte Formular… )? Vielleicht beruhte die Empfehlung von 1 Zyklus PEB auf falschen Voraussetzungen?

Kurz: Mein Freund, der sich darauf eingestellt hatte, nun vom Onkologen betreut in Kürze den 1 Zyklus PEB zu erhalten, ging niedergeschlagen, verwirrt heim. Die Informationen, die er zuvor zur Chemo erhalten hatte, waren gewesen: „Erst bei 3, 4 Zyklen wird es schlimm“. Von eventuellen längerfristigen Folgen, gar einem erhöhten Risiko aufgrund der Chemo neue Tumore sich einzufangen, war keine Rede gewesen….

„Vielleicht sollte ich mir jetzt doch mal einen Joint durchziehen!“, meinte er, „Vielleicht wird mir dieses ganze Hin- und Her, und Kommunikationsgalama und Prognosenzeugs ja dann egal! Ja, vielleicht hätte ich beim Vertretungsurologen meine Schnauze halten sollen, einfach nicht nachfragen, als er sagte, alles in Butter mit der OP . Einfach rausmarschieren – und weiterleben, als sei nichts geschehen, weiterleben ohne nachzudenken.“

„Soviel kannst Du gar nicht kiffen, dass Du aufhörst, nachzudenken, Fragen zu stellen!“, gab ich ihm zurück. Und dann vertagten wir unser Gespräch auf den nächsten Tag. Der Onkologe hatte angeboten, Rücksprache mit der Urologie des Krankenhauses zu halten, um die optimale Behandlung abzuklären. Er würde sich am folgenden Tag melden. Nett der Onkologe.

Der nette Onkologe rief tags darauf nicht an. Auch am Tag danach meldete er sich nicht. Erst am dritten Tag meldete er sich.

„Sind die denn alle bekifft?“, erboste sich mein Freund, als er mir von dem Telefonat berichtete. „Erst überweist mich der Urologe völlig überflüssig an den Onkologen. Dann sagt der Onkologe doch glatt, dass der Anruf des Krankenhauses nicht mir gegolten hätte. Er hätte mich mit einem anderen Patienten verwechselt. Verwechselt! Somit müsse er seine Aufklärung bezüglich active surveillance oder Chemo revidieren. Er hätte sich meine Unterlagen noch einmal angesehen und rate deswegen auch zu einer Chemo…“

Der Sprung ins Vertrauen

Glücklicherweise – weil sein Vertrauen in die Empfehlung der Zweitmeinungsstelle wiederherstellend – hatte mein Freund zwischenzeitlich der Professorin der Zweitmeinungssstelle, die mit seinem Urologen telefoniert hatte, eine E-Mail geschrieben, in der er alle Informationen, die ihm zur Verfügung standen, aufgelistet hatte. Sie war so nett gewesen, gleich am nächsten Tag anzurufen. Sie bekräftigte am Telefon ihre Empfehlung: Kein active surveillance, er hätte zwar Stadium 1B, aber die TNM-Klassifikation pT2 cN0 cM0 L1 R0 V0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 sei als high risk Karzinom zu werten. „Tun sie mir den Gefallen, und tun sie etwas. Warten sie nicht ab. Nehmen sie sich eine Woche Zeit, und dann ist gut!“, sagte sie (die Nebenwirkungen offensichtlich anders bewertend als der nette Onkologe).

Und das ist also der Stand der Dinge. Mein alter Freund sagte sich: „Die macht den ganzen Tag kaum etwas anderes, als sich mit Hodenkrebs beschäftigen. Wenn er schon jemandem vertrauen soll, dann doch ihr.“ Also setzte er zum Sprung an. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Zum Sprung ins Vertrauen. Er hat entschieden. Keine Fragen mehr.

Apropos Vertrauen: Der Krankenhaus-Urologe, der bereits vor der OP die Voruntersuchungen gemacht hatte, rief ihn dann an – ohne dass er hätte aktiv werden müssen. Der Onkologe hatte mit ihm gesprochen. „Und er würde seinen Fall jetzt in die Hand nehmen“. Eine Aussage, die sehr gut tat. Ein leises Gefühl von Hier werde ich in guten Händen sein stellte sich ein. Vor allem auch, weil der Urologe von sich aus die noch zu machenden Voruntersuchungen ansprach. Mein alter Freund musste nicht fragen, hier wurde Wichtiges für ihn geregelt.

Dann ging es ins Krankenhaus, um die Voruntersuchungen (Bluttests, u.a. Tumormarker, Sonographie, Lungenfunktionstest, EKG, Neurokonferenz) zu absolvieren. Die Möglichkeit von Samenspenden (und anschließender Kryokonservierung meiner Fortpflanzungszellen) wurde besprochen und, weil ich keinen Kinderwunsch mehr hegte, nicht ergriffen. Alle Ärzte und Pflegekräfte waren sehr freundlich, aufmerksam, strukturiert. Ein Hörtest beim HNO-Arzt steht noch an. Kommenden Montag geht es los mit der Chemotherapie.

Ich hoffe nur, dass nicht der Onkologe, sondern die Professorin bezüglich der Nebenwirkungen Recht behält – und mein alter Freund den Sprung ins Vertrauen nicht bereut.

Links:

Zusammenfassung von Spiegel online zum Thema „Tatort und Hodenkrebs und Kiffen“: Frage nach dem „Tatort“: Erhöht Cannabis das Risiko für Hodenkrebs?

Bericht über Studien bezüglich 1 Zyklus PEB und Leitlinien: EAU-Leitlinie 2011 mit Blick in die Zukunft: maligner Hodentumor im Stadium I – weniger ist mehr!

Informationen zur PEB-Chemotherapie:

 


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB…

»Jung«, sagte er, »solange du dir noch die Eier kratzen kannst, hat dich der Tod noch nicht am Sack! Das Leben geht weiter, wenn nur du weitergehst.« (aus: „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“).

Hodenkrebs_Erfahrungen
Was ihm auf den Sack ging…

So eine Diagnose wie Hodenkrebs ist ja per schon etwas, dass einem an die Nieren geht, was ihm aber wirklich auf den Sack ging, war, dass er ab dem Morgen des Tages, an dem er unter das Messer des Chirurgen kommen sollte, anscheinend von ihn betreffenden Informationen abgeschnitten war.

Stundenlang wartete mein alter Freund im Flügelhemdchen auf die OP – ohne dass sich jemand bemüßigt sah, ihm mitzuteilen, dass sich die OP verzögert. Er hätte gerne vor der OP dem Chirurgen die Hand geschüttelt und von diesem gehört, was er denn – wenn die Vollnarkose wirkt – mit ihm zu tun gedenke (nur um sicherzugehen, dass der Chirurg richtig informiert ist und sich nicht anderweitig betätigt). Den Chirurg sah er nicht – nicht vor, nicht nach der OP. Bis zur Visite am nächsten Morgen konnte ihm niemand so recht Auskunft über den OP-Verlauf und -Erfolg geben. Auch nach der Computertomografie am Tag nach der OP befand er sich in einem toten Informationswinkel. Beinahe 24 Stunden musste er auf die erlösende Nachricht warten, dass keine Metastasen gefunden wurden. Mehr dazu dort… Hier nur noch das dazu: Wenn es nicht in diesem Stil weitergegangen wäre, wäre das wohl alles Schnee von gestern. Schwamm drüber. Jedes Krankenhaus hat mal einen schlechten Tag. Oder derer drei. Aber was im Krankenhaus begann, setzte sich leider fort. Mit dem Schnitt des Chirurgen war das Thema „Hodenkrebs“ nicht beendet. Und nicht beendet war leider auch der communication breakdown.

Alles fit im Schritt?

Mein alter Freund ist eigentlich ein lustiges Kerlchen, und so gab er sich bei jedem Telefonat (und jeder E-Mail – und das sicherlich nicht nur mir gegenüber) Mühe, auch die spaßigen Momente hervorzuheben, die seine Diagnose mit sich brachte.

„Da drücken sie mir einen Einwegrasierer in die Hand. Vom Bauchnabel abwärts bis runter zu den Oberschenkeln sollte ich mich rasieren – tolle Übung ohne Übung. Oh Gott, wo setze ich den ersten Schnitt. Und wie. Und wenn meine Hand zittert? Sah mich schon dem Chirurgen seine Arbeit abnehmen…“

Am zweiten Tag nach der OP verließ er das Krankenhaus. Großartige Untersuchungen gab es keine mehr. Pflegerisch fühlte er sich genau unterversorgt wie von Informationen abgeschnitten (große Ausnahme: Nachtschwester Bea*). Also nichts wie weg. Seine Temperatur kontrollieren konnte er auch daheim. An dieser Stelle seiner Erzählung brachte er dann oben angeführtes Zitat aus meinem zweiten Roman „Abschied“, was mich natürlich freute. Zitiert zu werden ist was Feines. „Ich musste einfach weitergehen. Dort zu liegen, ohne dass medizinisch überhaupt was passierte, schlug mir doch was aufs Gemüt. So hübsch war es da auch nicht.
Krankenhaus_Fruehstück
Und dann das Essen… Das Frühstück so üppig, dass mich die anschließende Verdauungsarbeit müde zurück ins Bett trieb.

Das Mittagessen so kreativ, dass ich vor lauter kulinarischer Überraschung auf dem Essensplan nachsehen musste, was sie mir da kredenzt haben (und nein, das Bild zeigt keinen Reibekuchen oder Verwandtes). Krankenhaus_Mittagessen

Wie heißt es doch so schön: Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König, Abendessen… Soll ich Dir noch ein Bilder vom Abendessen schicken?

Das Essen wurde eigentlich nur vom Fernseher getoppt. Krankenhaus_FernseherUnd das während der WM! Ne, ich musste weg. Weitergehen…“

Lachend fügte er noch hinzu: „Denn ich bin zwar nur noch ein Halbgemächtling, aber zum Glück hängt es ja nicht daran, wie viel Cojones man hat – denke nur an den Halbing Bilbo. Nicht kaputt zu kriegen!“

Seine Operationswunde verheilte gut. „Brennt nur noch manchmal.“ Die Naht sah von Tag zu Tag besser aus. „Und jucken tut sie mittlerweile.“ Es zwickte und zwackte meinen Freund zwar noch in der Leiste, wo der Chirurg den Schnitt gesetzt hatte, um an seinen linken Hoden heranzukommen. Der Bereich um die Wunde war druckempfindlich, und wenn er zu lange gesessen hatte oder er sich unvorsichtig bewegte, tat ihm die linke Leistengegend auch weh. Aber von Schmerzen konnte keine Rede mehr sein.

War der Chirurg auch kommunikativ nur ein Sechserkandidat gewesen, mit dem Skalpell hatte er zwischen den Schenkeln meines Freundes nach aktuellem Stand der Dinge 1A-Arbeit geleistet. Es war nach der OP keine Drainage notwendig gewesen. Die Körpersäfte hatten sich nicht an dieser für die Schwerkraft anziehenden Stelle gesammelt. Übermäßig geschwollen war nichts gewesen. Wie sich die Semikastration (auch so einer schöner Fachbegriff) auf den Hormonhaushalt meines Freundes auswirken würde, würde sich zeigen. Die Prognosen waren gut. Der andere Hoden würde die Arbeit für den verlorenen Bruder übernehmen, hieß es, Testosterongaben würden nicht notwendig werden (wenn denn der Krebs sich auch noch den zweiten Hoden holt, aber dafür gäbe es – wie das Ultraschall eindeutig zeige – keine Anzeichen). Somit wäre er immer noch zeugungsfähig – was mein Freund gut fand. Nicht weil er noch Kinder wollte, das nicht. Aber – so erklärte er: „Das schöne alte Wort ‚Gemächt‘ kommt nicht umsonst von ‚Machen‘, also übertragen ‚Kinder machen‘, und wurde nicht umsonst auch im Sinne von ‚Macht, mächtig sein‘ gebraucht werden – also Potenz. Und das würde mich ja schon sehr treffen. Wenn es dort einen Einschnitt gegeben hätte. Aber das sieht bisher nicht so aus. Apropos ‚Aussehen‘: Mein Spiegelbild hat sich, obwohl ich auf ein Hodenimplantat, so ein Silikonei, verzichtet habe, nicht großartig geändert. Finde ich natürlich fein!“ Mein Freund hoffte zu diesem Zeitpunkt noch: OP gut, alles gut! Weiter geht’s im Text… „Sag mir bitte, wenn wir telefonieren,“, meinte er, „wenn ich plötzlich höher spreche.“ Und es war klar, dass er dies scherzhaft meinte.

Gut 14 Tage nach der OP ging mein Freund wieder zur Arbeit. Neben seinem preußischen Pflichtgefühl wird auch dieses „Weiter geht’s im Text… Alles normal!“, eine Rolle gespielt haben. Zwar konnte er noch nicht über die volle Distanz eines Arbeitstages gehen. Aber sein Arbeitgeber war froh, ihn wenigstens einen Teil des Tages an seinem Platz zu wissen und ließ ihm freie Hand bei der Gestaltung seiner Arbeitszeit. Und von Tag zu Tag ging es besser. Mit dem Sitzen. Mit seiner allgemeinen körperlichen Verfassung. Hatte er sich in der ersten Arbeitswoche nach der Arbeit noch für mindestens drei Stunden hinlegen müssen, weil ihn der Tag so angestrengt hatte, gab es gegen Ende der zweiten Arbeitswoche bereits Tage, an denen es ihn nicht mehr sofort, wenn er nach Hause kam, in die Horizontale zog. Sein Leben schien sich zu normalisieren. Der Alltag schien in wieder zu haben… „Alles fit ihm Schritt?“, fragte ein Arbeitskollege (mein Freund hatte über die Semikastration kein Feigenblatt gelegt) auf erfrischend unbetroffene, gleichwohl eine ehrliche Antwort erwartende Weise. „Im Schritt alles fit!“, antwortete mein alter Freund, der zwischenzeitlich den histologischen Befund erhalten hatte, „Aber leider ist das nur die halbe Miete.“

In den Schoß fällt einem das nicht…

Mit der OP war leider weder der Krebs noch der communication breakdown erledigt.

Eine Woche nach der OP hat er den histologischen Befund erhalten. Für einen medizinischen Laien doch ein schwer zu verdauendes Stück terminologischer Dichtheit. Leider weilte sein Urologe im Urlaub (was er erst erfuhr, als er Rat suchend in der Praxis anrief), und der Vertretungsurologe war nicht wirklich in der Lage, die terminologische Dichtheit des Befundes in allgemein verständlich Informationen umzuwandeln. Mal ganz abgesehen davon, dass er mit sich selbst uneins war, wie der Befund interpretiert werden sollte („Ist alles ok, mit OP Krebs besiegt, oder vielleicht auch nicht, vielleicht doch noch Chemo, lieber einen anderen fragen…“). Mein Freund schwebte also in einer gewissen Unsicherheit, was die Natur seines Tumors anging, Klar war zu diesem Zeitpunkt nur: Es war ein Tumor. Klar war nur: Mein Freund hatte das dringende Bedürfnis, über seinen Tumor aufgeklärt zu werden.

Leider scheint es so, dass solche Aufklärung einem nicht in den Schoß fällt. Das ist Arbeit. Es gilt zu telefonieren, zu recherchieren, wieder zu telefonieren, Termine abzustimmen, bei diesen Terminen geistig so fit zu sein, um die richtigen Fragen zu stellen, die Antworten zu verstehen…

pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 So lautete die Quintessenz des Befundes. Eine Quintessenz, die wir dann aufgrund unserer Internetrecherchen diskutierten – aber was sind solche Recherchen schon wert? Ohne einen Fachmann, der hilft, diese Informationen einzuordnen. Der die puren Informationen mit seinen Erfahrungen abgleicht, um über einen Sachverhalt wirklich aufzuklären.

Glücklicherweise war der Hausarzt meines Freundes, auch wenn er in dem speziellen Fall eines pT-blabla-Tumors über keine Erfahrung verfügte, ein Mensch, der sich kümmert. So telefonierte dieser mit dem Klinikum. Erfuhr, dass am Tage seines Anrufes (etwas, das meinem Freund niemand gesagt hatte) ein Tumorboard stattfinden würde, in dem der Fall seines Patienten verhandelt werden würde. Er würde morgen ein Fax erhalten…
Es dauerte noch vier Tage (und mehrere Telefonate aus der Praxis seines Hausarztes), bis das Fax mit dem Protokoll des Tumorboardes endlich greifbar war, am 16. Tag nach der OP. Ein Protokoll, das im Diagnoseteil den histopathologischen Befund hinsichtlich der Einordnung des Tumors ins TNM-System wie folgt ergänzte: pT2 cN0 cM0 L1, R0. Ein Protokoll (Details s.u. Anhang 1), das ein klinisches Stadium 1B diagnostizierte und mit dem Therapievorschlag endete: „(2 Zyklen PEB) versus engmaschige Surveillance“.

Und da hatte mein Freund den Salat.

Chemo oder nicht? Aufgrund welcher Informationen sollte er das denn entscheiden? Eine Chemo ist schließlich nicht ohne (sowohl was die Nebenwirkungen als auch die zeitliche Ausdehnung der Therapie angeht, siehe unten Anhang). Woher die Kompetenz nehmen, diese für sein Leben so wichtige Frage richtig zu beantworten? Gibt es überhaupt eine richtige Antwort? Wird nicht erst das weitere Leben erweisen, ob er richtig entschieden hat?

Mein Freund ist ja eigentlich ein lustiges Kerlchen. Aber diese Entscheidung vor die er sich gestellt sah, schlug ihm doch aufs Gemüt. Er hatte das Gefühl, sich in kurzer Zeit zum Spezialisten für Hodenkrebs fortbilden zu müssen. Er hatte gelesen, 3 bis 4 Wochen nach der OP sollte – wenn denn nötig – mit einer Chemotherapie begonnen werden. Die Zeit drängte also…

Glücklicherweise hatte er, gleich nachdem er aus der Klinik entlassen worden war, gedrängt durch das Bedürfnis mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt (sein niedergelassener Urologe war ja noch im Urlaub), eine Privatsprechstunde mit dem Chef der urologischen Abteilung vereinbart, die ihn im Krankenhaus umsorgt hatte. Kein Gütekriterium. Aber der Chef, der leider zur Zeit des Klinikaufenthaltes im Urlaub gewesen war, hatte einen sehr guten Ruf. Das bestätigten mehr als 2 Quellen. Und so traf also mein Freund den Chef, und der war glücklicherweise aus ähnlichem Holz gemacht wie sein Hausarzt. Ein Kerl, dem seine Patienten am Herzen liegen. Das war sein Eindruck. Sein Eindruck jedenfalls, nachdem er zu ihm vorgelassen wurde. Denn zunächst wurde mein Freund von einem anderen Arzt untersucht. Hodensack abtasten. Ultraschall. Mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Wahr es. Fein. „Und kommt der Chef gleich noch dazu?“, „Äh, nein, wollten sie ihn sprechen?“

Einem Patienten fällt wirklich nicht in den Schoß, was er sich wünscht. Da muss einer schon auf seine Bedürfnisse pochen. Und das tat mein Freund. Und siehe da, die Tür ward ihm aufgetan. Eine Woche nach dem Erhalt des Tumorboardbescheides, am 22. Tag nach der OP, saß er endlich jemanden gegenüber, der fähig und willens war, ihn über seinen Tumor aufzuklären.

Chemo oder keine Chemo, das ist hier die Frage

pT2 cN0 cM0 L1, R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 hieß laut dem Chefarzt der urologischen Abteilung: Niedrig-Risiko-Non-Seminom, gute Prognosegruppe. Mein Freund hätte zwar von allen Hodentumoren die aggressivste Form (embryonales Karzinom) und der Tumor hätte auch schon eine gewisse Größe (pT2) erreicht und es läge zudem eine Infiltration der Rete Testis vor, aber dieses Non-Seminom (zu dieser Tumorart gehöre ein embryonales Karzinom) sei früh erkannt worden. Deswegen hätte das Tumorboard den Tumor in die Klasse 1B eingeordnet. Zwar sei im CT ein kontrollbedürftiger Lymphknoten medial der linken V. illiaca externa erkannt worden, aber aufgrund seiner Größe (9 x 13mm) könne dieser sich auch als normal erweisen (selbst wenn Lymphknoten über 1 cm als bedenklich eingestuft werden).

Bezüglich des Risikofaktors „Vaskuläre Invasion“ hätte er noch einmal mit dem Pathologen telefoniert. Der Pathologe sei sich hier nicht sicher gewesen, die Invasion sei in einem Grenzbereich angesiedelt, es sei nicht klar, ob eine Invasion vorliege, da er aber – wenn geschehen – eine Lymphgefäßinvasion für wahrscheinlicher als eine Blutgefäßinvasion halte, wäre L1 klassifiziert worden. Aber der Pathologie würde sich das Präparat noch einmal ansehen und sich melden. Diese Rückmeldung stehe noch aus. Aber er – der Chefarzt – gehe davon aus, dass sich bezüglich der Einordnung „Niedrig-Risiko-Karzinom / gute Prognosegruppe“ keine Änderung ergeben würde.

So weit, so gut (wenigstens im ersten Moment). Die Art und Weise, wie der Arzt meinem Freund im persönlichen Gespräch begegnete, besänftigte seine Enttäuschung über mangelnde Kommunikation und Information, die er nach seiner OP empfunden hatte. Und was würde er ihm nun raten, wie zu entscheiden sei? 2 Zyklen PEB Chemotherapie oder engmaschige Surveillance? Das könne er nicht sagen, dass sei eine Frage der eigenen Persönlichkeit.

Und da war der Moment, in dem es meinem Freund gut ging, auch schon vorbei. War das eine Antwort, die man hören wollte? Ich kann Ihnen hier nicht sagen, was sie tun sollten… Jäh war der Moment des Gefühls der kommikativen Umhegtheit verloren. Der Pathologe ist sich nicht sicher… Was sollte das denn nun bedeuten?

Mein Freund war, gelinde gesagt, frustriert. Was natürlich auf gewisse Weise paradox war: Auf der einen Seite misstraute er nach den Erfahrungen kurz vor, nach und ein bissel nach der OP ärztlicher Autorität, auf der anderen Seite spürte er die Sehnsucht, sich vertrauensvoll einer solchen Autorität anschließen zu können. Das ist dein Tumor, also tue jetzt das! Und er hätte sich sehr gerne, ohne Zweifel, der Autorität des Chefarztes angeschlossen.

Hodenkrebs sei auf jeden Fall heilbar, in über 90% aller Fälle, sagte der Chefarzt (wie schon der niedergelassene Urologe, sein Hausarzt, die Urologen der Voruntersuchungen…). Grundsätzlich wäre es ja schon einmal positiv, dass überhaupt eine Entscheidung anstehe. Wäre der Tumor nicht so früh erkannt worden, dann wäre klar, dass eine 4 Zyklen Chemotherapie folgen müsse, vielleicht sogar zusätzlich noch eine weitere OP, um Lymphknoten zu entfernen (Lymphknotenresektion). So aber hätte mein Freund die Wahl zwischen adjuvanter 2 Zyklen PEB oder engmaschiger Surveillance. Und diese Wahl sei, wie gesagt, eine Frage der Persönlichkeit. Genauer: Eine Frage, wie man aufgrund seiner persönlichen Konstitution mit statistischen Werten umgeht.

„Toll!“, meinte mein Freund zu mir, „Wie heißt es doch immer, glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast… Und überhaupt: Ich war weder ein Kerl mit Azoospermie (keine Spermien im Sperma nachweisbar), noch einer mit Hodenhochstand, noch gibt es eine genetische Disposition, da ich der erste in meiner Familie bin. Außerdem liege ich mit meinem Alter fast außerhalb der Kerngruppe der Hodenkrebspatienten. Also soll mir einer was von Statistik erzählen…!“

Der Chefarzt sagte: 30% aller Krebspatienten mit diesem Befund entwickeln Rezidive (also Folgetumore, Metastasen), von diesen 30% sind es 80%, die im ersten Jahr Metastasen bekommen. Bei einer Chemotherapie würde das Risiko auf ca. 3% gesenkt werden. Umgekehrt würde dies bedeuten: 70% der Hodenkrebspatienten mit seinem Befund bräuchten keine Chemo, da bei ihnen die OP ausreichte.

Der Chefarzt sagte: Die meisten Patienten würden in einem ähnlichen Fall die adjuvante Chemotherapie wählen, weil sie das Gefühl nicht aushalten würden, dass in ihnen noch Krebs lauern könnte, dass ihre Erkrankung eine tickenden Zeitbombe wäre. Sie würden sich der 2 Zyklen PEB Chemotherapie unterziehen, um das Risiko eines Rezidivs auf ca. 3% zu senken. 2 Zyklen PEB seien übrigens bei den meisten Patienten nicht so schlimm, gut auszuhalten (zum zeitlichen Aufwand und den Nebenwirkungen einer PEB Chemo vgl. unten den Anhang). Wähle man hingegen nicht die adjuvante 2 Zyklen PEB und gehöre schließlich zu den 30% (oder laut Urologielehrbuch: 14-22%), so dass sich erneut ein Tumor bildet, sich Metastasen zeigen, so seien 4 Zyklen PEB angesagt, und die seien die „Hölle“. Wähle man die adjuvante 2 Zyklen PEB und gehöre man dann zu den 3% (oder laut Urologielehrbuch: 3-5%), so würden natürlich auch 4 Zyklen PEB verabreicht, was dann ebenso die „Hölle“ sei. Aber egal wie sich mein Freund entscheide, Hodenkrebs sei in über 90% aller Fälle heilbar. Der Weg sei nur unterschiedlich schwer….

30 zu 70 – so lautete also die statistische Entscheidungsgrundlage. Die spätere Internetrecherche ergab, dass das Tumorzentrum Bonn auf die gleichen Zahlen kam. Im Urologielehrbuch steht: Beim Nichtseminom Stadium I low risk ohne Chemotherapie sei das Rezidivgefahr mit 14–22% relativ hoch. Bei einer Chemotherapie sinke dieses auf 3-5%.

Eigentlich eine klare Kiste. Wenn nicht mein Freund diese mittlerweile tiefsitzende Unsicherheit gespürt hätte, dass immer noch nicht erschöpfend geklärt ist, um was für einen Tumor es sich handelt, der bei ihm gewachsen ist. Mögen auch 4 Zyklen PEB die Hölle sein, so muss man sich gleichwohl, wenn es noch Unklarheiten bei der Diagnose gibt, nicht in die Vorhölle begeben.

Ein Königreich für Klarheit

Gott verdammt, was heißt jetzt dieses L1? Ist das nun eine vaskuläre Invasion oder nicht? Dies scheint mir doch der Kasus Knacksus zu sein. Wenn ich den Chefarzt richtig verstanden habe, ist es keine, jedenfalls keine, die ernst zu nehmen sei. Sonst würde ja seine Einordnung Niedrig-Risiko-Karzinom auch nicht stimmen. Aber vielleicht täuscht er sich ja auch? Vielleicht bin ich ja doch einer mit Klinischem Stadium 1 und hohem Risiko. So einer von denen, die in den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft als Patienten mit vaskulärer Invasion (high risk, pT2) beschrieben werden. pT2 bin ich ja schließlich auch.“

Mein Freund hatte diese Internetrecherchen im Augen (kursive Hervorhebungen je von mir):

  • Die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft (F2 Hodentumoren, hier das pdf: Hodenkrebs_Leitlinien) geben die Empfehlung, dass Nicht-Seminome im klinischen Stadium I wie folgt therapiert werden sollen: Patienten mit low risk Tumor pT1 werden überwacht und im Rezidivfall chemotherapiert. Patienten mit „vaskulärer Invasion“ (high risk, pT2) werden mit zwei Zyklen PEB adjuvant chemotherapiert.

  • Das Urologielehrbuch sagt Folgendes: Bei Niedrigrisiko Nichtseminom Stadium I besteht die Standardtherapie in der engmaschigen Überwachung (watchful waiting), da das niedrige Risiko der Progression keine Therapie mit Nebenwirkungen akzeptabel macht. Nachteilig sind der psychische Stress der initialen Nichttherapie, ungefähr 20 % der Patienten benötigen 3 Zyklen PEB bei Progress. Eine engmaschige Überwachung ist keine gute Option bei Patienten mit großer Tumorangst, hohem Therapiewunsch oder schlechter Compliance. In dieser Situation sollte eine adjuvante Chemotherapie mit einem Zyklus PEB empfohlen werden. Aber: „Die Gefäßinvasion im Orchiektomiepräparat ist ein entscheidender Risikofaktor für die Progression des nichtseminomatösen Keimzelltumors (Nichtseminom) Stadium I.“ Ist eine solche festzustellen, dann reicht engmaschige Überwachung als Therapie nicht aus.

  • Das Tumorzentrum Bonn fasst zusammen, dass bei Nicht-Seminomen im klinischen Stadium I zwar in dem operativ entfernten Hoden ein Tumor gefunden wurde, aber keine Metastasen festgestellt werden konnten. Aus Erfahrung wissen die Ärzte jedoch, dass in 30 Prozent der Fälle klinisch okkulte, nicht nachweisbare Metastasen in den Lymphbahnen versteckt sind. Hier bieten sich drei Therapieoptionen an: Vorsorglich könne 1. durch eine modifizierte oder nervenerhaltende Lymphadenektomie die Lymphknoten entlang der Metastasenstraße entfernt oder 2. eine adjuvante Chemotherapie durchgeführt werden, 3. sei eine abwartende und beobachtende Strategie („wait and see“) möglich. Die Behandlungsverfahren 1 und 2 sind mit Nebenwirkungen verbunden. Zudem kann man dagegen einwenden, dass es sich bei den 70 Prozent, die gar keine verborgenen Metastasen haben, um unnötige Therapien handelt. Hier also eine abwartende und beobachtende Strategie sinnvoll gewesen wäre. Leider weiß man aber vor der Therapie nicht, ob dieser spezielle Patient zu diesen 70 Prozent gehört. Ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidungshilfe ob 1, 2 oder 3 sei der Nachweis, ob der Primärtumor bereits in die Blut- und Lymphgefäße des Hodens hineingewachsen ist, denn das weist auf ein hohes Metastasierungsrisiko hin. In diesem Fall sei von einer abwartenden Strategie abzuraten.

Chemotherapie oder engmaschige Surveillance? Mein Freund will, um sich zu entscheiden, alle Informationen auf dem Tisch haben. Es muss doch möglich sein, dass bezüglich seines Tumors alle Unklarheiten aus dem Weg geräumt werden.

„Wenn L1 wirklich L1 ist, dann bleibt mir keine Wahl – Chemo ich komme. Dann ist der Tumor bereits auf den Weg zu neuen Gefilden und dann werd ich ihm diesen Weg mit Zytostatika zubomben – und hoffen, dass die Kollateralschäden nicht allzu arg sind. Aber wenn nicht…“

Leider drängt die Zeit, um das zu entscheiden. Wie gesagt, es hieß, mein Freund hätte ein Zeitfenster von 3 bis 4 Wochen nach der OP, dann sollte mit der Chemo begonnen werden – wenn er sich denn für sie entschiede. Das wäre quasi jetzt.

Und was würden Sie tun, wenn sie einen solchen Tumor hätten? Mein Freund stellte dem Chefarzt diese Frage per E-Mail. Eine Frage, auf die er erst kam, nachdem sein Hausarzt sich enttäuscht von der Entweder-Oder-Haltung des Chefarztes zeigte. Der Chefarzt rief daraufhin an. „Schwer zu sagen. Die meisten Patienten, die die adjuvante Chemotherapie gewählt hätten, würden später sagen, sie würden wieder so entscheiden. Viele Patienten, die sich für das Abwarten entschieden hätten, würden dies später bereuen. Die meisten, weil sie sich – obwohl der Krebs bislang nicht wieder ausgebrochen ist – dennoch wie eine tickende Zeitbombe fühlen. Manche, bei denen der Krebs ausgebrochen ist, weil sie sich die 4 Zyklen Chemotherapie gerne erspart hätten. Aber wenn sie mich auf eine Antwort festnageln wollen, dann würde ich die 2 PEB wählen. Vielleicht.“

Morgen, gut einen Monat nach der OP, hat mein alter Freund endlich den ersten Termin bei seinem Urologen, der ihn ins Krankenhaus überwiesen hat und der für die Nachsorge und Weiterbehandlung zuständig ist. Mit ihm hatte er, weil jener im Urlaub weilte, noch gar nicht sprechen können.

  • Wie lautet das abschließende Urteil des Pathologen bezüglich L1? Vaskuläre Invasion oder nicht, das ist die Frage.

  • Was sagt das Zweitmeinungsprojekts der Deutschen Hodentumor Studiengruppe (GTCSG) zu seinem Fall?

  • Und wenn Chemo: Reicht nicht auch 1 Zyklus PEB (vgl. oben Urologielehrbuch)?

Das sind die Fragen, deren Klärung sich mein Freund von seinem Urologen erhofft, um endlich eine Entscheidung treffen zu können, mit der er leben kann.

„Weißt du“, sagte er mir heute zum Abschied am Telefon, „Egal ob ich mich für eine Chemo oder für active surveillance entscheide – vermutlich wird in Zukunft der Gedanke mein steter Begleiter, dass vielleicht just in diesem Moment etwas in mir wächst – selbst wenn ich mich gut fühle und nichts davon spüre. Das wird eine Herausforderung werden, dem Krebs nicht zu viel Macht über mein Leben einräumen. Ihn ernst, aber nicht zu wichtig zu nehmen. Wie hast du geschrieben: “Kein Mensch – Hodenkarzinom links”. Pustekuchen Mann! Mensch!“

  Nichts ist gewonnen, alles ist dahin, Stehn wir am Ziel mit unzufriednem Sinn.“

(Macbeth, 3. Akt, 2. Szene, William Shakespeare)

 

Interessante Quellen:

www.urologielehrbuch: Hodentumore
Tumorzentrum Bonn: Hodenkrebs
Deutsches Krebsforschungszentrum: TNM-System und Staging. Befunde verstehen und einordnen
Forum Hodenkrebs Österreich: Tumorklassifikation bei Hodenkrebs
Zweitmeinungsprojekt der Deutschen Hodentumor Studiengruppe: Zweitmeinung Hodentumor

Ratgeber der Krebshilfe als pdf: Blauer_Ratgeber_Hodenkrebs_Krebshilfe
Die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft (F2 Hodentumoren) als pdf: Hodenkrebs_Leitlinien)


 

Anhang 1 – die Diagnose im Detail:

 

Diagnose des Hodenkarzinoms laut Tumorkonferenz:

  • Pluriformes nicht-seminomatöses Hodencarzinom links, prädominierendes embryonales Carcinom mit kleinen Seminomanteilen, Infiltration der Rete Testis
  • pT2 cN0 cM0 L1, R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3
  • Klinisches Stadium 1B
  • Kontrollbedürftiger Lymphknoten medial der linken V. Illiaca
  • Tumormarker Dokumentation (vor der OP): AFP 4,8 ng/ml, Beta-HCG 7,6mlU/ml, LDH 204 U/L

 

TNM-Klassifikation, Aufschlüsselung (laut Internetrecherche):

T = Tumorausdehnung (vorangestelltes p = pathologisches Stadium)

N = Lymphknotenmetastasen (vorangestelltes c = clinical stadium)

M = Fernmetastasen

L = Befall des Lymphgefäßsystem

R = Resttumorgewebe

V = Einbruch in die Venen

Quelle http://www.hodentumor.at/TNM.html

 

ICD-O 9070/3 = Embryonales Karzinom

ICD0 9061/3= Seminom

Quelle: WHO, International Agency for Research on Cancer, International Classification of Diseases for Oncology, ICD-O-3 online, hier: Morphological Codes (2011)

 

Anhang 2: PEB Chemotherapie – Ablauf und Nebenwirkungen

Zum Ablauf einer PEB Chemotherapie und den zu erwartenden Nebenwirkungen hat die Urologische Universitätsklinik Mannheim (hier wurde mein Freund übrigens nicht operiert) eine informative Patienteninformation herausgegeben (Quelle und pdf hier…):

„Patienteninformation zur Chemotherapie bei Hodentumoren nach dem PEB-Schema

Sehr geehrter Patient,

wegen eines Hodentumors soll bei Ihnen eine Chemotherapie durchgeführt werden. Die Chemotherapie ist Dank der intensiven klinischen Forschungen der letzten Jahrzehnte eine standardisierte und höchst erfolgreiche Behandlung geworden und garantiert in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung. Aufgrund Ihres Erkrankungsstadiums führen wir die Chemotherapie mit drei Medikamenten durch. Zum einen handelt es sich um das Medikament Cisplatin (P), zum zweiten um das Medikament Etoposit (E) und zum dritten um das Medikament Bleomycin (B). Die Abfolge der Medikamentengabe richtet sich nach
einem strengen Schema, welches wir Ihnen separat zu dieser Information aushändigen werden. Sie können also jederzeit mitverfolgen, welches Medikament Ihnen zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge verabreicht wird.

Neben der Chemotherapie werden Ihnen zusätzlich Medikamente verabreicht, die eventuell auftretende Übelkeit und Erbrechen weitgehend verhindern. Da die Chemotherapie die Bildung von Blutzellen im Knochenmark unterdrückt, ist es erforderlich, dass wir und auch zwischenzeitlich Ihr Hausarzt/Urologe in regelmäßigen Abständen Ihre Blutwerte kontrollieren. Vor allem zu wenige weiße Blutkörperchen
können zu zu einer Anfälligkeit für Infektionen führen. Tritt Fieber auf, müssen deshalb sofort stark wirksame Antibiotika gegeben werden. Niedrige Blutplättchen können zu einer beeinträchtigten Blutstillung bei Verletzungen führen. Die Übertragung von Blut oder Blutplättchen ist jedoch nur in Ausnahmefällen notwendig. Andere Nebenwirkungen wie eine Verschlechterung des Hörvermögens, Gefühlsstörungen in den Händen und Füßen, Geschmacksstörungen, Hautveränderungen sowie eine Beeinträchtigung der Lungenfunktion können in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. Deshalb ist es
notwendig, vor jedem Therapiezyklus die Funktion dieser Organe zu überprüfen, so werden Sie beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt zur Überprüfung des Hörvermögens, beim Augenarzt zur Kontrolle des Augenhintergrundes und beim Internisten zur Kontrolle der Lungenfunktion vorgestellt.

Eine weitere Folge der Chemotherapie ist eine Qualitätsverschlechterung der Spermien, und somit eventuell eine Einschränkung Kinder zu zeugen. Allerdings ist eine dauerhafte Schädigung oder gar ein Versiegen der Spermienproduktion selten. Nach der Chemotherapie erholt sich die Spermienproduktion rasch. Wir empfehlen Ihnen jedoch, vor dem Therapiezyklus eine Kryokonservierung (Tiefkühlung) Ihrer Spermien durchzuführen.

Für die Dauer der Behandlung und für einige Wochen nach der Behandlung können die Kopfhaare komplett ausfallen, was für Sie besonders unangenehm sein kann. Zu Ihrer Beruhigung können wir Ihnen sagen, dass die Haare nach Abschluss der Behandlung wieder nachwachsen.

Der grundsätzliche Ablauf der Chemotherapie bei Ihrer Erkrankung ist wie folgt:

Die Behandlung gliedert sich in mehrere Zyklen, wobei ein Zyklus eine Dauer von insgesamt 21 Tagen hat. Abhängig vom Erkrankungsstadium werden bei Ihnen einer, zwei, drei oder vier Zyklen durchgeführt. Diese Zyklen sind in der Verabreichung der Medikamente und Begleitmedikamente identisch. Jeder Zyklus beginnt am Tag 1. An den Tagen 1 bis 5 wird Ihnen eine festgesetzte (siehe Medikamentenplan) Anzahl von Medikamenten während der stationären Behandlung verabreicht. Die Gabe der Medikamente wird an den Tagen 1 bis 5 über einen zentral venös eingelegten Katheter
durchgeführt, da diese Medikamente aggressiv für die kleineren Venenwände (wie sie an den Armen vorkommen) sind. Die Einlage dieses Katheters wird von unseren Narkoseärzten durchgeführt. Hierüber werden Sie gesondert aufgeklärt.

Nach den Tagen 1-5, werden Sie aus unserer stationären Behandlung entlassen, sofern Sie keine körperlichen Beschwerden, wie z.B. Fieber oder stärkere Übelkeit und Erbrechen, haben. Am Tag 8 des Zyklus werden Sie wieder stationär aufgenommen zur Durchführung einer Chemotherapie über eine Armvene. An den Tagen 9 bis 14 findet keine Behandlung statt, Sie können diese Tage daher in der Regel zu Hause verbringen. Am Tag 15 findet die identische Verabreichung der Medikamente statt, wie am Tag 8. Am Ende dieses Tages können Sie unser Krankenhaus verlassen. Der Zyklus endet regulär am Tag 21. Am Tag 22 beginnt ein neuer Zyklus mit der Behandlung im Krankenhaus für 5 Tage. Wie bereits oben erwähnt, wird vor jedem Zyklus eine Kontrolle wichtiger Organfunktionen durchgeführt, wie z.B. die Kontrolle des Hörvermögens, des Sehvermögens und der Lungenfunktion. Dazu werden Sie bei den entsprechenden Fachärzten vorgestellt. Während der Behandlungszyklen, auch an Tagen, an denen keine Chemotherapie appliziert wird, ist eine regelmäßige Blutbildkontrolle erforderlich. Dank der Entwicklung neuer und sehr wirksamer Medikamente ist diese Chemotherapie, die Ihr Krebsleiden heilen kann, gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Appetittlosigkeit, Blutveränderungen, Haarausfall und die oben bereits genannten verschwinden nach Abschluß der Therapie. […]“

© Urologische Universitätsklinik Mannheim

Weitere Informationen:

Urologielehrbuch „PEB-Chemotherapie mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin“

Broschüre des Tumorzentrum Bonn „Hodenkrebs“, Abschnitt „Chemotherapie“

 


 

*Fußnote Nachtschwester Bea:

Bei all seiner Kritik am Krankenhauspersonal, an den Ärzten, die nicht mit ihm kommunizierten, den Pflegekräften, die z.B. nach der OP versäumten, die Vitalzeichen regelmäßig zu kontrollieren, die es mit der Händedesinfektion nicht so genau nahmen: Auf Nachtschwester Bea ließ er nichts kommen. Wie viele Patienten sie wohl in der Nacht zu betreuen hatte? In der Nacht nach der OP, als er nach schlaflosem Herumwälzen plötzlich Schüttelfrost bekommen hatte, war sie, nachdem er geklingelt hatte, nur wenige Minuten später gleich bei ihm. Nach einer zweiten Decke hatte er wegen seines Schüttelfrostes und seines Frierens gefragt. Die hatte sie ihm gebracht – und dann bei seinem Klagen über Schüttelfrost geschaltet. Fieber gemessen, rektal, weil genauer. Schließlich ist die Info, ob nach einer OP Fieber auftritt, nicht unerheblich**. Mehrmals war sie in dieser Nacht noch in sein Zimmer gekommen, hatte sich bei ihm, der nicht schlafen konnte, nach seinem Befinden erkundet. Hatte noch einmal Fieber gemessen.

Krankenhaus_Bett
Apropos messen: „Sie sind doch ein langer Kerl!“ In dieser Nacht, der zweiten, die er im Krankenhaus verbrachte, zog sie sein Bett auf eine seiner Körpergröße angemessene Länge aus und füllte die entstandene Lücke mit einem passenden Matratzenteil. Zuvor hatte er, wenn er das Kopfteil des Bettes hochfuhr, seine Beine anwinkeln oder seine Füße auf das Fußteil des Bettes legen müssen, um Platz zu finden. Er dachte, das wäre normal. Ginge nicht anders bei den Betten. Nachtschwester Bea wusste es besser. Nett und kompetent.

**Am Morgen drückte ihm die Tagesschwester ein elektronisches Fieberthermometer ins Ohr, dieses zeigte Normaltemperatur an. Als er erwähnte, dass in der Nacht rektal zweimal fast 38,5 Grad gemessen worden waren und vielleicht das im Ohrmessen nicht so aussagekräftig ist, holte die Schwester ein gewöhnliches digitales Thermometer und einige Plastiküberzieher aus dem Schrank: Er könne ja zwischendurch mal rektal messen…

 


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus

Patient 3. Klasse?
Bevor ich hier wiedergebe, was mir mein alter Freund aufgewühlt am Telefon schilderte, möchte ich betonen: Folgende Ausführungen sind sicherlich ungerecht, zudem völlig subjektiv und einseitig in ihrer Schilderung. Ein Einzelfall gesehen durch die Brille persönlicher Betroffenheit. Nicht die Regel also. Sicherlich nicht.

Bin ich zu empfindlich?

„Also bin ich zu empfindlich, oder was? Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Die können mich doch nicht einfach dort liegen lassen. Stundenlang in diesem dämlichen Flügelhemdchen. Ohne einen Schluck zu trinken, vor allem ohne Nachricht, dass sich die Operation verzögert, ohne von sich aus wenigstens einmal einen Blick in mein Zimmer zu werfen, um zu schauen, wie geht es denn dem Herrn in den vielleicht letzten Stunden mit all seinen Familienjuwelen.

Ich sage Dir, das ging mir auf den Sack. Die OP war auf 10 Uhr terminiert. Mich weckten sie um 7 Uhr, schickten mich zum Duschen. Anschließend Kompressionsstrümpfe und Flügelhemdchen überziehen. Habe dann noch ein wenig geschlafen. Wachte um halb 10 auf. Es wurde 10. Halb 11. Niemand kam. 11 Uhr. 12 Uhr. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass sie mich vergessen haben. Da klingelte ich dann doch einmal nach einer Pflegekraft. Die auch prompt kam. Das muss ich gerechterweise sagen. Ließ sich von sich aus auch nur selten jemand blicken, auf die Klingel wurde immer prompt reagiert. Und freundlich und hilfsbereit waren die Pflegenden dann auch immer. Aber wer will schon einer dieser lästigen Patienten sein, die immer klingeln?

Zudem: kann man nicht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erwarten? Jemand hätte doch auf den Gedanken kommen können, dass in Zimmer Soundso ein Mensch liegt, der eine OP vor sich hat, eine Vollnarkose, und vielleicht sogar eine einschneidende Veränderung in seinem Leben. Auf die Idee kommen, dass dieser Mensch wenn nicht ängstlich, so doch nervös ist. Dass hier ein wenig pflegerische Zuwendung jenseits von Temperaturmessen, Spritzensetzen, Bettmachen angebracht wäre? Auf mein Klingeln hin kam dann Auszubildender Andi (Pflegeschüler im dritten Jahr) und teilte mir auf Nachfrage mit, dass eine andere Operation dazwischen geschoben werden musste. Was ja auch kein Problem ist. Nur hätte ich das gerne eher gewusst. Dann hätte ich mich nicht so wie bestellt und nicht abgeholt gefühlt. Vor allem weil Auszubildender Andi nicht den Eindruck machte, dass diese Information für das Personal auf Station neu war.

Aber warum sollte auch jemand auf die Idee kommen, diese Information gegenüber demjenigen zu kommunizieren, der hier eigentlich schon seit 2 Stunden unter dem Messer gelegen haben sollte? Und überhaupt, die Kommunikation! Sag mir, bin ich zu empfindlich?“

Nein, versicherte ich meinem alten Freund, Du bist nicht zu empfindlich. Außerdem fand ich, dass er bei der Diagnose und weil eine Operation, egal welcher Art, immer gewisse Risiken trägt, alles Recht gehabt hätte, empfindlich zu sein. Aber er hatte, ohne noch einmal zu klingeln, bis um 13.30 Uhr ausgeharrt, als sie ihn endlich zur OP holten.

Krebs. Eine schreckliche Diagnose. Ein Schock. Aber dann doch nicht ganz so schlimm, wie mein alter Freund meinte. Denn: Hodenkrebs. Gut heilbar, wie die Doctores versicherten. Puh. Glück im Unglück gehabt. Doch dann sackte das Wort tiefer in sein Bewusstsein. Sackte an die Stelle seiner selbst, an der das ganze feine Gespinst an Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Vorurteilen, Hoffnungen, Ängsten, Leidenschaften zusammenlief, die in ihrer Summe das Selbstbewusstsein ausmachen. Hodenkrebs. Oh Mann! Ein Schock.

Kommunikation – nicht Krebs – das war jetzt einige Tage nach der OP das Thema meines Freundes. Vielleicht schob er dieses sich aufgrund seiner Erfahrungen anbietende Thema vor das Schreckgespenst „Krebs“, vielleicht war er auch einfach froh, sich an einem anderen Thema als der Diagnose und ihren Konsequenzen abarbeiten zu können. Vielleicht nutzte er auch nur sinnvoll die Wartezeit auf den histologischen Befund mit berechtigter Kritik an dem Teil des Gesundheitssystem, mit dem er in Berührung gekommen war.

Wie auch immer. Ich konnte seine Kritik nachvollziehen, ja nachfühlen. Auch ich hatte mich vor nicht allzu langer Zeit einer Operation unterziehen müssen. Ein Daumenbruch, der unter Plexus-Narkose gerichtet und verschraubt werden musste. Also nicht vergleichbar mit seiner OP. Aber gleichwohl hatte auch ich in einem Vorbereitungsraum gelegen. Während um mich herum letzte Vorbereitungen getroffen wurden, dämmerte ich aufgrund des oral gegebenen Beruhigungsmittels bereits weg. Plötzlich schob sich aus der Geschäftigkeit um mich durch den Sedativnebel hindurch ein Wort, das ich im Vorfeld der OP bereits an mehreren Stellen unter der Rubrik „Allergie“ zu Protokoll gegeben hatte: Penicillin. Ich hatte es beim Orthopäden in meiner Heimatstadt gesagt und es war notiert worden. In der handchirurgischen Praxis, in die ich überwiesen worden war, wurde meine Penicillin-Allergie in den Unterlagen vermerkt. Beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus, wo die Handchirurgen OP-Zeiten gemietet hatten, hatte ich es ebenso wie gegenüber dem Narkosearzt gesagt, bei dem ich im Vorfeld der OP vorstellig wurde. Zudem war auf Station von einer Krankenschwester in mein Patientenstammblatt eingetragen worden, dass ich auf Penicillin sehr allergisch reagiere. Gleichwohl hörte ich in meinem präoperativen Dämmerzustand, dass die eine OP-Schwester die andere bat, schon einmal das Penicillin für die OP vorzubereiten. Kaum mehr Herr meiner Sinne, geschweige denn meiner Stimme, die nach 3 Promille Alkohol im Blut klang, konnte ich gerade noch Widerspruch einlegen. „Oh.“, meinte die eine der beiden OP-Schwestern nur, „Dann bereiten wir ein anderes Antibiotikum für die OP vor.“

Oh ja, die Kommunikation

Oh ja, die Kommunikation – ich kann verstehen, warum mein alter Freund so sauer war, dass diese sich in seinem Fall als so mangelhaft herausstellte. Ich teile zwar nicht seine Angst davor, dass vor einer OP Patienten verwechselt werden oder versehentlich an falschen Stellen operiert wird. Aber ich fand es ebenfalls bedenklich, dass der Urologe im Krankenhaus teilweise die Schrift seines Kollegen, der die Voruntersuchung gemacht hatte, nicht lesen konnte. „Was steht da?“ „Patient konnte sich noch nicht für oder gegen Prothese entscheiden.“, half mein alter Freund dem Krankenhausurologen die Schrift zu entziffern. „Ah ha, und möchten sie jetzt im Fall einer Orchidektomie eine Silikon-Prothese erhalten?“, fragte dieser dann, und kritzelte das Nein meines Freundes in einer ähnlich unleserlichen Schrift neben den fraglichen Satz.

„Warum eigentlich alles handschriftlich?“, fragte mein Freund mich. Sicherlich wird alles in der EDV erfasst, wandte ich ein, wobei ich dies ehrlich gesagt nicht wusste. „Meinst Du? Ich habe niemanden bei allen Vor- und Aufnahmegesprächen etwas in einen Rechner eingeben sehen. Diverse Bögen mit vielen Fragen, die entweder von einer Krankenschwester oder einem Arzt oder von mir handschriftlich ausgefüllt wurden – und das nicht immer leserlich. Aber wie auch immer, jedenfalls hätte ich vor der OP gerne noch den Chirurgen gesprochen und von ihm gehört, was er mit mir zu tun gedenkt.“ Ich dachte an meine Penicillin-Erfahrung und musste ihm in gewissem Umfang Recht geben, was seine Befürchtungen anging. Man hört ja auch so viel. Und auch wenn so vieles, von dem man hört, nicht wahr ist, könnte vor einer OP dennoch auf eventuell vorhandene Ängste eingegangen werden.

Mein Freund sah den Chirurgen nicht, nicht vor und nicht nach der OP. Ich versuchte, ihn zu beruhigen: Vielleicht bist du ja aufgrund des Sedativs weggedämmert, bevor der Chirurg mit dir sprechen konnte, oder du erinnerst dich nicht daran.

„Pah, weggedämmert! Patient 3. Klasse, das ist es, sag ich dir!“, fauchte mein Freund wütend ins Telefon hinein. „Es ist genauso, wie es die Schwester beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus vor sich hingemurmelt hatte. Sie blickte auf meine Unterlagen, stellte fest: Sie sind bei der AOK. Dann fragte sie: Irgendwelche Zusatzversicherungen? Als ich verneinte, murmelte sie, während sie den entsprechenden Eintrag machte, vor sich hin: Ah, 3. Klasse. Und deswegen ließ sich der Chirurg auch nicht blicken!“

Patient 3. Klasse?

Patient 3. Klasse? Das ist vielleicht ein wenig zu hart gesagt. Aber hinsichtlich der Kommunikation hat sich das Krankenhaus-Team ihm gegenüber jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert.

Es ist nicht korrekt, dass niemand vom Operationsteam nach der OP mit meinem Freund sprach, nachdem er aus der Narkose erwacht war. Die Pflegekräfte im Aufwachraum sagten, sie könnten nichts sagen, weil sie bei der OP nicht dabei waren. Auf Station konnte man nichts sagen, weil sie noch keine Informationen hatten. So lag mein Freund also da, nicht wissend, wie die OP gelaufen war, ob es Komplikationen gegeben hatte, und vor allem: Hatten sie ihm den – hoffentlich linken – Hoden jetzt entfernen müssen? (es fühlte sich so an, aber wirklich sicher war er sich nicht). Und hatten sie die Biopsie des rechten Hodens vergessen (fühlte er unter seinen Fingern an besagter Stelle doch kein Pflaster, keine kleine Wunde). Nein, er erhielt zunächst keine Antworten. Die erhielt er erst am folgenden Tag bei der Visite.

„Das gleiche Trauerspiel beim CT!“, erboste sich mein Freund. „Am Tag nach der OP um 11 Uhr das CT, am Tag danach bequemen sich die Herrn Doctores dann, mir den Befund mitzuteilen.“

Nun gut, dass er beinahe 24 Stunden darauf warten musste, dass ihm jemand definitiv sagte, dass sie beim CT keine Metastasen gefunden hatten, ist verständlich. Der Radiologe muss Zeit finden, einen Bericht zu diktieren, der muss in der Schreibstube aufs Papier gebracht werden. Dieser abgeschriebene Bericht muss vom zuständigen Radiologen freigegeben werden… Das kann schon mal dauern… Dass es dauern kann, hat meinem Freund allerdings niemand gesagt hatte, der angesichts des für ihn folgenschweren Befundes mit baldiger Nachricht rechnete. Somit kann ich seine Wut auf das Krankenhaus verstehen, das Gefühl, dort als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Das Gefühl, dass niemand es für nötig hielt, ihn als mündigen Menschen zu behandeln.

Sicherlich war dies nicht so. Dieser Eindruck hatte sich bei ihm am OP-Tag verfestigt und durch diese Brille sah er dann alles weitere. Das eine oder andere Gespräch mit Freunden wird auch Eindruck gemacht haben. Wie, nach der OP kam nicht alle halbe Stunde eine Pflegekraft und hat Blutdruck und Temperatur gemessen? Das ist nicht korrekt! (denn alle halbe Stunde in den ersten 2 Stunden nach der Rückkehr auf Station müssen die Vitalzeichen kontrolliert werden, danach stündlich). Ich aber kann mir vorstellen, dass er die Stunden nach der OP erschöpft vor sich hingedämmert hat, so dass ihm entging, dass regelmäßig eine Pflegekraft bei ihm die Vitalzeichen checkte. Möglich ist das. Und somit ist seine Aussage, dass bei ihm erst gegen Abend, rund 4 Stunden nach der OP, wie üblich Temperatur und Blutdruck gemessen wurden, nicht auf die Goldwaage zu legen.

Zumal er sein allgemein negatives Votum selbst dahingehend abschwächte, dass Auszubildender Andi sehr bemüht gewesen sei und es auch verstanden habe, ihn mit seinen Scherzen zum Lächeln zu bringen (allerdings hätte er es mit der Händedesinfektion nicht so genau genommen). Zudem hätte sich der Urologe, der die Voruntersuchung durchgeführt hatte, für ihn viel Zeit genommen, um ihm die Diagnose und die Konsequenzen zu erklären. Auch der Urologe, der ihn bei der Aufnahme im Krankenhaus noch einmal untersucht hatte, sei sehr freundlich gewesen. Waren auch beide nicht mit einer leserlichen Handschrift gesegnet (aber vielleicht gehört das zum Berufsstand „Arzt“ auch dazu, dass man unleserlich zu schreiben hat, wenn ich mich da an manche ausgestellten Rezepte erinnere…), so gaben sich beide alle Mühe, ihm seine Situation verständlich zu machen und ihn zu beruhigen. Hodenkrebs sei sehr gut heilbar, sagten sie. Gute Chancen… Über 90% Zwar sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man seinen linken Hoden entfernen müsse. Aber das sei der erste Schritt zur Heilung. Und die geringe Menge im Blut gefundener Tumormarker deute daraufhin, dass der Tumor begrenzt und der rechte Hoden nicht befallen sei. Somit würde der gesunde Hoden für zwei arbeiten, kein Problem, für sein Mannsein würde sich somit nichts ändern. Testosteron würde er in diesem wahrscheinlichen Fall als orale Hormongabe nicht benötigen.

Falls man (ein „man“, das so unbestimmt bleiben sollte, weil mein Freund bis heute nicht den Namen des Chirurgen weiß) den linken Hoden entfernen müsse (das entscheidet der Chirurg während der OP durch bloße Begutachtung und seine Erfahrung) müsse man natürlich die histologische Untersuchung des befallenen Hodens abwarten. Denn für das weitere Vorgehen, ob zum Beispiel eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie notwendig sei, sei die Art des Tumors entscheidend. Zudem würde eine Biopsie des recht Hodens durchgeführt werden, heißt, durch einen kleinen Schnitt wird eine winzige Menge Gewebe entnommen, um sicherzustellen, dass der rechte Hoden karzinomfrei ist. Aber wie gesagt, sagten beide Urologen: Gut heilbar. Gute Chancen… Viel Glück!

Eine Biopsie war bei meinem Freund nicht gemacht worden. Macht man nicht mehr nach neuen Richtlinien, erklärte der Oberarzt ihm am Tag nach der OP bei der Visite, ohne eigentlich etwas zu erklären. Warum macht man das nicht mehr? Aus welchem Grund wurde die Richtlinie geändert? Was bedeutet dies hinsichtlich der Frage, ob der rechte Hoden gesund ist? Fragen über Fragen, mit denen sie meinen Freund alleine ließen.

Kein Mensch – Hodenkarzinom links

Fragen, die zu weiteren Fragen führten: Warum sagten die Urologen bei der Voruntersuchung und bei der Aufnahme übereinstimmend, dass eine Biopsie durchgeführt werden würde? Waren sie freundlich, kommunikativ, vertrauenerweckend, aber nicht auf dem neuesten Stand der Dinge? Gar inkompetent? Was ist dann von ihrer Einschätzung zu halten, dass Hodenkrebs gut heilbar sei? Kurz: Mein Freund war bis ins Mark verunsichert.

Die beiden genannten Urologen waren ihm kompetent erschienen. Wären sie es nicht, dann wären sie sicherlich auch nicht mit so wichtigen Aufgabe wie Voruntersuchung und Aufnahme betraut gewesen. Oder täuschte er sich in der Wichtigkeit dieser Aufgaben? Waren sie in Wahrheit nur kleine, unbedeutende Rädchen im medizinischen Arbeitsprozess, auf die hinsichtlich einer erfolgreichen Behandlung der Patienten verzichtet werden könnte? War ihre Funktion, die sie mit Gesprächsbereitschaft und Freundlichkeit ausfüllten, vielleicht nur eine Art Zugeständnis an den Wunsch der Patienten als Mensch gesehen zu werden?

Sind Freundlichkeit und Kommunikationswilligkeit vielleicht nur ein Deckmäntelchen für Inkompetenz?

Ja, kann es sein, dass ein gewisses Maß an Unfreundlichkeit, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass nicht mit, sondern über den Menschen im Bett gesprochen wird, und ein gerüttelt Maß an Widerwillen zur Kommunikation mit dem Patienten, ein Widerwillen, der sich in einer abgehakten, von Fremdwörtern strotzenden, nur Fachleuten zugänglichen Aussagesatzsprache äußert, Zeichen von Kompetenz sind? Weil Ärzte nur dann im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten sind, wenn sie mit dem Patienten lediglich als Fall und nicht als Mensch zu tun haben? Weil Ärzte gewissermaßen eines Teiles ihrer medizinischen Kraft beraubt werden, wenn sie sich auf Menschensprache einlassen, wenn sie gezwungen sind, sich Laien verständlich zu machen. Weil die wirklichen Koryphäen auf ihrem Gebiet wahrhaft nur noch mit ihresgleichen kommunizieren können?

Somit wäre die Klinik kein Ort der Kommunikation zwischen Menschen, darf kein Ort der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch sein, weil sie ein Ort der Koryphäen ist. Das Bedürfnis meines Freundes, zu erfahren, was passiert ist, erklärt zu bekommen, was passiert, wäre demnach kontraproduktiv. Eigentlich ein Missverständnis. Liegt diesem Bedürfnis doch der Gedanke zugrunde, dass er ein kranker Mensch sei. Wohingegen er doch nichts weiter als ein Hodenkarzinom links ist. Jedenfalls sein sollte, um den Fachleuten die Kommunikation zu ersparen, die sie nur von ihren Aufgaben ablenkt und sie auf das Niveau des Allzumenschlichen hinabzieht. Dieses Missverständnis zu durchschauen, hieße, sich fraglos in die Hände der Fachleute zu überantworten und zu verstehen, dass Unfreundlichkeit und das Fehlen von Kommunikation keine Anzeichen von schlechter Pflege und Betreuung sind, sondern Zeichen des notwendigen Abstandes der Experten von ihren Fällen, um im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten objektiv das Richtige zu tun. Gottvertrauen ist gefragt!

Sähe mein Freund dies ein, so würde sich das schäbige Gefühl verlieren, als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Er würde nicht mehr darauf pochen, von den Ärzten als Mensch behandelt zu werden. Hodenkarzinom links. Mehr würde er in medizinischen Zusammenhängen nicht mehr sein wollen. Für menschliche Bedürfnisse gibt es schließlich die Familie, psychologische Beratungseinrichtungen, Seelsorger – oder Freunde wie mich.

Gott bewahre!

Und so erwarte ich jetzt jeden Moment den Anruf meines alten Freundes, der dann hoffentlich Gewissheit hat, welcher Art der Krebs war, der eine Operation notwendig gemacht hatte, weil nun endlich der histologische Befund vorliegt, dessen Ausfertigung sich etwas verzögert hat, wie mein Freund nach einigen Telefonaten herausfand. Warum?, dies konnte ihm niemand sagen. Wann es denn soweit sei, ließ sich nicht voraussagen.

Sicherlich hätte sein Urologe an seinem Heimatort diese Telefonate für ihn geführt, bei seinen Kollegen auf den Busch geklopft, um die Verfassung des wichtigen Befundes zu beschleunigen, oder wenigstens mündlich wichtige Anhaltspunkte für die anstehenden nächsten Schritte zu erhalten. Denn sollte aufgrund der Krebsart – Gott bewahre! Ein eher unwahrscheinliches, aber dennoch realistisches Szenario – eine Chemotherapie notwendig sein, so würde hier schnell gehandelt werden müssen. Aber sein Urologe vor Ort war für zwei Wochen in den wohlverdienten Urlaub gefahren, was leider versäumt worden war, meinem Freund vor seinem Klinikaufenthalt mitzuteilen. An einen Termin bei dem ihn vertretenden Arzt war schwer heranzukommen. Erst war der Anschluss der Praxis ständig besetzt, dann…

Aber schließlich hat es doch geklappt. Mein Freund hat dann noch per Telefon dafür gesorgt, dass der Vertretungsarzt alle Unterlagen erhält („Na, hoffentlich klappt das!“, meinte mein Freund vor einigen Tagen mit müder Stimme). Heute ist dieser Termin. Er war schon vor einigen Stunden. Ich bin schon ganz kribbelig. Nun gut, vielleicht musste mein Freund lange warten, vielleicht – ah, endlich. Das Telefon klingelt.

pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3

„Ich bin einfach nur müde.“, meinte mein alter Freund am Telefon, „Ich hoffte so sehr, zu erfahren, was genau für ein Karzinom sie aus mir herausgeschnitten haben. Ich mein, diese Information ist doch wichtig, oder? Vor allem wollte ich wissen: Hat die OP dem Krebs den Garaus gemacht oder sind weitere Schritte angesagt?“

Den histologischen Befund hatte er am Morgen vor seinem Termin beim Urologen erhalten. Das Krankenhaus hatte den Brief des Pathologen per Post an meinen Freund geschickt. Was ihn, wie er einräumte, positiv überraschte, hatte er doch nach seinen Erfahrungen mit dem Krankenhaus nicht damit gerechnet, von dort noch etwas zu hören. Allerdings lag dem Befund kein Brief bei, der etwa eine Art Übersetzung der Pathologensprache oder eine Empfehlungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens enthalten hätte. Aber nun gut, die uro-onkologische Nachsorge sollte ja auch – wie es in dem vom Krankenhaus zur Entlassung meines Freundes ausgestellten Arztbrief stand – durch den Urologen an seinem Heimatort erfolgen („Entlassung des Patienten … in Ihre geschätzte Weiterbehandlung nach Hause“). Der bzw. seine Urlaubsvertretung würde ihm dem Befund schon erklären können, hoffte mein Freund, der den Befund auf dem Weg zum Vertretungsurologen las, aber nicht verstand.

Auch der Vertretungsurologe hatte den Befund erhalten (noch ein Pluspunkt fürs Krankenhaus, das hatte also geklappt), aber er hatte diesen ebenso wenig wie den Arztbrief des Krankenhauses gelesen. Er überflog beide im Beisein meines Freundes.

„Ja, das sieht doch gut aus!“, meinte er nach Durchsicht des Arztbriefes, „OP gut verlaufen, CT ohne Befund, keine Metastasen.“ Der Urologe blätterte die zwei Seiten des histologischen Befundes hin und her, „Ich würde sagen, der Krebs ist weg!“ Mein Freund atmete auf. „Also war es das für mich. OP und gut.“ Der Urologe blätterte nochmals die zwei Seiten des histologischen Befundes hin und her. „Ja!“, antwortete er.

Mein Freund wollte aber dennoch etwas mehr über den Befund erfahren, über dieses Ding, das an empfindlicher Stelle bei ihm gewuchert war und das eine „Semikastration“, wie es im Befund stand, notwendig gemacht hatte. Was ist ein embryonales Karzinom?, fragte er also. Das ist ein embryonales Karzinom, antwortete der Mediziner.

„Also bin ich zu empfindlich, oder was?“, rief mein alter Freund erbost ins Telefon hinein, „Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Was sollte ich jetzt noch von seiner Prognose halten, dass der Krebs weg ist?“

Er hatte dann den Urologen noch gefragt: „Ist ein embryonales Karzinom ein Seminom oder ein Non-Seminom?“ Denn er hatte gelesen, dass dies die für die weitere Behandlung wichtige Grundunterscheidung bei Hodenkrebs sei.

„Und dann, ich fasste es nicht, holte der ein Urologielexikon aus dem Schrank, setzte sich neben mich und schlug den Begriff nach. Was hat denn die Klinik als weiteres Vorgehen empfohlen?, fragte er währenddessen. Nichts, sagte ich, die Ärzte hatten den Befund nicht vorliegen und haben mich zur uro-onkologischen Nachsorge an ihren Kollegen, also, da dieser im Urlaub ist, an sie weitergereicht.“

„Aha!“, sagte der Urologe, erzählte mein Freund, dann blätterte der Arzt noch etwas im Lexikon herum und meinte dann: Vielleicht sollten wir doch noch eine Chemotherapie machen, nur zur Sicherheit! Aber da sollte man, also sein Kollege, der ja noch eine Woche im Urlaub ist, noch einmal Rücksprache mit dem Pathologen halten und mit dem Leiter der Urologie im Krankenhaus sprechen, um das weitere Prozedere abzuklären…

„Ich bin so geschafft und gleichzeitig so wütend.“, sagte mein alter Freund, „Anderthalb Wochen sind seit der OP vergangen. Es kann doch nicht sein, dass mir niemand sagen kann, was genau für ein Karzinom sie aus mir herausgeschnitten haben und ob jetzt noch weitere Schritte angesagt sind oder ob die OP ausgereicht hat, den Krebs zu entfernen!“

Nein!, gab ich ihm Recht, das darf nicht sein! „Danke dir!“, entgegnete mein Freund mit müder Stimme, „Ich leg‘ jetzt auf. Werd‘ versuchen, jemanden ans Telefon zu bekommen, der mir erklären kann, was pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 bedeutet. Denn das scheint mir die Quintessenz des Befundes zu sein. Vielleicht erwische ich ja den Pathologen. Vielleicht jemanden von der Krankenkasse, die haben doch so ein Ärztetelefon. Meinen Hausarzt werde ich auch anrufen, der kennt sich eigentlich immer gut aus, vielleicht weiß er Rat. Aber zuerst rufe ich im Krankenhaus an. Jetzt, da der Befund vorliegt, müssen die mir doch etwas sagen können…!“

Wir verabschiedeten uns voneinander, dann fuhr ich meinen Rechner hoch. pT2 L.1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 – mal schauen, ob das Internet hier stichhaltigere Informationen bereithält als bisher die Ärzte meines Freundes. Eigentlich ein trauriger Gedanke.


Nachtrag: Interessante Adressen, die ich im Internet fand:


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Von Mäusen und Menschen

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Natur ist doch etwas Schönes, denke ich in der Abenddämmerung im Garten sitzend, der an allen Ecken so natürlich wuchert, dass das Grün die Kanten und Grenzen überspringt (glücklicherweise auch von Nachbars her, so dass es hier zu keinen floralen Grenzkonflikten kommt). Während der Mond hinter einer bauschigen Wolke an einem ansonsten wolkenlosen Himmel hervorlugt, versuche ich mit meinen Augen dem Flug der Fledermaus zu folgen. Enge Kreise, weite Kreise, dann zick zack und zack in den nächsten Kreis, zick in die andere Richtung. Da, eine zweite Flugmaus. Größer als die Erste. Spreize ich meine Hände, so dürfte ihre Flügelspannweite meine Handspannweite übertreffen. Faszinierend. Und gar nicht so einfach, dem Flug der Mäuse in der Dämmerung zu folgen. Ach Natur. Was wäre der Mensch ohne? Und jetzt kommt auch noch der Igel aus seinem Versteck, raschelt durchs Gebüsch, knurps, knupser…

Durch das geöffnete Küchenfenster ruft meine Liebste zu mir in den Garten: Habe heute wieder eine Maus gefangen, ne Kleine, war ganz schwach, ließ sich mit einem Eimer leicht einfangen! Ja, die Natur. Ich habe ja schon einmal erwähnt, dass wir – seitdem wir eine Katze mit ausgeprägten Jagdverlangen haben – ein ebenso großes Mäuseproblem im Haus haben (vielleicht hätten wir sie doch nicht sterilisieren lassen sollen. Jetzt legt unsere Katze „typisch männliches Verhalten“ an den Tag: Jagen ist toll, kaum ist einem das Erjagte sicher, verliert der Kerl sein Interesse). Jedenfalls: Meine Liebste hat die Maus in der hintersten Ecke unseres Garten freigelassen. Und während die Fledermäuse flattern und der Mond scheint, stelle ich mir vor, dass ich es eigentlich nett finden würde, so putzig natürlich, wenn diese kleine Maus, vielleicht noch mit ein paar Kumpels, über unseren Rasen hüpft. Ach, hat sie sich glücklicherweise doch erholt! Und diese kleinen Öhrchen… Aber so ist das halt mit der Natur. Sie ist kein Zoo. Da sind keine Gitter, Gatter, Schutzzäune. Die Natur lässt sich von uns Menschen nicht einfach aussperren. Die putzigen Mäuse tanzen nicht einfach im Mondlicht auf dem Rasen. Sie rasen, kaum hat man sich umgedreht, durch Fenster, Türen, kleinste Spalte (gerne auch per Katzen-Express. „Einmal stillhalten und schon bist Du drin im Nahrungsparadies“), in den Bereich hinein, in dem man keine Natur haben möchte, sondern nur Kultur. Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein – und sonst nichts an Lebewesen.

Mit putziger Natur ist es vorbei, wenn sie in der Küche kleine, dunkle Spuren hinterlässt. Auch eine Fledermaus, deren Orientierungssystem kurzzeitig so gestört ist, dass sie sich durchs geöffnete Fenster in eines unsere Zimmer verirrt, ist nicht spaßig (Tollwut) – und gar nicht spaßig ist es, wenn die Katze es geschafft hat, eine Fledermaus aus der Luft zu holen, und sich beide im Gebüsch in Todfeindschaft gegenüberstehen, und diese Fledermaus wie eine ausgewachsene Schlange zischt und mit ihren Zähnen (beeindruckend) nach der Katze schnappt (Tollwut). Oder um ein florales Beispiel zu bringen: Ich sag nur Efeu. Efeu, der an der Hauswand empor rankt, drei Stockwerke bis zum Dach, übers Dach, der sich jeden Baumstammes in der Nähe bemächtigt und Tag für Tag höher zum Licht kriecht…

Ja, der Mensch und die Natur. Eine schöne Beziehung, wenn sich die Natur an Menschregeln hält, wenn sich Natur an Menschregeln halten würde. Dass sie dies nicht tut, zeigen gerade all die Falter und Flatterdinge, die in mein Arbeitzimmer hineinkreuchen, während ich diese Zeilen schreibe (habe das Fliegennetz noch nicht ans Fenster gespannt). Dass zeigen weit weniger harmlose Naturerscheinungen wie das Unwetter, dass an Pfingstmontag über weite Teile NRWs gerast ist.

Natur… Es gibt diese berühmte Stelle aus Goethes Werther. „Klopstock“. Werther und Lotte stehen am Fenster und betrachten ein Gewitter – und genießen dies. Diese Stelle, heißt es, würde einen Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen Mensch und Natur andeuten. Natur ist fortan etwas, das sich genießen lässt. Natur ist nicht mehr einfach nur Angstauslöser. Wohl ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen. „Erhabenheit“, dies war wohl Kants Begriff für das Gefühl, dass den Menschen angesichts einer übermächtigen Natur ergreift. Und ich möchte hinzufügen: Der moderne Mensch möge auch Demut empfinden. Ob nun Mäuse oder Gewitterstürme, die Natur ist kein Zoo. Wir sind mittendrin. Und ich sage es frei heraus: Der Mensch kann die Natur nicht genießen, wenn er nicht das Gefühl hat, sie gleichzeitig auf Abstand zu halten.

Natur ohne Grenzen ist des Menschen Untergang. Denn dann wird die Kultur überwuchtert. Und ohne Kultur kein Mensch. Bio ist schön und gut. Aber nur zertifiziert. Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich Werther und Lotte am Fenster stehen, ein Blitz schlägt in einen nahen Baum ein, die Krone bricht, fällt herab, erschlägt Werther und Lotte im Moment des genussvollen Anschauens… Es gibt kaum ein eindrucksvolleres Schauspiel als Naturschauspiele – aber genießen kann man sie nur aus einer sicheren Position heraus (oder im Nachhinein, wenn man sich die in furchteinflößender Situation geschossenen Handybilder ansieht und die Furcht-Situation vorbei ist). Hier zeigt sich dann der postmoderne Mensch: Der Griff zum Handy ist schon fast „natürlich“. Mittels Technik stellen wir eine Art „Grenze“ her, der Blick durch das Objektiv suggeriert eine Trennung zwischen Natur hier und Mensch dort. Ist natürlich ein Irrtum (was all die Handybilder bezeugen, die nie gezeigt wurden, weil Handy und Besitzer von der Natur überwältigt wurden). Ist natürlich eine gerne gesehene Illusion (was all die Handybilder bezeugen, die verbreitet wurden, weil Handy und Besitzer der Natur entkommen sind).

Von Menschen und Mäusen. Die Übermacht der Natur zeigt sich manchmal an kleinen, irgendwie auch putzigen Hinweisen. Wir haben sie einfach nicht im Griff. Die Natur. Denn wir sind ein Teil von ihr. Nur im Zoo gibt es Gitter, Gatter, Absperrungen. Also. Demut.

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