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„Hello Kitty“ oder ein Wichteln des Grauens. Eine vorweihnachtliche Geschichte

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3 Staffeln „Hör mal wer da hämmert“ auf DVD, „Nightmare on Elm Street“ Teil 1 bis 5 und „Bernhard und Bianca“ – dies war mein Weihnachten im vergangenen Jahr. Dazu grob geschätzt: 3 Tüten Paprika-Chips, 1 Tüte Chips mit Salzgeschmack, 2 Packungen Marzipan-Kartoffeln, Erdnüsse, 2mal gesalzen, 1mal ohne Fett geröstet, Salami-Pizza 2mal, 1mal Quattro Stagioni, das Ganze runtergespült mit 6 Flaschen Rotwein. Es war mein erstes Weihnachten seit 5 Jahren ohne Anna, einige Wochen zuvor hatte sie sich von mir getrennt. Einmal machte ich den Fehler, die Fernbedienung in die Hand zu nehmen und zappte vom Heimwerker-König weg ins TV-Programm hinein. Prompt landete ich bei Mary Poppins – und musste weinen. „Schim schiibi di schimm schibbi schimm schi schi bu…“. Mary sang und tanzte und drehte sich auf ihren Stiefeln im Kreis, diesen Stiefeln, die so schlanke Fesseln machen – und ich musste daran denken, wie Anna eines Tages kurz vor Heiligabend zur Tür hereinkam und dann ihren Mantel von ihren Schultern gleiten ließ und nichts weiter trug als ein tief ausgeschnittenes, sexy rotes „Ich bin Deine Weihnachtsfee“-Kleidchen und sich dann auf ebensolchen Stiefeln vor mir drehte… – und ich schaltete schnell zurück zum rülpsenden Tim, öffnete eine weitere Flasche Wein und später zu „Bernhard und Bianca“ noch eine.

Mein Fest der Liebe

Doch in diesem Jahr würde es zu Weihnachten keine unendlichen Stunden alleine mit Chips und Pizza auf dem Sofa vor dem Fernseher geben. Dachte ich, denn Anna hatte mich zu einem gemütlichen Weihnachtsessen bei sich daheim eingeladen. Außer mir würden zwar noch ein paar Freunde kommen, denn Anna wollte Wichteln, Scheiße-Wichteln um genau zu sein. Das hatte sie immer schon lustig gefunden, dass man alte Geschenke wichtelte, die man selbst mal bekommen hatte und so hässlich fand, dass man sie nicht behalten wollte. Ich hatte mich ungemein über diese Einladung gefreut. Hatte sie insgeheim erhofft. Schließlich waren wir uns in den Monaten zuvor wieder näher gekommen. 5 gemeinsame Jahre tut man ja auch nicht so einfach ab. Hatten ab und zu telefoniert, waren 2mal was trinken gewesen – und beim zweiten Mal, etwa drei Wochen sind seitdem vergangen, hatten wir uns zum Abschied geküsst. Mein neues Ich gefiel ihr offensichtlich. „Du bist so negativ!“, dies war einer der Gründe gewesen, weswegen sie sich von mir getrennt hatte. „Immer siehst Du nur das Schlechte, Peter!“ Und zuviel getrunken hatte ich für ihren Geschmack. Aber ich hatte nach unserer Trennung schwer an mir gearbeitet – also nach besagtem Weihnachten. „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!“ – dies Motto hatte ich mir nun auf die Fahne geschrieben, und versuchte seitdem Tag für Tag das Gute in allem, was mir widerfuhr, zu sehen – und dies mit wesentlich weniger Alkohol im Blut als die Jahre zuvor. Natürlich, oder gerade auch, an jenem Abend, als wir uns küssten: nur 3 Bier hatte ich getrunken, obwohl ich ungemein nervös gewesen war. Aber die Anstrengung hatte sich gelohnt – erst der Kuss, dann die Einladung. Ich hatte es schwer im Gefühl: Dieses Weihnachten würde mein Fest der Liebe werden!

Leberwurst in Black

Dann war es soweit. Obwohl ich nicht mehr als ein, vielleicht zwei Gläser Wein trinken würde, ließ ich meinen Wagen stehen und nahm ausnahmsweise den Bus. Im Gepäck hatte ich mein Geschenk für Anna: eine Sonderedition ihres Lieblingsparfüms, gerade erst auf den Markt gekommen. 10ml feinstes Dufterlebnis. Hatte lediglich den kleinen Flacon gekauft, schließlich wollte ich es nicht übertreiben. Noch waren wir ja getrennt. Für das Wichteln hatte ich ein Muskelshirt eingepackt, das mir lange vor Anna mal eine Freundin geschenkt hatte: schwarzes glänzendes Polyester, ein Ungetüm aus hautengem Design. Ich hatte es einmal Anna gezeigt – natürlich ohne es anzuziehen, schließlich passte ich schon lange nicht mehr hinein. Und sie hatte geschrien vor Lachen – und dann darauf bestanden, dass ich es dann doch überziehe. Woraufhin sie noch mehr lachen musste. Ich die Leberwurst in Black. Mit meinem Bauch, den ich mittlerweile hatte. Mit meinen Muskeln, die ich mittlerweile nicht mehr hatte. Es sah grotesk an mir aus. Es war, wie ich fand, ideal fürs Scheiße-Wichteln.

Voller Vorfreude stieg ich also in den Bus, summte leise Frankie goes to Hollywood vor mich hin: „Power of Love“. Der Bus war sehr voll. Aber das machte mir nichts aus, obwohl ich dermaßen gedrängte Menschenansammlungen nicht mag. Ich hatte Anna und unser Fest der Liebe im Herzen. Außerdem fand ich einen Sitzplatz. Bei der nächsten Haltestelle stand mein Sitznachbar auf und verließ den Bus. Ich rückte auf den nun freien Platz am Fenster und sah träumend hinaus, sah Anna und mich, in der Küche, aufräumen, nachdem alle anderen gegangen waren, wir, dann an den Kühlschrank gelehnt, küssend, streichelnd, dann wir am Küchentisch…

Hey Alder …

Plötzlich dachte ich, was stinkt hier so? Ich war dermaßen in Gedanken versunken gewesen, dass ich jetzt erst merkte, dass jemand neben mir saß. Ein Mann. Dem Augenschein nach gerade aus dem Bett gekommen. Dem Geruch nach schon geraume Zeit ungewaschen. Eine ekelerregende penetrante Mischung aus Schweiß und Alkohol schoss mir in die Nase – und die herrlichen Bilder von Anna und mir zerstoben in diesem Geruchsinferno. Zu allem Überfluss hatte er Schuppen. Ich rückte so nah ans Fenster, wie es nur ging. Hoffte inständig, er würde beim nächsten Halt aussteigen. Der Bus hielt, er aber blieb sitzen. Ein Schwung junger Leute kam herein. Sofort wurde es sehr laut im Bus. Nun war auch der ganze Gang im Bus voll. „Hey Alder, alles klar?“, „Alles klar, Alder, und bei Dir Alder?“ „Hey geil, Alder, sach Dir Alder, alles klar Alder!“ „Geil Alder!“ Die nächste Haltestelle. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der Mann mit einer Hand übers Haar strich. Er stieg nicht aus. Schuppen rieselten herab. Auf seine Schultern. Seine Beine. Meine Beine. Mich schüttelte es. Ein Handy klingelte. „Hey Alde, alles klar?“ Plötzlich berührte er mich mit seiner Hand an meinem Arm, ich zuckte zurück. „Entschuldigung“, sprach er mich an – und mir verschlug es den Atem ob des Geruchs, der dieses eine Wort begleite. „Echt Alde? Geil Alde, hast Du gehört Alder? Geil was Alder?“ „Entschuldigung!“, sagte er noch einmal, und ich atmete nur noch aus. „Wann kommt denn der Bahnhof?“, fragte er, und die Schuppen rieselten – und ich dachte nur noch: Lieber Gott, was habe ich getan? Und im gleichen Moment hörte ich Annas Stimme: Sieh doch nicht immer alles so negativ! Und ich sah auf seine Finger, an deren Enden Fingernägel waren, so abgekaut und dreckig, wie die Schuppen auf meiner Hose weiß, und riss mich zusammen, sagte mir: Weihnachten ist das Fest der Liebe, sei nett, es ist alles gut, sieh nicht alles so negativ! Gleich kannst Du aussteigen! Und sah ihm ins Gesicht, und sah, dass auch seine Augenbrauen voller Schuppen waren – und presste heraus, ohne Luft zu holen: „Fünf Haltestellen!“, und dankte Gott, dass ich gleich aussteigen konnte. Sagte „Entschuldigung!“, und stand auf, er stand auf, es war eng. „Immer langsam Alder!“, die jungen Leute machten Platz, ich drückte mich an ihm vorbei, möglichst ihn nicht berührend, der Bus hielt, ich zwängte mich durch all die Leute im Gang und stieg aus.

California Sunnyboy

Mein früheres Ich wäre jetzt bereits am Ende gewesen: Ein Abend, der so anfing, konnte nicht gut werden. Aber das war früher. An jenem Abend lächelte ich. Als der Bus weiterfuhr, zündete ich mir eine Zigarette an, strich mir die letzten Schuppen von der Hose und dachte an Anna. Wie ich mich freute! Mein Fest der Liebe! Ich ging rauchend die letzten Meter zu ihrer Wohnung, klingelte, der Türöffner ward gedrückt, ich warf die Zigarette weg, ging die Treppe hoch zu ihrer Wohnung, die ich so gut kannte, weil ich dort 5 Jahre ein- und ausgegangen war, stand vor der nur angelehnten Tür, fasste nach dem Türgriff und – in diesem Moment schwang die Tür auf und ein Kerl stand vor mir, einen halben Kopf größer als ich, blond, Marke California Sunnyboy, und lächelte mich an: „Du musst Peter sein!“ – und streckte mir seine Hand entgegen: „Ich habe schon viel von dir gehört! Ich bin Dennis!“ Und plötzlich war da auch Anna und hing diesem Kerl am Hals und küsste ihn auf den Mund und strahlte mich an und umarmte mich und küsste mich auf die Wange. „Ah, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht. Schön, dass du da bist! Nun sind wir ja vollzählig!“, sagte sie. Strahlte mich an mit ihrem herrlichen Lächeln. Strahlte ihn an und küsste ihn wieder auf den Mund. Der Abend verlief nicht so, wie ich es mir gedacht hatte. Ich überreichte ihr mein Geschenk und sagte mir: Lächle, es ist Weihnachten! Alles wird gut! Du bist Deines Glückes Schmied! Und betrat Annas Wohnung, folgte den beiden ins Wohnzimmer. Dort um den großen Tisch herum saßen 5 Personen, 4 kannte ich, es waren 2 mit Anna befreundete Paare, Nr. 5 war eine mir unbekannte Frau. Neben ihr der Platz war frei. „Setz dich!“, sagte Anna und drückte mich auf den freien Platz. „Das ist Peter!“, stellte sie mich vor, „Ein alter Freund von mir!“ Bei diesen Worten zerstob das letzte bisschen Hoffnung, das mir beim Anblick von Anna und ihrem offensichtlich neuen Freund noch geblieben war. Die Frau gab mir ihre Hand: „Hallo!“ Sie war hübsch. Also, so per se, nicht mit Anna verglichen. Aber immerhin. Ein Lichtblick.

Prost Prost Prösterchen

„Ich mache mich dann mal an die letzten Vorbereitungen!“, sagte der Kerl und ging in die Küche. „Ist er nicht toll?“, fragte Anna in die Runde, „Es gibt gefüllte Gans! Hat er alles selbst gemacht!“ In dem Moment kam er aus der Küche, eine Schürze umgebunden, „Hoffe, ihr mögt alle Gans!“ „Hmmm!“, machten alle. Ich sagte nichts. Anna hätte wissen können, dass ich Geflügel nicht mag. Ich griff nach dem Rotwein und schenkte mir das Glas gut voll. Trank es zur Hälfte in einem Zug aus. Ich mochte einfach keine Gans. „Trinkst du viel?!“, fragte die unbekannte Frau neben mir. Sie hatte ein Glas Wasser vor sich stehen. „Weniger als ich rauche!“, rutschte es mir raus – und leerte mein Glas. Sollte sie jemals nur einen Hauch von Interesse an mir gehabt haben, so war dies damit vorbei. Ich sah es in ihrem Blick, dann strahlte sie Anna an: „Erzähl doch noch mal, wie du und Dennis euch kennen gelernt habt, das ist so romantisch!“ „Oh ja!“, riefen die beiden Pärchen-Frauen wie aus einem Munde, während ihre Männer lächelten. Na, der Abend verlief ja wahrlich nach meinem Geschmack. Ich goss mir Wein nach, trank. Gerade einmal 10 Minuten war ich auf der Scheiß-Wichteln-Weihnachtsessen-Party und hatte das Quantum Alkohol, das ich mir vorgenommen hatte zu trinken, schon intus. Annas Geschichte war herzerweichend. 1 Jahr zusammen im gleichen Büro gearbeitet. Jeden Tag gesehen. Nett gefunden, aber nicht mehr gewesen. Außer – hier schelmisches Lächeln von Anna – einmal auf der Sommerparty… Dann nach einem langen Arbeitstag, als es regnete, von ihm nach Hause gebracht worden. Kaffee am Abend. Plötzliches Funken. Liebe auf den 150 Blick. Zack bum! Wie romantisch! Ich schenkte mir Wein nach. Mr. Gans kam aus der Küche, verkündete, dass es noch 5 Minuten dauern würde – und wer hätte Lust auf einen Aperitif? Ich sagte nicht nein. Selbst die Wassertrinkerin ließ sich von Mr. Gans zu einem Gläschen animieren. Prost Prost Prösterchen. Wir stießen alle miteinander an. Dann kam die Gans – und bei Anna und ihrem Koch ständige Blicke und Küsschen. Die Gans schmeckte sogar. Musste ich zugegeben. War ich froh, sagen zu können. Hatte mich nach dem dritten Glas Rotwein wieder gefangen und versuchte, ein netter Gast zu sein und mir selbst einen dennoch angenehmen Abend zu bereiten. Wenn ich denn schon einmal da war. Mein Charme ließ sogar die Dame neben mir etwas auftauen, so dass sie mir ein Lächeln schenkte. Und ich fand in diesem Moment sogar, dass sie hübscher lächelte als Anna. Auch die Figur, die sie in dem Kleid, das sie trug, machte, war ganz nach meinem Geschmack. Noch ein Glas von dem Aperitif mit mir zu trinken, schlug sie allerdings aus. Ich ging auf dem Balkon eine rauchen, alleine, war ich doch der einzige Raucher in der Runde. Von draußen sah ich sie alle lachen, und dann stand Anna auf, kam aber nach wenigen Augenblicken mit etwas in ihren Händen zurück, was eindeutig genauso aussah wie mein Geschenk für sie, nur viel größer. Ich drückte die Zigarette aus und kehrte zum Tisch zurück. „Ist er nicht süß!“, hörte ich Anna gerade noch sagen, „Seit Nikolaus habe ich jeden Tag von ihm ein Geschenk bekommen – und das hier heute: Mein Lieblingsparfüm!“ Und gleich 100ml davon, wie ich sah, als ich zur Flasche Wein griff. „Apropos Geschenk!“, lächelte Anna mich an und packte dann meine mickrigen 10ml aus. „Wie niedlich!“, meinte die Wassertrinkerin. Na, so hübsch wie ich vorher gedacht hatte, war ihr Lächeln auch nicht. Und das Kleid saß an manchen Stellen doch sehr stramm. Aber Anna schien sich auch über mein Geschenk zu freuen und küsste mich auf die Wange.

Mein Bärchen

Es war das letzte Mal an diesem Abend, dass ich mich zu einem Lächeln durchringen konnte. Denn schließlich wichtelten wir. Wir losten aus, wer von wem das Geschenk erhalten sollte. Wie es der Zufall wollte, musste Anna mich und ich ihren Dennis beschenken. Dennis machte den Anfang und überreichte einem der Pärchen-Männer ein Riesenpaket. Darin war eine beinahe 1 Meter hohe, knallig orange wie ein Gummibärchen aussehende Lampe. „Wie geschmackvoll!“, meinte der Beschenkte. Die anderen lachten. Anna küsste wieder einmal Dennis: „Mein Bärchen!“ Dann schlug sie in die Hände: „Jetzt ich!“, und drückte mir ein schmales längliches Geschenk in die Hände. Ich konnte es nicht glauben, was ich in Händen hielt, als ich das Papier aufgerissen hatte. „Ist das hässlich!“, entfuhr es der Wassertrinkerin – und sagte dies über ein Geschenk, welches ich Anna gemacht hatte, als wir gerade zusammengekommen waren. „Ja, nicht!“, meinte Anna und strahlte. Was ich da in Händen hielt, war ein originaler Hello Kitty-Brieföffner, der mich viel Geld gekostet hatte. „Wer hat dir das denn geschenkt?“, fragte eine der Pärchen-Frauen. „Weiß nicht mehr“, antwortete Anne, „Hab es ganz hinten in einer Schublade wiedergefunden.“ Das bunte Kätzchen glotzte mich vom Griff des Brieföffners blöde an, derweil Anna lachte. Damals hatte sie auf diese Hello Kitty-Sachen gestanden, als wir uns kennen lernten. Als sie noch auf mich stand. Plötzlich, wie ich da an diesem Weihnachtsabend jenseits der Grenzen des guten Geschmacks mit dem Hello Kitty-Brieföffner in der Hand saß und alle um mich herum ihren Spaß hatte, kamen mir sehr düstere Dinge in den Sinn, was ich doch jetzt mal mit diesem Brieföffner tun könnte. „Miau Miau!“, rief Dennis. „Schöne Muschi!“ nuschelte angetrunken einer der Pärchen-Männer, woraufhin seine Freundin hysterisch kicherte. Ganz und gar düstere Dinge kamen mir in den Sinn, was ich mit diesem Brieföffner in der Hand aus dem Fest der Liebe machen könnte. Aber ich tat nichts, außer mir noch einen Wein einschenken. Ich riss mich zusammen. Ein Glas noch, sagte ich mir, dann gehe ich. Der Wein wenigstens ist gut. „Jetzt ich!“, rief Dennis und packte mein Wichtel-Mitbringsel aus. „Na wow!“, meinte die Wassertrinkerin. „Und da hast du mal reingepasst?“ Ich antwortete nichts, zeichnete nur imaginäre Linien mit dem Brieföffner auf den Tisch. „Anziehen! Anziehen!“ skandierte mit einem Mal eine der Pärchen-Frauen, die andere fiel mit ein. Anna lachte – und ihr neuer Lover ließ sich nicht lange bitten. „Wow!“ meinte unwillkürlich die Wassertrinkerin, als er sich sein Hemd über den Kopf zog und ein ebenso schlanker wie muskulöser Oberkörper zum Vorschein kam. Dann zog er das schwarz glänzende Polyester-Muskelshirt an – und es sah doch recht anders aus als an mir. Keine Spur von Leberwurst in Black. Ich hatte Annas Lachen von damals im Ohr, als ich dieses Shirt trug, sah nun ihren Blick, der lächelnd und lüstern auf ihrem neuen Kerl ruhte, und meine Finger verkrampften sich um den Brieföffner in meiner Hand. Da gab es nur noch eins für mich zu tun: Ich kippte den Rest Wein hinunter. Stand auf. Ich musste gehen. Das Weihnachtsessen verlassen, ehe ein Unglück passierte. „Musst Du schon gehen?“, fragte die Wassertrinkerin und in ihrer Stimme hörte ich kein Bedauern.

Der Brieföffner in meiner Tasche

Ich verabschiedete mich quasi im Laufschritt. Meinen Mantel zog ich im Hausgang an. Kaum stand ich auf der Straße, brannte die Zigarette, und ich nahm einen tiefen Zug. Was für ein Abend! Mein Weihnachten vom zurückliegenden Jahr erschien mir nun nicht mehr ganz so schrecklich. Auf dem Weg zur Bushaltestelle begann es zu regnen. Wind kam auf, aus dem Regen wurde Schneeregen, den der Wind mir direkt ins Gesicht drückte. Meine Zigarette wurde nass. Für ein Taxi hatte ich nicht genügend Geld eingesteckt. Ich musste den Bus nehmen. Aber der Gott des Öffentlichen Nahverkehrs meinte es gut mit mir. Wenigstens ein Gott, der es an diesem Abend mit mir gut meinte. Mein Bus kam umgehend. Ich stieg ein. Der Bus war voller noch als auf der Hinfahrt. Die Scheiben waren beschlagen. Die Luft war zum Schneiden. Ich musste stehen. An der nächsten Haltestelle stiegen mehr ein als aus. Es wurde noch enger. Ich konnte mich kaum rühren. Plötzlich klingelte ein Handy, ganz in der Nähe. „Hey Alder, alles klar? Geil Alder, bin im Bus. Alder und du? Echt? Geil Alder!“ Der Bus hielt. Ein junger Typ stieg zu, schrie quer durch den überfüllten Gang: „Hey Alder, was geht?“! Der Andere in meiner Nähe schrie zurück: „Geil Alder! Und bei dir Alder? Was geht?“ „Ich sach dir Alder, da geht was!“ Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob der Brieföffner in meiner Manteltasche zuckte. Als ob er sich bemerkbar machte: Miau! Miau! Nimm mich doch mal in die Hand. Versuchte nicht auf diese Stimme zu hören, versuchte irgendwie an dem Gespräch der beiden jungen Männer vorbei zu hören, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die regelmäßigen Löcher in der Decke des Busses. Wofür sind die eigentlich gut? Durchlüftung? Wie viele das wohl sind? Ich begann zu zählen. In diesem Moment bremste der Bus ruckartig ab. Keiner fiel um, dafür war es zu eng. Aber mein Blick fiel nun durch einen Spalt zwischen den Leibern, der sich durch den Ruck aufgetan hatte, auf eine Frau, deren Körperumfang sich im Laufe der Jahre entschieden über jedes gesunde Maß hinaus entwickelte hatte. Aber nun gut. Das alleine wäre nicht so schlimm gewesen. Aber sie wirkte zudem auch sehr ungepflegt – und vor allem bohrte sie voller Inbrunst mit einem Finger in der Nase. Reiß Dich zusammen! sagte ich mir. Weihnachten ist das Fest der Liebe. Also liebe die Menschen. Miau! flüsterte mir der Brieföffner zu, während die Frau ihren Finger aus der Nase zog und ihren Fund betrachtete. Miau! Miau! Ich nahm alle meine Kraft zusammen: Weihnachten ist das Fest der Liebe! Während sie nun ihren Finger in den Mund steckte, und ich in meiner Tasche nach dem Brieföffner griff. Miau! freute sich Hello Kitty. „Los Alder!“ schrie der Junge in meiner Nähe. Und die Frau steckte ihren Finger zurück in die Nase. „Schauen was abgeht, Alder!“, schrie der Andere zurück. Der Bus hielt. Haltestelle Bahnhof. Die Türen des Busses öffneten sich und entließen den Großteil der Menschenmenge im Bus in die Kälte, mitsamt den jungen Männern, mitsamt der dicken Frau, die ihren Finger aus der Nase nahm, ihren neuerlichen Fund an der Vorderlehne abstreifte und sich mit großer Mühe aus dem Sitz hoch rappelte. Ich atmete auf, nahm meine Hand aus der Tasche. Das Miau verstummte. Ich setzte mich auf einen freien Platz am Fenster. Was freute ich mich auf meine Wohnung. Meinen Fernseher. Auf eine schöne große Schüssel Chips neben mir. Noch ein Glas Rotwein in Ruhe. Sicherlich gab es auch noch eine Episode „Hör mal wer da hämmert“, die ich noch nicht gesehen hatte. Ich blickte aus dem Fenster, derweil sich der Bus mit einer neuen Menschenmenge füllte. Jemand ließ sich neben mir auf den Sitz fallen. Und da war er wieder: dieser Gestank. Diese penetrante Mischung aus Schweiß und Alkohol. Seine Hand berührte mich an meinem Arm: „Entschuldigung!“, sagte er. Ich schloss die Augen Hello Kitty schnurrte in meiner Manteltasche. Ich griff hinein – und mit einem lauten Miau! begrüßte der Brieföffner meine Fingerspitzen.

Ende

Ungekürzte Kurzgeschichte veröffentlicht unter dem Titel „Leberwurst in Black“ in Boschers eBook / Taschenbuch „Tiefer in die Dunkelheit. Von Frauen, Männern und Monstern“

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Weiße Weihnacht vermisst? Dies ist für alle, die noch nicht in Weihnachtsstimmung sind

Vorweihnachtszeit 2014 – ein Blick auf die Einfahrt am Haus

Vorweihnachtszeit 2014 – ein Blick auf die Einfahrt am Haus

 

Heißa geht es holterdipolter den schneebedeckten Hügel hinunter, jauchzend schnell wie der Wind durch die weiße Pracht… Kinder lachen, Erwachsene strahlen, heißa, was’n Spaß! Winterfreuden! Weihnachtsstimmung!

Winterfreuden? Weihnachtsstimmung? Weiße Pracht?

Vorweihnachtszeit 2015

Vorweihnachtszeit 2015 – ein Blick auf die Einfahrt am Haus

Weiße Weihnacht vermisst? Die nun folgenden Bilder sind für alle, denen der Schnee fehlt – und die noch nicht so richtig in die Weihnachtsstimmung hineinkommen. Denn so sieht es im Moment aus:

 

 

Hier also die Weihnachtsfreuden und die Winterstimmung (Archivbilder), für alle, denen der Schnee fehlt. Dies düften viele Kinder sein, dann Arbeitnehmer, die Urlaub haben oder nicht zur Arbeit pendeln oder gar aus beruflichen Gründen Auto oder LKW fahren müssen; dann die, die nicht bis morgens um 7 den Gehsteig vom Schnee geräumt haben müssen oder die kein Dach über dem Kopf haben.

Winterfreuden:

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Weihnachtsstimmung:

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Winterfest:

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 Oh Du Fröhliche:

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Und ein Weihnachtsgedicht:

Weihnachten, dies ist eine magische Zeit.
Wie das duftet, nach Gebäck und Kerzenschein.
Ein Lächeln macht sich in den Herzen breit,
Die Freude gibt sich ein Stelldichein.

Ein Zauber durchweht die Dezembertage,
Jetzt endlich ist es wieder soweit,
Das Fest der Liebe, der frommen Sage,
Weihnachten, dies ist eine magische Zeit.

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Das liebende Herz von morgen ist das Lebkuchenherz von heut

Fröhliche_Weihnachtszeit
Bald ist wieder die Zeit gekommen… die Zeit für „Ein haariger Heiligabend“… oder ist sie vielleicht schon da? Schon vor Wochen sah ich sie erstmals im Supermarkt, ein ganzes Regal voll, die ersten Vorboten der Weihnachtszeit: Lebkuchen, Weihnachtsgebäck, Marzipanstangen, und ja, Schokoweihnachtsmänner… – und mein Eindruck ist: Immer früher wird versucht, weihnachtlich kulinarische Begehrlichkeiten zu wecken. Ist dies schlecht? Ist das gut?

Glaubt man der Werbung, so ist es für viele Menschen ein Ereignis der Glückseligkeit, dass für manche Süßigkeiten nun endlich die Sommerpause vorbei ist. Warum diesen Zustand der Glückseligkeit nicht noch verstärken, in dem justament mit dem Vorspiel auf das Fest der Liebe begonnen wird?

„Liebe geht über den Magen“, heißt es. Kann es also schlecht sein, dass sich das Fest der Liebe über die Mägen all derer, die sich von den schon jetzt angebotenen Weihnachtsleckereien verführen lassen, immer weiter ausbreitet – Richtung Sommer? Schließlich kann es kann nicht genug Liebe auf der Welt geben. Und schaut man genau hin, so meint man bereits jetzt überall das Gefühl der Liebe um sich greifen zu sehen.

Lächelnd stehen die Pendler am Morgen im Stau zur Arbeit, winken mit einer Zimtstange in der Hand den Wartenden auf der Zufahrtsstraße zu, damit die sich in den Stau einreihen können. Nachbarn, die sich den ganzen Sommer gestritten haben, weil der eine zu oft gegrillt, der andere zu wenig den Vorgarten gepflegt hat, stehen nun fröhlich schwatzend am Gartenzaun, während sie sich eine Packung Marzipankartoffeln teilen. Die Bankerin, die gerade eine Familienpackung Spekulatius verdrückt hat, bietet dem Hippiemädchen einen Platz unter ihrem Regenschirm an und so gehen vormals getrennte Welten vereint durch den Regen. Sehet den Neonazi mit rasiertem Schädel, wie er nach dem Genuss eines Schokoweihnachtsmannes dem dunkelhäutigen Mädchen dabei hilft, den platten Reifen ihres Fahrrades zu reparieren.

Oh du fröhliche Weihnachtszeit,
Es ist endlich soweit.
Harmonie aller Orten
Himmelweit auf stehen die Pforten
Zur Glückseligkeit.
Ein Lächeln macht sich auf den Gesichtern breit,
Wie das doch die Menschen überall freut.
Das liebende Herz von morgen
Ist das Lebkuchenherz von heut.
Vergessen sind bald alle Sorgen,
Kauft, esst, denn endlich ist soweit,
Es beginnt die fröhliche Weihnachtszeit.

Ja, bald ist die Zeit gekommen… die Zeit für „Ein haariger Heiligabend“.

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Ein haariger Heiligabend – „Ho! Ho! Ho! oder Tante Marthas Hintern“, eine unbesinnliche Weihnachtsgeschichte

Ungekürzte Weihnachts-Kurzgeschichte aus Ralf Boschers eBook / Taschenbuch „Tiefer in die Dunkelheit. Von Frauen, Männern und Monstern“

Haariger_Heiligabend_Ralf_Boscher
Ein haariger Heiligabend

Es traf mich völlig unvorbereitet. Wenn es bereits November gewesen wäre, oder wenigstens Ende Oktober, ja dann hätte ich damit gerechnet, aber doch nicht Mitte Oktober. Ich hatte gerade die Obsttheke im Supermarkt hinter mir gelassen und bog Richtung Tiefkühlkost ab, da sah ich sie. Eine ganze Palette. Lebkuchen. Ich versuchte noch, meinen Blick abzuwenden, aber es war zu spät. Und es geschah, wie es jedes Jahr seit diesem verhängnisvollen Heiligabend damals geschah. Ich sah das Bild vor mir.

Meine Therapeutin hatte es bei mir mit Desensibilisierung versucht, schließlich wollte ich einmal eine Familie gründen und würde es meinen Kindern schuldig sein, ihnen ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Da konnte ich doch nicht bei der kleinsten weihnachtlichen Kleinigkeit zusammenbrechen. Aber all ihre Versuche, mich allmählich an Weihnachten zu gewöhnen, zum Beispiel indem sie mir winzig kleine Weihnachtsmänner in der Absicht in die Hand gab, mich durch den Anblick gewissermaßen abzuhärten und mich so aus dem Bann des Bildes zu befreien, fruchteten nicht. Da mochte sie auch noch so beruhigend auf mich einreden, ich begann zu zittern, mein Puls raste, mir brach der Schweiß aus, ich sah das Bild vor meinem inneren Auge und zerquetschte so manchen Schokoweihnachtsmann in meiner sich verkrampfenden Hand. Die Therapie scheiterte. Und so war ich dem Anblick der Lebkuchen hilflos ausgeliefert.

Es war an jenem Heiligabend des Jahres geschehen, in dem ich 14 Jahre alt geworden war. Zusammen mit meinem Vater hatte ich wie jeden Heiligabend zuvor den Tannenbaum vom Garten ins Wohnzimmer geschleppt und aufgestellt. Das war ein Männerjob. Schmücken würden ihn meine Mutter und meine kleine Schwester, die – als Vater und ich uns mit dem Baum abmühten – in der Küche waren und Plätzchen backten. Auf diese Plätzchen freute ich mich schon seit Wochen, gab es bei uns im Elternhaus doch nur selten Süßigkeiten, und war Weihnachten eine der wenigen Gelegenheit im Jahr – vor allem neben Ostern und Nikolaus – an denen wir Kinder nach Herzenslust Süßes essen durften. Ich mochte Weihnachten. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass ich schon längst nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte. Ich hatte damit aufgehört, kurz nachdem ich entdeckte, dass es Tante Martha war, die Jahr für Jahr als Nikolaus verkleidet unser Haus besuchte (was sie mit offensichtlicher Freude tat, vielleicht allein schon deswegen, weil sie sich als Nikolaus ihren sprießenden Damenbart nicht rasieren musste). Von einer Tante Martha als Nikolaus zu ernsten Zweifeln an der Existenz auch anderer im Kinderleben wichtiger Gestalten war es kein weiter Weg, und als ich ihn einmal eingeschlagen hatte, dauerte es nicht lange und ich eröffnete meinen Eltern, dass es den Weihnachtsmann und den Osterhasen genauso wenig gäbe wie den Nikolaus. Meine kleine Schwester ahnte von all dem nichts. Ich brachte es einfach nicht über mich, sie in meine Erkenntnisse einzuweihen. So wie ihre Augen glänzten, wenn der 6. Dezember nahte und sie ihren Stiefel (oder wie sie es einmal in der Hoffnung tat, mehr Süßes zu bekommen, ein ganzes Dutzend Stiefel) vor die Tür stellte. Zauber der Weihnachtszeit. Und meine Eltern gaben sich alle Mühe, diesen Zauber nicht verfliegen zu lassen. Sie verkleideten sich sogar.

Am Morgen des besagten Heiligabends wurden wir – wie in den Jahren zuvor – von einem Engel geweckt. Mutter trug ein strahlend-weißes Nachthemd, aus dem an ihrem Rücken Engelsflügel herausragten, außerdem hatte sie ihre blonden, langen Haare zu einer Lockenpracht frisiert. Am Frühstücktisch wartete dann unser Vater als Weihnachtsmann verkleidet auf uns, in einem langen, roten Mantel, mit einem langen, weißen, umgehängten Bart und einer Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf, wobei er – während er uns Kindern heißen Kakao einschenkte – immer aufpassen musste, dass der weiße Bommel am Ende der Mütze nicht in unsere Tassen fiel. Diesen Bommel hatte ich den ganzen Heiligabend vor Augen. Er baumelte vor meinem Gesicht, als Vater und ich den Weihnachtsbaum aufstellten, er baumelte hin und her, während Vater und ich auf den Wegen rund ums Haus die abgefallenen Blätter zusammenfegten, und später am Abend dann, während meine Eltern uns Kinder vor dem Fernsehapparat wähnten, würde ich ihn bei einer Gelegenheit baumeln sehen, bei der ich den Bommel nicht hätte baumeln sehen wollen…

Bis zu dieser Gelegenheit verlief alles so, wie es sich für einen Heiligabend gehört (inklusive jäher Übelkeitsattacken bei meiner kleinen Schwester aufgrund übertriebenen Keksgenusses, was sie aber nicht daran hinderte, auch noch die Lebkuchen zu probieren und eine ganze Packung Marzipankartoffeln zu essen). Nach dem Aufstellen des Baumes, dem Backen der Plätzchen, dem allgemeinen Herrichten eines weihnachtlichen Hauses, aßen wir festlich zu Abend (was der Magen meiner Schwester zunächst einmal gut verkraftete). Im Sonntagsstaat saßen wir Kinder mit Engel und Weihnachtsmann am Tisch, wobei mir zwar die Blicke auffielen, die sich meine Eltern zuwarfen, aber ich dachte, dass aus ihnen die Vorfreude auf die Bescherung spricht, wenn wir Kinder nach dem Essen mit strahlenden Gesichtern die Geschenke auspacken würden. Ein paar Mal zupfte der Weihnachtsmann dem Engel neckisch am Flügel, wobei ich mir gar nichts dachte. Darüber, dass sich meine Eltern öfter als sonst einen Kuss gaben, regte ich mich nicht auf, ich nicht (meine kleine Schwester kommentierte es jedes Mal mit einem „das ist eklig!“), schließlich war ich schon vierzehn, hatte schon selbst ein Mädchen geküsst (den Sommer zuvor, im Freibad, hinter der Pommes-Bude) und natürlich wusste ich, dass meine Eltern auch andere Dinge taten. So Dinge, die Erwachsene halt tun. Ich glaubte wenigstens, zu wissen, was Erwachsene so tun.

Nach dem Essen kam die Bescherung, während der der Engel dem Weihnachtsmann einmal herzhaft an den Hintern fasste, was der mit einem „Ho! Ho! Ho!“ quittierte. Das bekam ich aber nur aus den Augenwinkeln mit, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, das Papier von dem größten aller Geschenke abzureißen, von dem ich vermutete, dass es die ersehnten Rollerskates sein würden. Nach der Bescherung sah sich unsere ganze Familie wie jedes Jahr den Kleinen Lord an, ich im Sessel mit meinen Rollerskates an den Füßen, meine Eltern und meine kleine Schwester, die sich herzhaft von dessen Kopf abwärts einem Schokoweihnachtsmann widmete, auf dem Sofa, während eine Kerze auf dem Tisch heimeliges Licht spendete. Tante Martha und Onkel Peter kamen kurz vorbei und brachten uns Kindern noch mehr Geschenke. Wir müssen aber gleich wieder weiter, sagte Onkel Peter, der der Bruder von Papa war. Aber auf ein Eierlikörchen bleiben wir noch! meinte Tante Martha. Nachdem die Erwachsenen ihr Gläschen getrunken hatten, meinte Mutter, sie bringe die beiden noch zur Tür und stand auf. Außerdem müsse sie in der Küche nach dem Braten für Morgen schauen, sagte sie noch. Und so begann meine heile Weihnachtswelt aus den Fugen zu geraten. Denn nur wenig später brummelte Vater etwas von „Schauen, wo Mutter bleibt!“ in seinen umgehängten Bart und ging ebenfalls hinaus. Meine Schwester hatte sich mittlerweile ihrer Tafel Kinderschokolade angenommen und schob sich einen Riegel nach dem anderen in den Mund. Ich versuchte in diesen unbeobachteten Momenten meine ersten Schritte mit den Rollerskates zu unternehmen, was aber auf dem Teppichboden nicht so gut ging, so dass ich mehr lief als rollte. Plötzlich begann meine Schwester zu husten, was ich zunächst nicht weiter beachtete, saß ich doch mittlerweile auf dem Boden und lauschte fasziniert dem surrenden Geräusch der Rollen, die ich mit der Hand drehte. Erst als meine Schwester aufhörte zu husten und stattdessen würgende Geräusche von sich gab, sah ich auf. Ich sah auf und erschrak. Offensichtlich hatte sie sich verschluckt, ihr kleines Gesicht war vor Anstrengung bereits rot angelaufen, während sie mich aus großen Augen anschaute und verzweifelt versuchte, das in der Luftröhre festsitzende Stück Schokoriegel herauszubefördern. Ich sprang sofort auf, um ihr zu helfen, vergaß in meinem Schrecken aber die Rollerskates an meinen Füßen, so dass ich das Gleichgewicht verlor. Leider stand ich neben dem Weihnachtsbaum. Hilflos ruderte ich mit meinen Armen, versuchte meine Füße sicher auf den Boden zu bekommen, aber nun taten die Rollerskates, was sie tun sollten, sie rollten, und so fand ich mich stürzend in der Rückenlage wieder, hörte noch für einen kurzen Augenblick das Surren der Rollen, dann krachte ich in den Weihnachtsbaum. Glücklicherweise kippte der Baum nicht um, und glücklicherweise erschrak sich meine Schwester, als sie mich fallen sah, so sehr, dass ihr reflexhafter Aufschrei das Schokostück aus ihrem Hals beförderte. Allerdings begann sie nun vor lauter Aufregung, sich wieder zu übergeben, ihre Händchen verkrallten sich in der Tischdecke, als sie der Krampf schüttelte und sie sich über den Teppich beugte. Und nun war es an mir, der ich mich aus dem Tannenbaum aufrappelte, aufzuschreien, denn meine Schwester zog an der Tischdecke, und die Kerze, die auf dem Tisch stand, kippte um. Kippte um und blieb brennend auf der Fernsehzeitung liegen. Als ich es endlich geschafft hatte, mich vom Weihnachtsbaum zu befreien, brannte die Zeitung bereits lichterloh, wovon meine Schwester nichts bemerkte, schüttelte sie sich doch noch immer in Krämpfen. Ich erreichte den Tisch, als auch noch der weihnachtliche Tischschmuck aus Trockenblumen Feuer gefangen hatte. Das passierte alles so schnell, dass mir keine Zeit blieb zu fragen, wo denn meine Eltern blieben, die doch sicherlich vom ganzen Lärm und unseren Schreien hätten alarmiert sein müssen. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, packte ich mein Schwesterlein und zog es vom Tisch und dem Feuer weg, das mittlerweile auf die Tischdecke übergriff, während meine Schwester immer noch würgte und statt dem Teppich nun mich bekleckerte. Ich brauchte Wasser, das war mir klar. Schnell. So ließ ich meine Schwester im Raum neben dem Wohnzimmer einfach auf dem Boden liegen und stakste so schnell es ging auf meinen Rollerskates Richtung Küche. Dort gab es Wasser und Töpfe, in denen ich das Wasser würde tragen können. Dort war sicher auch Mutter, die nach dem Braten schaute. Und Vater würde auch nicht weit sein. Dies war der Moment, in dem ich mich das erste Mal fragte, wo sie bei all dem Lärm denn blieben. Ich rief nach ihnen: „Mama! Papa!“ Rief: „Es brennt, es brennt!“ „Mama, Papa, es brennt!“ rief ich, als ich über den glatten Boden des Flures rollte, an dessen Ende die Küche lag, rief es in dem Augenblick, als ich die Küche erreichte und die Küchentüre aufriss und –

„Ho! Ho! Ho!“, rief der Weihnachtsmann wieder und wieder, er hatte die Augen geschlossen und der Bommel seiner Weihnachtsmannmütze baumelte hin und her, „Ho! Ho! Ho!“ Auch die auf dem Küchentisch liegende Tante Martha hatte die Augen geschlossen, dafür waren ihre Bluse und ihre Schenkel geöffneter, als ich es je hätte sehen wollen, vor allem weil mein Vater zwischen ihnen stand und den Bommel baumeln ließ, hin und her, wie der Kopf des Engels hin und her, der strahlendweiße Engel, der wie zum Gebet auf dem Boden kniete und seinen Blick andächtig erhoben hatte, nur dass dieser Engel nicht hinauf zum Himmel blickte, sondern hoch zu Onkel Peter, der genüsslich an einer Zigarre paffend und mit heruntergelassener Hose am Kühlschrank lehnte und wieder und wieder sagte: „Mein Engel, mein Engel!“, bis er mich, der ich fassungslos in der Küchentür stand, endlich bemerkte und nach einer Schrecksekunde, in der er wie in Zeitlupe die Zigarre aus dem Mund nahm, tonlos sagte: „Martha, Du solltest doch die Tür abschließen!“ „Ho! Ho! Ho!“, rief der Weihnachtsmann noch einmal, während Tante Martha die Augen öffnete und mich erblickte und dermaßen erschrak, dass sie nach dem Weihnachtsmann trat, der aufstöhnend in der Mitte zusammenklappte, woraufhin Tante Martha vom Tisch fiel.

In diesem Moment sah ich, was sich mir dergestalt wie glühende Kohlen in mein Gedächtnis einbrennen sollte, dass mir Weihnachten vielleicht für alle Zeit verleidet ist. Da lag sie auf dem Boden, Tante Martha, sie lag auf dem Bauch, den Rock bis über die Hüften hinaufgezogen. Ich hörte kaum, wie mein Vater fluchte, wie meine Mutter wieder und wieder Oh Gott, Oh Gott rief, und Onkel Peter meinte Hier riecht es verbrannt (glücklicherweise schafften Vater und er es nur wenig später mit vereinten Kräften das Feuer im Wohnzimmer zu löschen). Alles um mich herum schien zu verschwimmen, nur Tante Marthas Hintern sah ich klar und deutlich vor mir aufragen, ich konnte meinen Blick nicht von ihrem Hinterteil nehmen, das, ich wage es kaum auszusprechen, behaart war wie ihre Oberlippe zu Nikolaus, dunkle Haare noch und nöcher, und jedes dieser auf ihren Pobacken sprießenden Haare prägte sich mir ein. Erst als mein kleines Schwesterlein plötzlich inmitten der geschockten Erwachsenen stand, mit klarer Stimme rief: „Mir ist schlecht!“, und sich noch einmal mit Nachdruck auf die Küchenfliesen erbrach, nur um uns alle dann anzustrahlen, als hätte sie gerade Gottweißwas vollbracht, konnte ich mich von diesem erschreckenden Bild losreißen. Ich begann zu lachen, lachte noch, als bereits alle die Küche Richtung Wohnzimmer verlassen hatten, lachte noch, als mir bereits Tränen über die Wangen liefen. Akuter Schockzustand, nannte es Jahre später meine Therapeutin, eine vegetative Überreaktion aufgrund pathogener Reizüberflutung, dann drückte sie mir den kleinsten Schokoweihnachtsmann in die Hand, den sie hatte finden können, und lächelte mich aufmunternd an: „Versuchen wir es doch mal mit dem!“

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