Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp

Hodenkrebs_Erfahrungen2
„Ich habe nicht inhaliert!“ – ich sah meinen alten Freund förmlich vor mir, wie er breit grinsend ins Telefon sprach. Ich war nicht der Erste, der ihn Sonntagabend nach dem Münster-Tatort anrief. Dabei war es bei mir Zufall. Ich hatte den Tatort nicht gesehen, in dem Prof. Börne behauptet: „Kiffen erhöht das Hodenkrebsrisiko um 70 Prozent“. Nicht Pot, sondern Plot – das war meine Sonntagsbeschäftigung – kurz ich sah kein TV, sondern brütete an meinem Schreibtisch über der Dramaturgie meines dritten Romans. Als mein Tag- und Abendwerk beendet war, rief ich an, weil ich wissen wollte, was es Neues an der Hodenkrebs-Front gab.

Ich war noch auf dem Stand von einigen Tagen zuvor. Bedeutet: Die Fragen, die sich ihm gestellt hatten, bevor er sich entscheidet, ob er active surveillance oder PEB Chemo wählt, waren beantwortet worden. Endlich!

Das Warten und die Empfehlung

Der Nachtragsbefund des Pathologen, der das Orchiektomie-Präparat untersucht hatte und bezüglich der Einordnung des Tumors unsicher gewesen war, lag als Erstes vor. Leider hatte man versäumt, meinem Freund dies mitzuteilen, obwohl er mehrmals nachgefragt hatte. „Ich habe meinen ergänzten Befund doch bereits vor einer Woche übermittelt!“, gab sich der Pathologe erstaunt, als mein Freund mit ihm persönlich telefonierte. Wie auch immer. Bezüglich der strittigen Frage, ob eine vaskuläre Invasion vorliege (und somit ein bedeutender Risikofaktor), brachte der Mediziner nun Licht ins Dunkel: Die erneute Betrachtung des Präparates hätte seine Unsicherheit beseitigt und den ursprünglichen Bericht bestätigt. Vaskuläre Invasion der Lymphbahn (L1).

Länger dauerte es, bis die beiden Fragen „Was sagt das Zweitmeinungsprojekts der Deutschen Hodentumor Studiengruppe (GTCSG) zu seinem Fall? Und wenn Chemo: Reicht nicht auch 1 Zyklus PEB?“ beantwortet waren. Das lag zum einen daran, dass sich der Urologe eine Woche Zeit ließ, bis er den Fall dort vorstellte. Und zum anderen hatte jener den Fall nicht über die Homepage des Zweitmeinungsprojektes und die dort installierte Eingabemaske eingereicht (es wird auf der Homepage eine Zeitspanne von längstens 24 Stunden genannt, bis eine Empfehlung vorliegt), vielmehr hatte er ein Fax mit dem Befund und der Anfrage an eine an das Projekt angeschlossene Universitätsklinik geschickt. Dieses Fax war unbemerkt geblieben und unter einem Stapel verschwunden. Es dauerte rund zwei Wochen bis das Schriftstück entdeckt wurde und sich die Zweitmeinungsstelle meldete.

Dann aber hatte das Warten ein Ende und alle Fragen waren geklärt: Der Tumor sei, so die Zweitmeinungsstelle, aufgrund der vaskulären Invasion und der Infiltration der Rete Testis als high risk non-seminom Karzinom zu werten. Auch bei einem Stadium 1B Tumor sei in diesem Fall von „wait and see“ (active surveillance) abzuraten. Da mit der adjuvanten Chemotherapie von 1 Zyklus PEB aufgrund neuerer Studien Rezidiven ebenso erfolgreich vorgebeugt werden könne wie mit stärker belastenden 2 Zyklen PEB (eine Vorgehensweise, die zwar noch nicht in die Leitlinien übernommen worden sei, aber das wäre nur eine Frage der Zeit…), laute die Empfehlung 1 Zyklus PEB.

Und mein alter Freund war der Empfehlung gefolgt, hatte sein OK zur Chemo gegeben. Mit der Überweisung des Urologen in der Tasche war er zum vorgeschlagenen Onkologen gegangen. Hier hatte man ob seiner Bitte um einen baldigen Termin erst einmal gelächelt („Also frühestens in 3 Monaten“), dann aber nach einem gewissen freundlichen Insistieren doch einen Termin eine Woche später herausgerückt. Und dieser Termin war drei Tage vor gesagtem Tatort. Dies war mein Informationsstand, als ich ihn an besagtem Abend anrief.

Sind die denn alle bekifft?

„I didn’t inhale!“, begrüßte er mich mit dem alten Clinton-Spruch. Ich war beileibe nicht der Erste, der bei ihm an diesem Abend durchklingelte, wie er meinte. Er fasste den Münster-Tatort kurz zusammen. Börne hätte bewirkt, dass einige Menschen, die sich bislang nicht so getraut hatten, sich bei ihm zu melden, jetzt anriefen. Die Sprüche vom Börne zum Hodenkrebs wären wohl ein guter Aufhänger gewesen, um das schwierige Thema ein bissel locker anzugehen. Es gab zwar auch Stimmen der „Das lass mal besser!“-Fraktion, aber die kannten ihn, der selbst auf Partys, wo Cannabis in Hülle und Fülle angeboten wurde, bei seinem Bier blieb, nicht gut. Er war da wie ich. Cannabis war nicht seine Droge.

„Aber wer weiß?“, meinte er, „Vielleicht wird sie das angesichts der Nebenwirkungen der Chemo ja noch – wobei: Bis auf den Onkologen sagen eigentlich alle: 1 Zyklus PEB wird nicht ganz so furchtbar arg.“

Ja, der Onkologe. Ein sehr netter Mann. Das wäre dann ja alles easy, sagte der, die Urologie des Krankenhauses hätte ihn schon wegen seines Falles angerufen und ihm die Diagnose durchgegeben. Zweimal müsse er zu ihm ambulant kommen, um die Infusionen zu erhalten. Und gut.

Und gut? Ich selbst hatte ja schon häufiger mit Ärzten zu tun, und nicht immer lief alles glatt, aber hier schien es hinsichtlich eines gewissen Kommunikationsproblems an kein Ende zu kommen. Denn nichts war gut. „Was heißt zweimal ambulant? Ich dachte der erste Teil eines Zyklus würden an 5 Tagen stationär verabreicht?“, fragte mein Freund verwirrt, „Und warum hat die Urologie des Krankenhauses wegen meines Falles angerufen? Mit denen habe ich das letzte Mal nach den OP-Tagen gesprochen.“

Und dann stellte sich heraus, dass der Onkologe aufgrund des Anrufes aus dem Krankenhaus davon ausgegangen war, dass der erste, der stationäre Teil schon gelaufen wäre. Das war natürlich nicht der Fall. Und somit war der Onkologe nicht zuständig. Der stationäre Part einer PEB Chemo wird von der Krankenhaus-Urologie betreut. Die Überweisung durch den Urologen war ein Fehler gewesen. „Das hätte der aber wissen müssen…“ Eine Woche hatte mein Freund auf den Termin gewartet – umsonst.

Na ja, nicht ganz umsonst. Denn der Onkologe nahm sich gut eine dreiviertel Stunde Zeit, um ihn über die Nebenwirkungen einer Chemo aufzuklären (was bislang so ausführlich bei ihm noch kein Arzt gemacht hatte – „einen mündigen Patienten muss man auch über den worst case aufklären“). Interessant war: Der Onkologe hatte zwar vom Urologen Unterlagen zum Fall erhalten, aber nicht den Bericht des Tumorboardes und nicht den histologischen Befund – also die wichtigsten Unterlagen. Diese hatte mein Freund dabei. Interessant war: Die Nebenwirkungen sind – laut der Einschätzung des Onkologen – nicht ohne. Und das heißt nicht nur Haarausfall und Übelkeit und Schleimhautprobleme im Mund (Nebenwirkungen, die nach Beendigung der Chemo abklingen), sondern eventuelle (gerne länger anhaltende) Probleme wie Tinnitus, Nervenschädigungen (Kribbeln oder Taubheit in den Gliedern), Lungenschädigungen – und vor allem: Bereits während des ersten Zyklus‘, ab dem Tag 10., würde erfahrungsgemäß das Immunsystem so down sein, dass man höllisch auf eine Infektion mit Irgendetwas aufpassen müsse (und das gerne länger anhaltend). Als Zugabe: Eine Chemo könne andere Tumore auslösen… Zu bedenken sei übrigens auch, dass seiner Erfahrung nach die Zahlen, die üblicherweise hinsichtlich des Wiederauftretens eines Rezidivs (30% unter active surveillance bekommen ein Rezidiv, nur 3-5% nach einer Chemo) genannt werden, seinen Erfahrungen nicht entsprechen: Er halte die Zahlen 20% unter active surveillance, etwa 10% nach einer Chemo bezüglich der Gefahr eines Rezidivs für wahrscheinlicher. „Sie sind ja, wie ich merke, nicht blöd“, sagte der Onkologe, „Und ein mündiger Patient sollte schon richtig aufgeklärt werden. Jetzt haben sie noch die Wahl.“

Angesichts dieser Zahlen (und angesichts der beschriebenen Nebenwirkungen) erschien die Strategie active surveillance jetzt doch wieder sehr attraktiv. Vor allem: Vielleicht hatte der Urologe, dessen Überweisung an den Onkologen schon falsch gewesen war, der diesem Onkologen gerade die wichtigsten Befunde nicht übermittelt hatte, auch dem Zweitmeinungsprojekt nicht genügend Informationen übermittelt (nur ein Fax,  kein Einholen der Zweitmeinung über das standardisierte Formular… )? Vielleicht beruhte die Empfehlung von 1 Zyklus PEB auf falschen Voraussetzungen?

Kurz: Mein Freund, der sich darauf eingestellt hatte, nun vom Onkologen betreut in Kürze den 1 Zyklus PEB zu erhalten, ging niedergeschlagen, verwirrt heim. Die Informationen, die er zuvor zur Chemo erhalten hatte, waren gewesen: „Erst bei 3, 4 Zyklen wird es schlimm“. Von eventuellen längerfristigen Folgen, gar einem erhöhten Risiko aufgrund der Chemo neue Tumore sich einzufangen, war keine Rede gewesen….

„Vielleicht sollte ich mir jetzt doch mal einen Joint durchziehen!“, meinte er, „Vielleicht wird mir dieses ganze Hin- und Her, und Kommunikationsgalama und Prognosenzeugs ja dann egal! Ja, vielleicht hätte ich beim Vertretungsurologen meine Schnauze halten sollen, einfach nicht nachfragen, als er sagte, alles in Butter mit der OP . Einfach rausmarschieren – und weiterleben, als sei nichts geschehen, weiterleben ohne nachzudenken.“

„Soviel kannst Du gar nicht kiffen, dass Du aufhörst, nachzudenken, Fragen zu stellen!“, gab ich ihm zurück. Und dann vertagten wir unser Gespräch auf den nächsten Tag. Der Onkologe hatte angeboten, Rücksprache mit der Urologie des Krankenhauses zu halten, um die optimale Behandlung abzuklären. Er würde sich am folgenden Tag melden. Nett der Onkologe.

Der nette Onkologe rief tags darauf nicht an. Auch am Tag danach meldete er sich nicht. Erst am dritten Tag meldete er sich.

„Sind die denn alle bekifft?“, erboste sich mein Freund, als er mir von dem Telefonat berichtete. „Erst überweist mich der Urologe völlig überflüssig an den Onkologen. Dann sagt der Onkologe doch glatt, dass der Anruf des Krankenhauses nicht mir gegolten hätte. Er hätte mich mit einem anderen Patienten verwechselt. Verwechselt! Somit müsse er seine Aufklärung bezüglich active surveillance oder Chemo revidieren. Er hätte sich meine Unterlagen noch einmal angesehen und rate deswegen auch zu einer Chemo…“

Der Sprung ins Vertrauen

Glücklicherweise – weil sein Vertrauen in die Empfehlung der Zweitmeinungsstelle wiederherstellend – hatte mein Freund zwischenzeitlich der Professorin der Zweitmeinungssstelle, die mit seinem Urologen telefoniert hatte, eine E-Mail geschrieben, in der er alle Informationen, die ihm zur Verfügung standen, aufgelistet hatte. Sie war so nett gewesen, gleich am nächsten Tag anzurufen. Sie bekräftigte am Telefon ihre Empfehlung: Kein active surveillance, er hätte zwar Stadium 1B, aber die TNM-Klassifikation pT2 cN0 cM0 L1 R0 V0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 sei als high risk Karzinom zu werten. „Tun sie mir den Gefallen, und tun sie etwas. Warten sie nicht ab. Nehmen sie sich eine Woche Zeit, und dann ist gut!“, sagte sie (die Nebenwirkungen offensichtlich anders bewertend als der nette Onkologe).

Und das ist also der Stand der Dinge. Mein alter Freund sagte sich: „Die macht den ganzen Tag kaum etwas anderes, als sich mit Hodenkrebs beschäftigen. Wenn er schon jemandem vertrauen soll, dann doch ihr.“ Also setzte er zum Sprung an. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Zum Sprung ins Vertrauen. Er hat entschieden. Keine Fragen mehr.

Apropos Vertrauen: Der Krankenhaus-Urologe, der bereits vor der OP die Voruntersuchungen gemacht hatte, rief ihn dann an – ohne dass er hätte aktiv werden müssen. Der Onkologe hatte mit ihm gesprochen. „Und er würde seinen Fall jetzt in die Hand nehmen“. Eine Aussage, die sehr gut tat. Ein leises Gefühl von Hier werde ich in guten Händen sein stellte sich ein. Vor allem auch, weil der Urologe von sich aus die noch zu machenden Voruntersuchungen ansprach. Mein alter Freund musste nicht fragen, hier wurde Wichtiges für ihn geregelt.

Dann ging es ins Krankenhaus, um die Voruntersuchungen (Bluttests, u.a. Tumormarker, Sonographie, Lungenfunktionstest, EKG, Neurokonferenz) zu absolvieren. Die Möglichkeit von Samenspenden (und anschließender Kryokonservierung meiner Fortpflanzungszellen) wurde besprochen und, weil ich keinen Kinderwunsch mehr hegte, nicht ergriffen. Alle Ärzte und Pflegekräfte waren sehr freundlich, aufmerksam, strukturiert. Ein Hörtest beim HNO-Arzt steht noch an. Kommenden Montag geht es los mit der Chemotherapie.

Ich hoffe nur, dass nicht der Onkologe, sondern die Professorin bezüglich der Nebenwirkungen Recht behält – und mein alter Freund den Sprung ins Vertrauen nicht bereut.

Links:

Zusammenfassung von Spiegel online zum Thema „Tatort und Hodenkrebs und Kiffen“: Frage nach dem „Tatort“: Erhöht Cannabis das Risiko für Hodenkrebs?

Bericht über Studien bezüglich 1 Zyklus PEB und Leitlinien: EAU-Leitlinie 2011 mit Blick in die Zukunft: maligner Hodentumor im Stadium I – weniger ist mehr!

Informationen zur PEB-Chemotherapie:

 


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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