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Männer… Von „Hör mal, wer da hämmert“ bis zu Liegestützen auf der Fähre…

Maenner
Also Männer… Wie komme noch einmal auf dieses Thema? Ach, ja, Donnerstag auf der Bodenseefähre, da gab es sehr geballt einige einprägsame Beobachtungen. Und ja, ich habe Samstag ein Lattenrost zusammengebaut und dann im Getränkemarkt, beim Kauf eines Kasten Warsteiner, einen Gratis-Rasierer bekommen (im Rahmen einer sogenannten „Männerbox“).

„Wann ist ein Mann ein Mann…?“ Anscheinend dann, wenn er unrasiert in Arbeitsklamotten einen Kasten Bier kauft (ich trug meine mit Farbe besprenkelten Malerjeans, dazu ein kariertes Arbeitshemd, ebenfalls mit Farbe besprenkelt, denn angestrichen haben wir an diesem Wochenende auch).

Also bekam ich die Männerbox. Logisch. Mit Tusch. Aber lieber als ein Gratis-Rasierer, den ich doch nicht benutzen werde. Bin da eigen, rasiere mich, wenn ich mich denn rasiere, mittlerweile nur noch trocken (rasiere ich mich nass, dann seh‘ ich gleich 10 Jahre jünger und so brav aus, und das will doch keiner…) – also lieber als ein Gratis-Rasierer wäre mir irgendetwas Vitalisierendes für meine Augenpartie gewesen. Oder etwas, das mir die Stressfalten aus dem Gesicht bügelt… So ungern, ich das hier schreibe…. Hallo, es ist Wochenende, und da sollte es doch genügen, einmal Auszuschlafen, um wie ein junger Gott auszusehen (zumal ich mir den zweiten Teil von Thor unters Kopfkissen gelegt habe…). Kann doch nicht sein, oder?

Und warum sah ich am frühen Abend nicht wie ein junger Gott aus? Weil ich die Lehren aus „Hör mal, wer da hämmert“ vergessen habe. Mea Culpa.

Wie oft habe ich geschmunzelt, wenn Tim der Heimwerkerkönig wieder einmal eine Gebrauchsanweisung oder eine Zusammenbauanleitung ignorierte, weil er glaubte, er könne es eh besser. Er bräuchte keine Hilfe. Und Tims Bemühungen dann in einem Chaos endeten.

Wir hatten an diesem Samstag zunächst unser zukünftiges Gästezimmer frisch gestrichen, anschließend nahm ich mir das dafür neu angeschaffte Lattenrost vor.

Ja, und da war ich also. Der Mann und das Lattenrost (zerlegt). Ein Mann und circa 100 Einzelteile. Klingt beinahe so heroisch wie „300“ (300 Spartaner gegen 100mal so viele Perser). Das konnte doch nicht so schwer sein! Also ordnete ich erst einmal die Einzelteile gemäß der Beschriftungen in der Zusammenbauanleitung. Ja, bis hierhin hatte ich meine Lektion aus „Hör mal, wer da hämmert“ gelernt. Erst lesen, dann zusammenbauen. Und ich muss sagen, ich hatte schon wesentlich schlechterer Anleitungen gelesen. Und ich freute mich daran, dass die Bohrungen sauber ausgeführt worden waren und die Schrauben griffen (das hatte ich schon anders erlebt).

Die Arbeit ging schnell voran. Die zerlegten Außenholme zusammenschrauben, die verschraubten Außenholme mit Querstrebe und Kopf- und Fußteil verschrauben – also überhaupt, viel schrauben. Und merkte nicht, dass ich gleich zu Beginn eine winzige, aber wichtige Kleinigkeit übersehen hatte – war ja doch alles nicht so kompliziert, recht intuitiv…

Nun, eine halbe Stunde und etliche Schrauben später sagte mir meine Intuition: Da kann etwas nicht stimmen. Ich… Tief durchatmen. In diesem Moment kam meine Liebste herein. „Wie läuft es? Eine Menge Teile, oder?“ „Oh ja!“, entgegnete ich (…also es waren mindestens 1000mal so viele Perser wie wir…), „Bin aber gleich fertig!“, sagte ich, während ich dachte Wie doof kann man eigentlich sein? Ich habe die Außenholme falsch herum angeschraubt.

Männer halt. Ich wartete, bis ich wieder allein war und drehte die ganzen Schrauben aus den Außenholmen wieder heraus, tauschte deren Position und schraubte alles wieder zusammen. Präsentierte dann stolz das Ergebnis, als hätte ich gerade gottweißwas Bedeutendes geschaffen, das Rad erfunden oder so. „Super, Schatz!“, sagte meine Liebste, „Baust Du dann bitte eben noch das Bett auf, und dann tragen wir noch den Schrank ins Zimmer, hoffe nur, der passt durch die Tür!“

Also baute ich das Bett auf – ein Klacks. Mein altes Bett. Ikea. 8 Schrauben. 8! 5 Minuten auseinander bauen, 5 Minuten zusammen. Dann der Kleiderschrank – wie viele Schrauben der hat, daran wollte ich gar nicht denken. Aber der Aufbau von dem Schrank ist eine andere Geschichte, denn die Götter waren uns hold. Der Schrank passte durch die Tür. Anschließend ging ich besagten Kasten Bier kaufen.

„Wann ist ein Mann ein Mann…?“ Manchmal dann, wenn er Arm in Arm mit seiner Liebsten, ein Bier in der Hand, das frisch gestrichene, nun gemütlich eingerichtete Gästezimmer begutachtet, dass einen Tag zuvor kaum mehr als eine ungemütliche Rumpelkammer gewesen war („Und er sah, dass es gut war“).

Manchmal wohl auch dann (um auf die versprochenen Beobachtungen auf der Fähre zurückzukommen):
Faehreerlebnisse
Klack, klack. Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah. Wobei ich im ersten Moment dachte, es sei eine Frau auf hohen, für die Fährestiegen unpraktischen Absätzen, die das Passagierdeck betrat. Klackkkk. Nein, es waren keine hohen Absätze von Damenschuhen, die je Schritt nur einmal eindrücklich Klack machen. Es war eher ein Klackkkk, wie ich es von früher kannte, wenn die Läufer auf dem Sportplatz die Tartanbahn verließen und ihre Spikes auf den Steinplatten klackten. Mehrere Klacks, die zu einem verschwammen. Klackkkk. Und dann sah ich ihn. Sein neonfarbener Ganzkörperfahrradanzug saugte sich mit dem Licht der untergehenden Sonne voll und schoss es dann in Richtung meiner Augen: Helles Gelb dominierte seine blendende Erscheinung, hinter der die Sonne nur noch ein Schatten war. Eingeflochtene schwarze Streifen vervollständigten das dynamische Design des hautengen Anzugs. Ach, was sage ich. Hauteng… Der Anzug ging unter die Haut. Denkt Euch Batman in seinem Panzer, Superman in seinem Dress – ok? Ok. Dann zieht von diesem Bild vor Eurem inneren Auge die Muskeln ab. Minus Sixpack. Minus kräftige Oberschenkel. Minus mindestens einer Kopfgröße. Setzt der Gestalt einen ebenfalls neongelben Fahrradhelm auf – dann habt Ihr ein ungefähres Bild vom Beeman. Nein, ein wichtiges Detail habe ich noch vergessen: Entweder trug er ein Suspensorium, dessen Größe sich zu seiner schmächtigen Gestalt umgekehrt proportional verhielt, oder der Bienenmann hatte einen mächtigen Stachel. Jedenfalls konnte er kaum Laufen. Breitbeinig setzte er vorsichtig Fuß vor Fuß. Nun gut, vielleicht taugte sein Fahrradsattel einfach nichts. Vielleicht lag sein merkwürdiger Gang auch an diesen das Klackkkken erzeugenden speziellen Fahrradfahrschuhen, welche offensichtlich nicht zum Laufen gemacht waren… Ja, vielleicht.

„Wann ist ein Mann ein Mann…?“

Wohl auch dann:

Als der Beeman breitbeinig an mir vorbei gestakst war, stand ich auf, um vom Heck der Fähre noch ein paar Fotos von der untergehenden Sonne zu schießen. Da stand ich also an die Reling gelehnt, der Blick gen untergehender Sonne, freute mich an meiner Zigarette ziehend an den wechselnden Farben des Sees, als ein Mann im Anzug ein paar Bänke weiter plötzlich sein Jackett auszog und begann – mit den Füßen auf der Bank, seine Hände auf dem Boden – Liegestütze zu machen. Mindestens 20. Dann Sit-Ups, auf der Bank liegend, die Füße an der Reling. Die machte er noch, als ich meine Kamera wegpackte, weil die Sonne untergegangen war, und ich eine sms an meine Liebste schrieb, dass ich nun bald daheim sei.

Und dann wohl auch:

Ich stand schon neben meinem Roller, die Fähre fuhr in den Meersburger Fährhafen ein. Klackkkk, klackkkk, der Beeman stakste die Treppe hinunter, an deren Fuß sein Hightech-Fahrrad an der Reling lehnte. Lässig das Jackett mit einem Finger über die Schulter gehängt, ging hinter ihm der Liegestützenmann die Treppe hinunter, wobei sich sein weißes Anzughemd über einem kräftigen Brustkorb spannte. Scheint ja doch was zu bringen, dachte ich, diese Liegestütze auf der Fähre. In dem Moment rempelte mich ein junger Mann an, als er an mir vorbei zu seinem Wagen ging. „FRAUEN MÜSSEN NICHTS VERSTEHEN, SIE MÜSSEN NUR JA SAGEN!“, rief er in sein Handy hinein und stieg ein. Die Autotür schlug zu, so dass nicht zu verstehen war, was er noch Behämmertes ins Handy rief. Er startete den Wagen, obwohl es noch Minuten dauern würde bis wir von der Fähre würden fahren können, und nebelte Beeman, den Liegestützenmann und mich mit Abgasen ein.

Männer halt…

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Pavillonimplosion und Pflanzenexplosion – von den Schwingen des Sturmadlers gestreift

Sturmadler
Bisher sind wir hier am Bodensee von den ganz groben Unwettern verschont geblieben. Gott sei Dank. Der Sturmadler, der aus den Bergen herabstößt und die Schwüle, die über dem See liegt, mit seinen Schreien zerreißt, hat uns bislang mit seinen Schwingen nur einige Male gestreift. Aber selbst das war jedes Mal heftig genug – so wie in jener Nacht.

Ich erwache, ohne im ersten Moment den Grund dafür zu erkennen. Draußen ist alles ruhig. Alles scheint so zu sein, wie es sein soll. Nur dass ich wach bin und spüre, dass mein Herz schneller schlägt. Plötzlich höre ich ein entferntes Rauschen, ein Branden, ein Geräusch, als wenn ein nahender Zug die Luft vor sich herschiebt. Ein durchaus unheimliches Geräusch, das näher kommt. Schnell näher. Das lauter wird. Und lauter. Und dann ein Schlag. Eine Windböe, welche die Fenster zittern lässt. Die zu einem Dauerwind anhebt, der wild ums Haus streicht. Erste Gegenstände höre ich draußen auf den Boden krachen. Morsche Äste brechen. Ich sehe aus dem Fenster. In diesem Augenblick blitzt es, für einige Momente sehe ich nichts, dann schiebt sich der riesige, im Wind ächzende Schatten des Walnussbaumes im Nachbarsgarten in mein sich normalisierendes Blickfeld. Es donnert einmal, als gäbe es kein Morgen, und nun öffnet der Himmel seine Schleusen. Einem Sturzbach gleich strömt der Regen auf die Erde. Es blitzt noch einmal – und da sehe ich unseren hübschen, ein wenig altmodischen Pavillon. Nicht einmal eine Woche zuvor von zwei Leuten in anderthalb Stunden langer, beharrlicher Arbeit zusammengeschraubt. Der Pavillon tanzt über den Rasen, als wäre er einer diese Ginsterbüsche aus einem Western.

Pavillon2Ich raus in das Windgeschehen, hinaus in den mich binnen Sekunden bis auf die Haut durchnäßenden Regen, hinein in das Blitzen des Gewitters. Da hat es den Pavillon schon auf den Kopf geworfen. Er wird vom Wind über den Rasen geschoben, hin und her, dann packt ihn der Wind und hebt ihn hoch, nur um ihn anschließend um so härter auf den Rasen aufschlagen zu lassen. Bevor ich überhaupt eingreifen kann, höre ich die erste Metallstrebe brechen.

Dann habe ich den Pavillon erreicht. Ich packe zu, versuche das Stoffdach von den Verstrebungen zu lösen, um dem Wind den Widerstand zu nehmen, an dem er zupacken kann. Aber bevor ich die erste Verschnürung lösen kann, reißt mir der Wind den Pavillon aus den Händen und schleudert ihn mit aufbrausender Gewalt gegen den Stamm des Kirchbaumes, der in der Ecke des Garten dem Sturm trotzt. Doch in diesem Moment bricht ein größerer Ast des Kirchbaumes unter der nun durch den Garten peitschenden Windböe und kracht auf eine der Seitenstreben des Pavillons, bricht diese in der Mitte entzwei. Ast und Pavillon werden dann vom Wind über den Rasen geschoben. Ich versuche erneut, das Stoffdach zu packen, um es von den Metallverstrebungen zu lösen. Muss aber aufpassen, dass mich nicht der abgebrochene Ast trifft, den der Wind hin- und herpeitscht. Als ich es endlich geschafft habe, wenigstens einen Teil der Verschnürung zu lösen und das Stoffdach an einer Ecke des Pavillons von den Metallverstrebungen zu ziehen, reißt mir erneut der Wind den Pavillon aus den Händen. Ich rutsche auf dem mittlerweile durchweichten Rasen aus, kann gerade noch den Arm hochreißen, um mein Gesicht vor den Blättern des abgebrochenen und nun herumwirbelnden Kirchbaumastes zu schützen. Erneut höre ich, als der Pavillon wieder zu Boden kracht, Streben brechen. Wieder packt der Wind den Pavillon, hebt ihn hoch, hebt ihn über mich, der ich immer noch auf nassen Rasen kauere. Es blitzt. Unnatürlich kontrastreich heben sich die Metallstreben des Pavillons vor dem Himmel ab, lose Splitter ragen aus den Bruchkanten hervor, scharfe Metallecken glänzen hell, weil die Brüche den Lack abblättern ließen. Für einen Moment glaube ich über mir die Schwingen des Sturmadlers zu sehen, der über unserem Haus kreist. Dann erbebt die Erde unter einem gewaltigen Donner und gleichzeitig lässt der Wind den Pavillon los, der nun auf mich hernieder kracht. Nur Zentimeter neben meinem Kopf bohrt sich das lose Ende einer Metallverstrebung in den Rasen. Mit einem häßlichen Knirschen brechen weitere Verstrebungen, es klingt, als würde er nun implodieren, wundwaid fällt der Pavillon auf die Seite und sackt in sich zusammen. Dann kehrt Ruhe ein. Der Sturm legt sich.

Weil ich der Ruhe in jener Nacht nicht traute, holte ich ein altes Stromverlängerungskabel aus dem Schuppen und band den Pavillon am Kirschbaum fest, damit er nicht doch noch in eines der Fenster im Erdgeschoss kracht. Dann ging ich zu Bett.

Schmetterlingsbaum
Am nächsten Tag begutachtete ich die Schäden bei uns im Garten. Der Pavillon war Schrott. Leider. Aber ansonsten hielt sich der Bruch in Grenzen. Morsche Zweige lagen auf dem Rasen, der ansonsten mit herabgefallenen Walnuss- und Kirschbaumblättern übersät war. Ein Blumentopf war von der Fensterbank gestürzt und entzwei gegangen war. Das Sitzpolster eines Gartenstuhl lag nass und verdreckt auf dem Weg. Aber das war es auch schon. Keine größeren Äste waren aus den Bäumen herabgekracht. Die Dachziegeln lagen noch an Ort und Stelle. Es hatte keinen der Fensterläden aus den Angeln gerissen.

Merkwürdigerweise hat diese regnerische Windnacht unserem Schmetterlingsbusch sehr gut getan: Er ist nahezu explodiert. Als hätte er die Energie des Gewitters in sich aufgenommen – und wäre dann in einem vegetativen Kraftakt über sich hinausgewachsen. Vielleicht um sich für das nächste Mal zu wappnen. Für ein dunkleres Mal, wenn aus der Schwüle der Tage ein schlimmerer Sturm über uns hereinbricht und uns der Sturmadler nicht mehr nur mit seinen Schwingen streift. Um stark zu sein, nicht einzuknicken, um uns weiterhin mit seiner Eigenart zu erfreuen, schöne, bunte Schmetterlinge anzuziehen.

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Männer- & Frauen-Geschichten. Neue Anthologie des Schreiblust-Verlages – und Boscher ist dabei

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„Gemeinsam grundverschieden: Ein Buch mit Männer- und Frauen-Geschichten“, so lautet der Titel der in Kürze für 9,90 Euro im Buchhandel erhältlichen neuen Anthologie des Schreiblust-Verlages.

Herausgegeben von Robert Pfeffer versammelt das Buch mit dem sehr schönen Cover 36 Geschichten – und Ralf Boscher steuerte seine Kurzgeschichte „Der Bierdeckel und das Warten“ bei.

Klappentext des Buches „Gemeinsam grundverschieden: Ein Buch mit Männer- und Frauen-Geschichten“:

„Wenn Männer zu wissen glauben, was Frauen über sie denken, liegen sie meistens falsch. Hingegen wissen Frauen oft mehr über Männer, als diese über sich selbst.

Für Männer untereinander sind die Dinge recht simpel. Sagen Männer wie Frauen. Frauen untereinander dagegen, … komplizierter geht’s kaum. Sagen Frauen wie Männer.

Sehr verwickelt und doch wieder ganz klar, oder?

Ähnlich einem Männergespräch über Frauen oder einer Frauenrunde über Männer. Dieses Buch hat alles davon. 36 Geschichten von 25 Autorinnen und elf Autoren zeigen, wie Frauen und Männer gemeinsam grundverschieden sind.“

Die Autorinnen und Autoren sind: Jochen Ruscheweyh, Maria Soulas, Nadin Hardwiger, Christine Storck, Wolf Awert, Daniela Dietrich, Antje Haugg, Elisabeth Kuhs, Isabella Zährl, Katharina Conrad, Manuel Zerwas, Juna Lee Bendt, Gebhard Manntz, Matthias Hockmann, Bettina Forbrich, Anne Bentkamp, Olga Baumfels, Kira Littwin, Bernhard Horwatitsch, Elsa Rieger, Karin Seidner, Anne Kerlin, Anne Zeisig, Frank Trummel, Jutta Strzalka, Lena Hauser, Susann Obando Amendt, Ralf Boscher, Martina Bracke, Jörg Zschocke, Hermann Markau, Eibe Meiners, Marcel Porta, Sibylle Walter, Angie Pfeiffer, Angela Hüsgen.
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Es ist nach der Geschichte „Futter für die Bestie“, die in dem nach der Geschichte benannten Buch „Futter für die Bestie“ gedruckt wurde, das zweite Mal, dass sich der Schreiblust-Verlag für einen Text von Ralf Boscher entschieden hat.

Hier kaufen – direkt beim Verlag, bei Amazon

Hier geht es zur Präsentation des Buches auf der Verlagsseite…

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Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen

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„Jetzt wird der Krebs wieder konkret. So konkret, wie er seit der OP und seitdem die Operationswunde verheilt ist, nicht mehr gewesen war. Es hatte keine Schmerzen mehr gegeben. Keine Zeichen dafür, dass etwas in einem ist. Der Krebs als reale Möglichkeit, als eine Aufgabe, die einer Lösung harrt, als eine Frage, die nach einer Antwort verlangt, war zwar da. Doch mehr schwarz auf weiß als im bunten Alltag. Man las von ihm, spürte ihn aber nicht. So schien er mehr eine andere, eine dritte Person zu betreffen, als einen selbst. Man hätte ihn vergessen können…

Nun aber kehrt der Krebs in den Alltag zurück. Die Zeit, in der ich Verstand und Herz disziplinieren musste, um für eine Entscheidung, mit der ich mein restliches Leben würde leben können, den nötigen Abstand zu gewinnen, ist vorbei. Keine Dritte Person mehr. Kein Überlegen, informieren, abwägen. Ab jetzt ist nicht mehr Urteilsvermögen gefragt, sondern Durchhaltewillen. Ich.

Und ich will eine positive Einstellung an den Tag legen. Alles ist gut. Das Misstrauen, dass sich seit dem Tag der Hoden-OP vor allem gegenüber Ärzten aufgebaut hatte, will ich vergessen. Mein Gang in die Klinik soll ein Sprung ins Vertrauen sein. Für mich ist gut gesorgt. Und ich sorge gut für mich. Ich habe gelesen, dass Rauchen die Wirkung der Zytostatika behindert, ja verringert, also nehme ich mir fest vor, während der Chemo keine Zigaretten anzupacken.

Und so geht es in die Klinik. Cisplatin (P), Etoposid (E) und Bleomycin (B) – dies sollen nun meine besten Verbündeten gegen ein erneutes Tumorwachstum sein. Ein wahrlich wirkungsvolles Trio aus der pharmazeutischen Giftküche – und in ihrem Zusammenwirken dafür verantwortlich, dass die Sterblichkeitsrate bei Hodenkrebs seit Jahren so beruhigend stark gesunken ist. My deadly Friends.(per E-Mail)

Ich hatte ihn während seiner Chemo nur zweimal kurz am Telefon gesprochen, dann hatte er aufgelegt. „Zu anstrengend!“ Besuche wollte er überhaupt nicht erhalten. Am Abend des ersten Tages seiner Chemo postete er einen kryptischen, nur für Eingeweihte verständlichen Statusbericht auf Facebook. Dann und wann verschickte er eine sms an seine Freunde mit einem Kürzestbericht zum Stand der Dinge. Angesichts dessen, dass sein Kommunikationsbedürfnis so extrem heruntergefahren war, erstaunte mich dann doch die E-Mail, die ich von ihm erhielt: „Ich bin auf deinen Spuren gewandelt.“, schrieb er mir, „Hab mich einfach an den PC gesetzt und geschrieben. Hatte schon das Gefühl zu verblöden, so sehr schlug die Chemo auf meine Konzentration. Da war das Schreiben für mich wie so eine Art „Gehirn-Walking“. Und wenn dir das Ergebnis einigermaßen sinnig erscheint, kannst du auch diesen letzten Teil meiner Krebsgeschichte gern auf deinem Blog posten. Vielleicht ist das für den einen oder anderen ja interessant.“ Hier also der von mir mit Bildmaterial ausgestattete letzte Teil der Hodenkrebsgeschichte meines alten Freundes in seinen eigenen Worten.

Zum Hintergrund:

1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie

I. Der stationäre Teil meiner PEB Chemo

PEB_Plan_www.urologielehrbuch.de

PEB Chemotherapieplan, Quelle: http://www.urologielehrbuch.de/PEB.html

 

Eröffnungsveranstaltung sehr gut gelaufen!
„Friendly Poison“ – eine Themenwoche, die unter die Haut geht!
Publikum und Veranstalter zeigten sich nach der gestrigen Premiere äußerst zufrieden.
„Der Anfang war ein wenig kribbelig, aber das ist normal. Es gilt erst einmal einen Zugang zum Thema zu finden – und der liegt nun einmal nah am Herzen.“
„Also mir lief das gut rein, weiter so!“

(Facebook Status)

„Hinein damit!“

Montagmorgen um 7.30 Uhr betrat ich das Krankenzimmer. Der Krankenhaus-Urologe, der mich die 5 stationären Tage über (sehr gut!) betreuen und auch jeweils die Zytostatika-Infusionen anhängen würde, begrüßte mich. Er informierte mich, was an diesem Tag alles anstehen würde, beantwortete meine Fragen. Weil die Voruntersuchungen (Bluttests, u.a. Tumormarker, Leber, Niere, Sonographie, Lungenfunktionstest, EKG, Neurokonferenz, Hörtest beim HNO-Arzt) keine Ergebnisse erbracht hatten, die gegen eine Chemotherapie sprachen, ging es dann los, wie geplant.

Häufige Nebenwirkungen einer PEB Chemotherapie

Häufige Nebenwirkungen einer PEB Chemotherapie

Ich händigte dem Doc die von mir unterzeichnete Patientenaufklärung aus, die u.a. über die häufigen Nebenwirkungen einer PEB-Chemotherapie aufklärte, welche auftreten, weil Zytostatika keinen Unterschied zwischen Krebszellen und gesunden Zellen machen. Dann wurde ich auch schon mitsamt Bett auf die Intensivstation gefahren, damit ein Anästhesiearzt mir das Zentrale Venenkatheder (ZVK) legt (ZVK weil dieser schonender sei, als das tägliche Legen einer Viggo und die Zytostatika die kleineren Venen angreifen. Der ZVK verbleibt bis zum Ende der 5 stationären Tage).

Das Legen des ZVK war in den 5 Tagen Krankenhaus die unangenehmste Erfahrung. Während der gut Dreiviertelstunde, die es dauerte, bis das Katheter richtig lag (ultraschallgestützte Anlage, 18cm rein, bis zum Herzvorhof vorschieben, dann ca. 1cm zurückziehen bis EKG wieder normal, dann liegt ZVK richtig), musste ich einige Male ins Bettlaken greifen. Doch als es einmal lag (und an der Haut vernäht und verpflastert war), machte das ZVK keine Probleme mehr. Ich hatte mich, weil ich meist auf der rechten Seite schlafe, für die linke Halsbeuge entschieden. Das war die richtige Entscheidung. Das ZVK störte insgesamt weniger als ein venöser Zugang in einer Armvene.

Zurück auf Station ging es dann mit der Chemo los. Oral erhielt ich Emend 125mg, eine Kotzbremse erster Güte, bzw. um es mit einem Fachwort auszudrücken: Ein sehr wirksames Antiemetikum. Dann kam mein Doc und bald hing mein Galgen voll mit Beuteln. Dies lief am Tag 1 in mich hinein: Infusion Granisetron („Antikotz“) & Dexamethason („Entzündungshemmer“). Dann Infusion NaCl für Spülung. Dann Infusion des ersten Zytostatika Bleomycin und gleichzeitig Infusion Mannitol (osmotisches Diuretikum, soll Nierenschädigungen durch Zytostatika vorbeugen, „Nephrotoxizitätsprophylaxe“, und deren Ausscheidung über die Nieren fördern, „renale Elimination“). Wieder NaCl. Dann das erste Mal Infusion Cisplatin. NaCl. Dann Infusion Etoposid. Wieder NaCl-Lösung und wieder (bis zur nächsten Runde Chemo wird Flüssigkeit zugeführt).

Ich hatte gelesen, 2-3 Stunden nach der ersten Cisplatin-Infusion würde (wenn man denn zu diesen unglücklichen Menschen gehört) die Übelkeit beginnen. Ich verschlief diesen Zeitpunkt. Konnte ihn verschlafen, weil nach 2-3 Stunden nichts passierte.

Es passierte auch den Rest der stationären Woche nichts Gravierendes: Keine Übelkeitsattacken, keine gravierenden Nebenwirkungen. Halleluja! Ein Hoch auf die Antikotz-Medikamente. Ein Hoch auf was auch immer, dass ich zu den Patienten gehörte, die die Chemo gut vertrugen. Ja, Friendly Poison…

So verging meine stationäre Woche: Medizinischer Höhepunkt jeden Tages war die vom Doc in die Wege geleitete Chemotherapie. Die Infusionen liefen jeden Tag wie auch Tag 1 ab, mit dem Unterschied, dass an den Tagen 2-5 keine Bleomycin-Infusion stattfindet (und dass statt Emend 125mg oral Emend 80mg gegeben wird). Dauer der Chemo circa 3 Stunden.

Hinein damit! Die Tage in der Klinik waren ein einziges langes Gefüllt- und Gespültwerden. Irgendeine Flüssigkeit lief immer in mich hinein. Zusätzlich trank ich mindestens 3 Liter Wasser am Tag. Die Folge: Bereits am zweiten Tag brachte ich 6 Kilo mehr auf die Waage – und das obwohl ich alle halbe Stunde meine Blase entleeren musste. Ich las, hörte Musik über meine Kopfhörer oder schlief abwechselnd. Dann ging es wieder auf die Toilette, pinkeln. Mehrmals am Tag schob ich den Galgen zum Wasserkasten neben dem Schwesternzimmer, um mich mit Nachschub zu versorgen. Ich versuchte, mich zu bewegen. Wobei ich spürte, dass ich langsam machen sollte. Die Zytostatika zerrten an meinen Kräften (wobei ich einfach nur „schlapp“ war, von wirklicher Erschöpfung konnte keine Rede sein). Also ab ins Bett. Wieder schlafen. Auf Toilette usw.

Viele Chemopatienten haben Probleme mit ihrem Appetit, können Lebensmittel nicht riechen: Bei mir davon keine Spur. Zwar hatte ich manchmal einen metallischen Geschmack im Mund oder meinte, etwas Metallisches zu riechen, aber das wirkte sich nicht auf meinen Appetit aus. Ich aß die ganz normale Vollkost (leckeres Krankenhausessen übrigens), selbst auf meinen Kaffee musste ich nicht verzichten, verhielten sich meine Schleimhäute doch robust, so dass ich in der ersten Chemowoche keinerlei Verträglichkeitsprobleme hatte.

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Randbemerkung zum Thema „Vertrauen / gut versorgt“

Zweimal wurden in dieser stationären Woche die Blutwerte bestimmt (Mittwoch und Freitag am letzten Tag), meine Blutwerte waren je im normalen Bereich. Ich bekam kein Fieber, mein Blutdruck war normal. Selbst mein Stuhlgang pendelte sich mit Hilfe von Macrogol ein. Bis zum Ende der Woche ging mein Gewicht herunter, am Freitag wog ich 4 Kilo weniger als noch den Dienstag zuvor. Ich hatte mehr Flüssigkeit ausgeschieden als aufgenommen (aufgenommen hatte ich mindestens 6 Liter jeden Tag).

Nachdem mir eine Krankenschwester ohne Probleme am Freitagnachmittag das ZVK („tief Luft holen, tief ausatmen…“) gezogen hatte, konnte ich heim. Ich war geschafft, aber sehr froh, wie die Woche verlaufen war. Meine erste Woche mit „Friendly Poison“ war doch sehr freundlich abgelaufen – und ich hatte es tatsächlich geschafft, nicht zu rauchen.

 

II. Der ambulante Teil meiner PEB Chemo

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Der „ambulante Teil“ – das klingt doch gegenüber „stationärem Teil“ vergleichsweise harmlos. „5 Tage jeden Tag eine mehrstündige Chemositzung“ klingt gewichtiger als an den Tagen 8 und 15 innerhalb von nicht einmal einer halben Stunden noch einen Bolus von je 1x Bleomycin zu erhalten…

„Bis in die Haarspitzen“

Die Tage in der Klinik zuvor waren ein einziges langes Gefüllt- und Gespültwerden. Beides fand nun nicht mehr statt. Die einzigen Medikamente, die ich an den Tagen 6 & 7 nehmen sollte, waren das Mittel gegen Übelkeit Emend 80mg und der Entzündungshemmer Dexamethason. An Tag 8 stand als Bolus die Bleomycin-Infusion an.

Da ich nach wie vor sehr häufig Wasserlassen musste (mindestens alle halbe Stunde), sah ich es weiterhin als wichtig an, viel zu trinken. Mindestens 3 Liter Wasser am Tag, das hatte ich mir vorgenommen (was in diesen Tagen kein Problem war, weil ich ständig Durst hatte).

Ich fühlte mich gut. Wobei ich im Verlauf der Tage spürte, dass die Schlappheit, die mich immer wieder überkam, eine andere Qualität annahm. In der Klinik war mein Körper, so erschien es mir, passiv gewesen. Ein Gefäß, dass es zu füllen galt. Jetzt war mein Körper gefüllt, ich fühlte mich „bis in die Haarspitzen voll“ – und er wurde Hand in Hand mit den Friendly Poison sehr aktiv.

In mir arbeitete es auf Hochtouren, die Zytostatika hatten ihr Werk aufgenommen – und so war meine Schlappheit in den Tagen 6 bis 9 immer weniger von der Art „müde“, sondern nahm Formen der Erschöpfung an.

Die Infusion von Bleomycin am Tag 8 verstärkte den Wirkprozess. Meine Sorge, dass die erneute Zytostatika-Gabe (Dauer der Infusion eine halbe Stunde) mein gutes Gefühl ändern würde, bewahrheitete sich nicht. Als sehr beruhigend empfand ich es, dass laut Labor alle meine Blutwerte normal waren. Ich erhielt auch keine unterstützenden Mittel wie einen Übelkeitshemmer, weil der Onkologe nicht mit Nebenwirkungen rechnete. So kam es auch. Keine Übelkeit. Ich fühlte mich gut. Vielleicht noch etwas erschöpfter als zuvor, aber gut.

Gleichwohl ging mit der Erschöpfung eine Art geistiger Schwäche einher. Ich hatte den Eindruck, mich weniger gut konzentrieren zu können. Ein Buch lesen empfand ich nun als zu anstrengend. Tippte ich ein paar Zeilen auf dem Computer, so merkte ich, wie schwer es mir fiel, die richtigen Tasten zu treffen und mich an Rechtschreiberegeln zu halten.

Kommunizieren empfand ich im zunehmenden Maße als anstrengend, vor allem in Form von Telefonaten. Hier wird auch eine Rolle gespielt haben, dass sich zwischenzeitlich ein beidseitiges leises Ohrengeräusch bei mir bemerkbar machte, nicht so schlimm, dass ich von Tinnitus sprechen würde, nicht so schlimm, dass ich nicht hätte darüber hinweg hören können (vor allem mit dem Wissen, dass es nach der Chemo auch wieder weggehen wird), aber dennoch da.

Aber, wie gesagt, mein Grundempfinden war, dass es mir gut ging. Ich war halt ein Organismus unter Hochlast. Dies zeigte sich auch an meinem Gewicht: Von Tag 6 bis zum Tag 10 der Chemo nahm ich fast 4 Kilo ab. Dabei aß ich gut (und dank meiner Liebsten auch gesund). Zwar waren von Tag zu Tag meine Magen- und auch meine Hals- und Mundschleimhäute empfindlicher geworden (auf meine Tasse Kaffee musste ich verzichten). Aber ich hatte keine Schmerzen. Es traten keine Entzündungen der Schleimhäute auf, sehr schmerzhafte Entzündungen in der Mundhöhle, im Magen, im Darm, die leider viele Chemopatienten quälen. Ich hatte Glück. Hatte Durst und hatte Appetit. Konnte eigentlich essen, auf was ich Lust hatte. Es gab einige Momente, in denen ich mir erlaubte zu denken: Vielleicht gehörst Du ja wirklich zu den Glücklichen, die eine Chemo über die ganze Distanz ganz gut vertragen.

Ach ja, ich ging jeden Tag ein wenig spazieren (hatte mir Nordic Walking Stöcke gekauft) und – ich war natürlich stolz wie Oskar – ich hatte nach wie vor keine Zigarette angepackt. Da musste es doch einfach weiter gut laufen…

„System down“

30 Mio.E.0,5ml Filgrastim
Es passiert nicht bei allen PEB Chemopatienten, aber bei vielen, und wenn es passiert, dann um den Tag 10 herum – wie bei mir: Die Zahl meiner weißen Blutkörperchen ging in den Keller. Somit fuhr mein Immunsystem nahezu komplett herunter.

Es geschah, schien mir, von jetzt auf gleich. Ohne Vorwarnzeit. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr nur erschöpft, sondern total ausgelaugt, bis ins Mark ausgesaugt. Ich hatte das Gefühl „immer weniger“ zu werden – und dass obwohl ich plötzlich begann, wieder an Gewicht zuzulegen.

Was den Eindruck der Schwäche verstärkte, war, dass zudem meine Oberschenkel zu schmerzen begannen. Sie schienen mein Gewicht nicht mehr zu tragen, meine Beine knickten manchmal weg. Auf einem Bein stehen, um in eine Hose zu schlüpfen, ging nicht mehr. Laufen fiel schließlich schwer.

Ich war bedient – und nur froh, dass ich an Tag 11 einen Termin beim Onko-Doc zwecks Bestimmung der Blutwerte vereinbart hatte. Ich machte mir große Sorgen, dass die Schmerzen und meine Gehschwäche etwas mit den Nerven zu tun haben könnten (eine der Nebenwirkungen einer PEB Chemo, die gerne irreversibel ist).

Was meine Beine anging, konnte mich der Doc nach einigen Test beruhigen, keine Nervenangelegenheit, sondern Muskelschmerzen und -schwäche als eine späte Nebenwirkung des Cisplatin.

Beunruhigend entgegen waren meine Blutwerte, denn seit dem letzten Labor 4 Tage zuvor war die Anzahl meiner Leukozyten so stark gesunken, dass meine Immunabwehr quasi nicht mehr vorhanden war.

Das bedeutete: Prophylaktisch ein Antibiotikum schlucken (Ciprofloxacin 500mg, 2x täglich) und 1x täglich einen Wachstumsfaktor für weiße Blutkörperchen subkutan spritzen (30 Mio.E./0,5ml Filgrastim, dass das Knochenmark anregt, weiße Blutkörperchen zu produzieren). Kontrolle der Laborwerte am Morgen des Tages 15, einem Montag, dem Tag, an dem die nächste und letzte Chemo-Infusion stattfinden soll. Dann schickte mich der Onkologe mit der Auflage, Menschenansammlungen zu meiden, und dem Rat, 30 Minuten am Tag spazieren zu gehen (wenn es denn die Muskelschmerzen zulassen), heim. Infektionen vermeiden, Immunabwehr stärken, die Devise für die kommenden Tage, das kommende Wochenende. Sollte ich allerdings Fieber bekommen, dann müsse ich in die Notaufnahme…

Zwischenbemerkung_stationär_ambulant

Randbemerkung zum Thema „stationär / ambulant“

Das folgende Wochenende war ich nicht wirklich entspannt, um nicht so sagen nervös. Dieses Kratzen im Hals… Kommt das jetzt von der Chemo, die meine Schleimhäute angreift? Oder ist das Kratzen ein Anzeichen einer Erkältung? Apropos Erkältung… Wie sind denn diese plötzlichen Hitzewallungen zu werten? Die Nachtschweißattacken? Und das meine Temperatur von sonst durchschnittlich 36,4° nun auf 37,5° gestiegen ist? Ist das bereits als Fieber zu werten?

Sehr froh war ich aber, dass die Muskelschmerzen in den Oberschenkeln und damit die Muskelschwäche verschwanden (kaum in die Badewanne hineinzukommen, um zu duschen – ich habe keine separate Dusche -, war bedrückend). Somit konnte ich spazieren gehen (das Wetter war ja auch noch herrlich), und etwas für meine Immunabwehr tun.

Dann kam der Montagmorgen. Nach einer sehr unruhigen, verschwitzten Nacht war ich ziemlich geschafft, aber dennoch guter Dinge: Ich hatte kein Fieber bekommen (die 37,5° hatte ich als einmaligen Ausrutscher nach oben gewertet), hatte mir keine Infektionen eingehandelt. Das Wochenende hatte ich überstanden.

Meine Liebste brachte mich zum Onkologen. Tag 15 meiner Chemo. Laut Therapieplan sollte ich an diesem Morgen meine letzte Dosis erhalten, eine letzte Infusion Bleomycin. Und so schlapp ich mich auch fühlte (und so blass wie ein Vampir auf Diät ich auch war), ich war mir sicher, dass meine Blutwerte besser sein würden als den Donnerstag zuvor. Friendly Poison. Kinders, so sind die Kleinen halt, wenn sie einmal losgelassen werden… Schießen einfach gerne mal übers Ziel hinaus… Ich freute mich, auf die Zielgerade meiner Chemo einzubiegen.

Die Laborwerte verzögerten meinen Schlussspurt. Die Anzahl meiner Thrombozyten war so weit abgesackt, dass mit einer erhöhten Blutungsneigung zu rechnen war. Die Zahl meiner Leukozyten war nach wie vor unterirdisch. Mir Bleomycin in die Vene zu jagen, war dem Onko-Doc zu riskant. Ich war enttäuscht. Jetzt hieß es: Weiter spritzen, weiter Antibiotikum schlucken, Kontrolle den Mittwoch darauf. Jetzt hieß es: Keimen, Bakterien, Viren aus dem Weg gehen, Infektionen vermeiden, Immunabwehr stärken, auf eventuelle Blutungen achten, durchhalten. Und es lief so weit auch alles ganz gut. Die Muskelschmerzen, die als Nebenwirkung des Filgrastim auftraten (erst in den Kiefermuskeln, dann auch im Rücken) empfand ich als weniger belastend als die Schmerzen in den Oberschenkeln die Tage zuvor, wusste ich doch, sie werden abklingen, wenn ich nicht mehr spritzen muss. Dennoch, die Kieferschmerzen waren nicht ohne, bereiteten mir zusammen mit den Nachtschweißattacken schlaflose Nächte. Aber zumindest die Rückenschmerzen sprachen recht gut auf Ibuprofen an.

Dann die Kontrolle am Mittwoch, dem Tag 17: Werte besser, aber noch nicht gut genug. Weiter spritzen, weiter Antibiotikum schlucken, mich mit keinem Keim, keiner Bakterie, keinem Virus infizieren. Kontrolle am Freitag, dem Tag 19, an meinem Geburtstag.

Bad Hair Days & Happy Birthday
Happy_Birthday_Bad_Hair_Day1

Waren sich die Herren und Damen Doctores auch bei den sonstigen Nebenwirkungen der Chemo nicht einig gewesen, bei einer Sache hatten sie übereingestimmt: Meine Haare werden ausfallen.

Ab Tag 16 war es soweit. Meine Kopfhaare begann auszufallen. Zuerst an den Schläfen, dann an den Seiten. Die Haare am Hinterkopf hielten sich zunächst noch standhaft an Ort und Stelle. Aber auch das sah bald anders aus. Ich musste nur mit der Hand über meinen Kopf streichen und meine Finger waren voll mit Haaren.

Auch meine Barthaare fielen aus. Es war ein ganz eigentümliches Gefühl zu bemerken, dass ich mir meine Barthaare, während ich mir mit kalten Wasser mein Gesicht abwusch, einfach mit der Hand abrubbeln konnte. Rasieren mit der Handkante, voll Kung Fu.

Ich hatte mir meine Haare nicht im Vorfeld abrasiert, weil ich wissen wollte, wie das vor sich geht und wie sich das anfühlt, wenn sie ausfallen. Als ich schließlich wie ein gerupftes Huhn aussah, war aber die Zeit des Rasierers gekommen. Tag 19 meiner Chemo. An meinem Geburtstag sollte es geschehen. Ganz passend fand ich. Eine besondere Rasur an einem besonderen Tag. Zwar trug ich meine – vor allem auf dem Oberkopf – eher in geringerer Zahl vorhandenen Haare seit etlichen Jahren kurz geschnitten. Aber mir eine Glatze zuschneiden, fühlte sich doch ungewöhnlich an. Wie gesagt, für meinen Geburtstag in meinem Krebsjahr ganz passend.

Aber zuvor hoffte ich, ein weiteres Event an meinem Geburtstag über die Bühne bringen zu können: meine letzte Dosis Friendly Poison, die Bleomycin Infusion. Dafür mussten sich natürlich meine Blutwerte, insbesondere die Anzahl der Leukozyten, normalisiert haben – und endlich war es soweit. 2 Stunden nachdem mir beim Onko-Doc das vierte Mal innerhalb von 10 Tagen Blut abgenommen worden war, erstrahlten die entscheidenden Werte auf dem Laborbericht in schönster Normalität.

„Womit habe ich nach der Infusion zu rechnen?“, fragte ich. „Mit nichts Besonderem!“, antwortete mein Onko-Doc – und ich in meiner Freude, endlich wieder mit einem funktionierendem Immunsystem ausgestattet zu sein (und vielleicht sogar meinen Geburtstag nun doch mit Freunden feiern zu können) und nun bald meine Chemo hinter mir zu haben, hörte: „Nichts!“ Schließlich war die erste ambulante Bleo-Infusion am Tag 8 meiner Chemo unspektakulär verlaufen. Also Bleomycin vorbereiten, Viggo legen – und hinein damit.

Und zunächst passierte auch nichts. Ich fuhr heim. Spürte eine gewisse Müdigkeit. Aber das war ja auch kein Wunder, nichts Besonderes. Schließlich war ich früh aufgestanden, hatte 3 Stunden mit meinem Arztbesuch verbracht und mir innerhalb einer halben Stunde eine satte Dosis Zellgift in die Vene jagen lassen. Da kann man schon müde werden… Also legte ich mich – für ein Stündchen, so der Plan – aufs Ohr. Kaum lag ich einige Minuten, ging es los.

Als hätte jemand gigantische Kühlaggregate aufs Bett gerichtet. Als würde draußen ein Eisblizzard toben und die schützenden Wände samt Fenster wären eingerissen worden, so dass ich plötzlich inmitten des Kältesturmes liegen würde. So einen Schüttelfrost, wie der, der mich da plötzlich überkam, hatte ich noch nie erlebt. Was war mir kalt. Glücklicherweise war ich ja nicht allein und bald mit zwei Wärmflaschen und heißem Tee versorgt.

Nach einer halben Stunden Zähneklappern war es mit dem Kältesturm genauso schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Und die Temperatur begann zu steigen – jedenfalls die von mir gefühlte und meine Körpertemperatur. Ich bekam Fieber, 38°, 38,7°, 39,5° zeigte das Fieberthermometer, Tendenz also steigend. Und mit steigendem Fieber wuchs – obwohl laut Labor wenige Stunden zuvor mein Immunsystem ok war und auch nichts auf eine Infektion hindeutete – meine Besorgnis. Zwar gaben die ersten Treffer bei Google zur Anfrage „Bleomycin Schüttelfrost Fieber“ Entwarnung in dem Sinn, dass dies nach einer Infusion Bleomycin typisch sei und nur bedenklich, wenn die Temperatur nicht bald wieder hinuntergeht (unterstützt durch etwa fiebersenkende Tabletten – oder wenn jemand nicht schlucken könne – Zäpfen und durch Hausmittel wie Wadenwickel). Aber ich wollte zur Sicherheit noch einen ärztlichen Rat.

Ich versuchte also meinen Onko-Doc zu erreichen – vielleicht war er an diesem Tag zufällig ja länger als bis um 12 Uhr in der Praxis geblieben. Nur der AB. Dann rief ich im Krankenhaus an, um den Urologen, der mich an den stationären Chemotagen betreut hatte, um Rat zu fragen. Leider konnte ich nicht mit ihm persönlich reden, die Sekretärin schirmte ihn an, sie überbrachte aber meine Anfrage – und übermittelte mir seine Einschätzung: Ich solle ins Krankenhaus kommen, mich an der Inneren melden. Happy Birthday! Toll. Ich hatte gehofft, der Urologe beruhigt mich. „Hey, ganz typisch nach einer Bleomycin Infusion. Das geht vorbei, keine Panik. Hausmittel anwenden. Fiebersenkende Tablette schlucken. Die Temperatur im Blick behalten. Nur ins Krankenhaus, wenn sie nicht bald wieder sinkt…“

Ich gab meiner Körpertemperatur eine Stunde, bis ich mich entscheide: Ist sie nach Ablauf der Stunde gesunken, bleibe ich daheim. Ist sie weiter gestiegen, dann geht es ins Krankenhaus. Und mein Körper tat mir den Gefallen, mit dem Fieber klarzukommen und mir den erneuten Klinikaufenthalt zu ersparen. 39,2°, 38,6°, 37,5°, Tendenz: die Temperatur normalisiert sich. Mein Körper schwitzte das Fieber weg. Ich war klatschnass, aber froh. 36,9° Die Notwendigkeit, ins Krankenhaus zu gehen, sah ich nicht mehr. Fühlte mich über dem Berg.

Gestern wurden noch einmal die Blutwerte bestimmt, und die Werte gaben meiner Entscheidung recht. Dies bestätigte mir auch der Urologe, der mich während der stationären Phase des Zyklus betreut hatte und der (mein Onkologe hatte zwischenzeitlich, wie ich erfahren musste, seinen Urlaub angetreten) meine aktuellen Laborwerte für mich interpretierte. Alle Werte normal. Alles bestens. „Sie haben es geschafft – und wenn ich das sagen darf: Die Glatze steht Ihnen sehr gut!“

Meine Liebste hatte mir einen Tag nach meinem Geburtstag den Kopf rasiert. Und ich war wirklich erstaunt gewesen, wie fremd mir mein Anblick im Spiegel wurde – und dass obwohl meine normale Haarpracht, wie gesagt, eh bereits eine deutliche Tendenz Richtung Glatze hatte. Aber so glatt geschoren, das war doch etwas anderes (hoffe nur, dass meine Wimpern und Augenbrauen nicht ausfallen). Und kühl war mir plötzlich am Kopf. Auch das war erstaunlich: selbst kurze Haare wärmen.

Zum Glück hatte meine Liebste mir zum Geburtstag eine coole britische Schiebermütze geschenkt, damit war ich sowohl wärmetechnisch wie auch stylisch auf der richtigen Seite. Zum Glück brauchte ich nur ein paar Tage, um mich an die Glatze zu gewöhnen. Ja, schließlich begann sich in mir sogar das Gefühl zu regen, dass mir die Glatze eigentlich ganz gut steht, so dass ich jetzt die Mütze nur wegen der Kühle brauche oder sie anziehe, weil ich sie cool finde, und nicht, um mich zu verstecken.

Ich war und bin sehr froh. Sehr froh, dass die Chemo vorbei ist. Dass ich die Chemotherapie so gut vertragen habe. Ja, my Deadly Friends Cisplatin, Etoposid und Bleomycin waren wirklich freundlich zu mir gewesen. Werden weiter freundlich zu mir sein, denke ich hinsichtlich eventueller Spätfolgen (z.B. Lungenprobleme aufgrund des Bleomycin). Wie Anfangs gesagt: Ich will eine positive Einstellung an den Tag legen… Die Nebenwirkungen, die sich derzeit noch bemerkbar machen, sind jedenfalls nicht schlimm: Der Haarausfall (das sichtbarste Zeichen meiner Chemozeit, glücklicherweise immer noch nicht meine Augenbrauen und Wimpern betreffend), die Ohrengeräusche (werden schon leiser), die veränderte, flüssigere Konsistenz und blassere Farbe meines Spermas und eine sehr starke Erschöpfung, die mich mindestens einmal am Tag überkommt und dann für mehrere Stunden in ihrem Griff behält.

Letzteres könnte jene starke, unter Umständen gar Monate dauernde Müdigkeit sein, die mit dem Begriff „Fatique“ bezeichnet wird (vgl. Blauer_Ratgeber_Hodenkrebs_Krebshilfe, S. 69). Muss es aber nicht sein. Ich gehe davon aus, dass es eine stinknormale Erschöpfung ist, weil die Chemo anstrengend für Körper und Seele war, immer noch ist und sein wird, bis sich mein Zell- und mein seelischer Haushalt komplett normalisiert haben. Ja, normalisieren… Jetzt heißt es, mich erholen. Stress vermeiden. Und gelassen in die Normalität, in einen Alltag ohne Krebs, zurückkehren. In zwei Monaten dann die erste Nachsorgeuntersuchung. Aber hier verlasse ich mich ganz auf meine Deadly Friends.

Und nun werde ich eine Runde spazieren gehen, bzw. Nordic Walken… Gerade bricht die Nachmittagssonne durch die Wolken. Ideal, um ein wenig an die frische Luft zu gehen. Denn frische Luft ist gut, um sich zu erholen, die Phase der Müdigkeit zu überwinden. Die Stöcke zu schwingen ist gut, um mich abzulenken. Denn während ich diese letzten Zeilen zu meiner PEB Chemotherapie schreibe, habe ich wieder einmal große Lust, mir eine Zigarette anzuzünden. Toi toi toi: Bisher bin ich stark geblieben, habe keine geraucht. Bald feiere ich meinen Geburtstag nach. Ja, wenn ich stark bleibe, wird dies der erste Geburtstag seit rund 25 Jahren sein, von dem es kein Foto von mir mit einer Kippe in der Hand oder im Mundwinkel geben wird. Der Gedanke gefällt mir.

 


 

Links und Quellen zur PEB Chemotherapie


 

Die ganze Geschichte in 4 Akten:

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp

Hodenkrebs_Erfahrungen2
„Ich habe nicht inhaliert!“ – ich sah meinen alten Freund förmlich vor mir, wie er breit grinsend ins Telefon sprach. Ich war nicht der Erste, der ihn Sonntagabend nach dem Münster-Tatort anrief. Dabei war es bei mir Zufall. Ich hatte den Tatort nicht gesehen, in dem Prof. Börne behauptet: „Kiffen erhöht das Hodenkrebsrisiko um 70 Prozent“. Nicht Pot, sondern Plot – das war meine Sonntagsbeschäftigung – kurz ich sah kein TV, sondern brütete an meinem Schreibtisch über der Dramaturgie meines dritten Romans. Als mein Tag- und Abendwerk beendet war, rief ich an, weil ich wissen wollte, was es Neues an der Hodenkrebs-Front gab.

Ich war noch auf dem Stand von einigen Tagen zuvor. Bedeutet: Die Fragen, die sich ihm gestellt hatten, bevor er sich entscheidet, ob er active surveillance oder PEB Chemo wählt, waren beantwortet worden. Endlich!

Das Warten und die Empfehlung

Der Nachtragsbefund des Pathologen, der das Orchiektomie-Präparat untersucht hatte und bezüglich der Einordnung des Tumors unsicher gewesen war, lag als Erstes vor. Leider hatte man versäumt, meinem Freund dies mitzuteilen, obwohl er mehrmals nachgefragt hatte. „Ich habe meinen ergänzten Befund doch bereits vor einer Woche übermittelt!“, gab sich der Pathologe erstaunt, als mein Freund mit ihm persönlich telefonierte. Wie auch immer. Bezüglich der strittigen Frage, ob eine vaskuläre Invasion vorliege (und somit ein bedeutender Risikofaktor), brachte der Mediziner nun Licht ins Dunkel: Die erneute Betrachtung des Präparates hätte seine Unsicherheit beseitigt und den ursprünglichen Bericht bestätigt. Vaskuläre Invasion der Lymphbahn (L1).

Länger dauerte es, bis die beiden Fragen „Was sagt das Zweitmeinungsprojekts der Deutschen Hodentumor Studiengruppe (GTCSG) zu seinem Fall? Und wenn Chemo: Reicht nicht auch 1 Zyklus PEB?“ beantwortet waren. Das lag zum einen daran, dass sich der Urologe eine Woche Zeit ließ, bis er den Fall dort vorstellte. Und zum anderen hatte jener den Fall nicht über die Homepage des Zweitmeinungsprojektes und die dort installierte Eingabemaske eingereicht (es wird auf der Homepage eine Zeitspanne von längstens 24 Stunden genannt, bis eine Empfehlung vorliegt), vielmehr hatte er ein Fax mit dem Befund und der Anfrage an eine an das Projekt angeschlossene Universitätsklinik geschickt. Dieses Fax war unbemerkt geblieben und unter einem Stapel verschwunden. Es dauerte rund zwei Wochen bis das Schriftstück entdeckt wurde und sich die Zweitmeinungsstelle meldete.

Dann aber hatte das Warten ein Ende und alle Fragen waren geklärt: Der Tumor sei, so die Zweitmeinungsstelle, aufgrund der vaskulären Invasion und der Infiltration der Rete Testis als high risk non-seminom Karzinom zu werten. Auch bei einem Stadium 1B Tumor sei in diesem Fall von „wait and see“ (active surveillance) abzuraten. Da mit der adjuvanten Chemotherapie von 1 Zyklus PEB aufgrund neuerer Studien Rezidiven ebenso erfolgreich vorgebeugt werden könne wie mit stärker belastenden 2 Zyklen PEB (eine Vorgehensweise, die zwar noch nicht in die Leitlinien übernommen worden sei, aber das wäre nur eine Frage der Zeit…), laute die Empfehlung 1 Zyklus PEB.

Und mein alter Freund war der Empfehlung gefolgt, hatte sein OK zur Chemo gegeben. Mit der Überweisung des Urologen in der Tasche war er zum vorgeschlagenen Onkologen gegangen. Hier hatte man ob seiner Bitte um einen baldigen Termin erst einmal gelächelt („Also frühestens in 3 Monaten“), dann aber nach einem gewissen freundlichen Insistieren doch einen Termin eine Woche später herausgerückt. Und dieser Termin war drei Tage vor gesagtem Tatort. Dies war mein Informationsstand, als ich ihn an besagtem Abend anrief.

Sind die denn alle bekifft?

„I didn’t inhale!“, begrüßte er mich mit dem alten Clinton-Spruch. Ich war beileibe nicht der Erste, der bei ihm an diesem Abend durchklingelte, wie er meinte. Er fasste den Münster-Tatort kurz zusammen. Börne hätte bewirkt, dass einige Menschen, die sich bislang nicht so getraut hatten, sich bei ihm zu melden, jetzt anriefen. Die Sprüche vom Börne zum Hodenkrebs wären wohl ein guter Aufhänger gewesen, um das schwierige Thema ein bissel locker anzugehen. Es gab zwar auch Stimmen der „Das lass mal besser!“-Fraktion, aber die kannten ihn, der selbst auf Partys, wo Cannabis in Hülle und Fülle angeboten wurde, bei seinem Bier blieb, nicht gut. Er war da wie ich. Cannabis war nicht seine Droge.

„Aber wer weiß?“, meinte er, „Vielleicht wird sie das angesichts der Nebenwirkungen der Chemo ja noch – wobei: Bis auf den Onkologen sagen eigentlich alle: 1 Zyklus PEB wird nicht ganz so furchtbar arg.“

Ja, der Onkologe. Ein sehr netter Mann. Das wäre dann ja alles easy, sagte der, die Urologie des Krankenhauses hätte ihn schon wegen seines Falles angerufen und ihm die Diagnose durchgegeben. Zweimal müsse er zu ihm ambulant kommen, um die Infusionen zu erhalten. Und gut.

Und gut? Ich selbst hatte ja schon häufiger mit Ärzten zu tun, und nicht immer lief alles glatt, aber hier schien es hinsichtlich eines gewissen Kommunikationsproblems an kein Ende zu kommen. Denn nichts war gut. „Was heißt zweimal ambulant? Ich dachte der erste Teil eines Zyklus würden an 5 Tagen stationär verabreicht?“, fragte mein Freund verwirrt, „Und warum hat die Urologie des Krankenhauses wegen meines Falles angerufen? Mit denen habe ich das letzte Mal nach den OP-Tagen gesprochen.“

Und dann stellte sich heraus, dass der Onkologe aufgrund des Anrufes aus dem Krankenhaus davon ausgegangen war, dass der erste, der stationäre Teil schon gelaufen wäre. Das war natürlich nicht der Fall. Und somit war der Onkologe nicht zuständig. Der stationäre Part einer PEB Chemo wird von der Krankenhaus-Urologie betreut. Die Überweisung durch den Urologen war ein Fehler gewesen. „Das hätte der aber wissen müssen…“ Eine Woche hatte mein Freund auf den Termin gewartet – umsonst.

Na ja, nicht ganz umsonst. Denn der Onkologe nahm sich gut eine dreiviertel Stunde Zeit, um ihn über die Nebenwirkungen einer Chemo aufzuklären (was bislang so ausführlich bei ihm noch kein Arzt gemacht hatte – „einen mündigen Patienten muss man auch über den worst case aufklären“). Interessant war: Der Onkologe hatte zwar vom Urologen Unterlagen zum Fall erhalten, aber nicht den Bericht des Tumorboardes und nicht den histologischen Befund – also die wichtigsten Unterlagen. Diese hatte mein Freund dabei. Interessant war: Die Nebenwirkungen sind – laut der Einschätzung des Onkologen – nicht ohne. Und das heißt nicht nur Haarausfall und Übelkeit und Schleimhautprobleme im Mund (Nebenwirkungen, die nach Beendigung der Chemo abklingen), sondern eventuelle (gerne länger anhaltende) Probleme wie Tinnitus, Nervenschädigungen (Kribbeln oder Taubheit in den Gliedern), Lungenschädigungen – und vor allem: Bereits während des ersten Zyklus‘, ab dem Tag 10., würde erfahrungsgemäß das Immunsystem so down sein, dass man höllisch auf eine Infektion mit Irgendetwas aufpassen müsse (und das gerne länger anhaltend). Als Zugabe: Eine Chemo könne andere Tumore auslösen… Zu bedenken sei übrigens auch, dass seiner Erfahrung nach die Zahlen, die üblicherweise hinsichtlich des Wiederauftretens eines Rezidivs (30% unter active surveillance bekommen ein Rezidiv, nur 3-5% nach einer Chemo) genannt werden, seinen Erfahrungen nicht entsprechen: Er halte die Zahlen 20% unter active surveillance, etwa 10% nach einer Chemo bezüglich der Gefahr eines Rezidivs für wahrscheinlicher. „Sie sind ja, wie ich merke, nicht blöd“, sagte der Onkologe, „Und ein mündiger Patient sollte schon richtig aufgeklärt werden. Jetzt haben sie noch die Wahl.“

Angesichts dieser Zahlen (und angesichts der beschriebenen Nebenwirkungen) erschien die Strategie active surveillance jetzt doch wieder sehr attraktiv. Vor allem: Vielleicht hatte der Urologe, dessen Überweisung an den Onkologen schon falsch gewesen war, der diesem Onkologen gerade die wichtigsten Befunde nicht übermittelt hatte, auch dem Zweitmeinungsprojekt nicht genügend Informationen übermittelt (nur ein Fax,  kein Einholen der Zweitmeinung über das standardisierte Formular… )? Vielleicht beruhte die Empfehlung von 1 Zyklus PEB auf falschen Voraussetzungen?

Kurz: Mein Freund, der sich darauf eingestellt hatte, nun vom Onkologen betreut in Kürze den 1 Zyklus PEB zu erhalten, ging niedergeschlagen, verwirrt heim. Die Informationen, die er zuvor zur Chemo erhalten hatte, waren gewesen: „Erst bei 3, 4 Zyklen wird es schlimm“. Von eventuellen längerfristigen Folgen, gar einem erhöhten Risiko aufgrund der Chemo neue Tumore sich einzufangen, war keine Rede gewesen….

„Vielleicht sollte ich mir jetzt doch mal einen Joint durchziehen!“, meinte er, „Vielleicht wird mir dieses ganze Hin- und Her, und Kommunikationsgalama und Prognosenzeugs ja dann egal! Ja, vielleicht hätte ich beim Vertretungsurologen meine Schnauze halten sollen, einfach nicht nachfragen, als er sagte, alles in Butter mit der OP . Einfach rausmarschieren – und weiterleben, als sei nichts geschehen, weiterleben ohne nachzudenken.“

„Soviel kannst Du gar nicht kiffen, dass Du aufhörst, nachzudenken, Fragen zu stellen!“, gab ich ihm zurück. Und dann vertagten wir unser Gespräch auf den nächsten Tag. Der Onkologe hatte angeboten, Rücksprache mit der Urologie des Krankenhauses zu halten, um die optimale Behandlung abzuklären. Er würde sich am folgenden Tag melden. Nett der Onkologe.

Der nette Onkologe rief tags darauf nicht an. Auch am Tag danach meldete er sich nicht. Erst am dritten Tag meldete er sich.

„Sind die denn alle bekifft?“, erboste sich mein Freund, als er mir von dem Telefonat berichtete. „Erst überweist mich der Urologe völlig überflüssig an den Onkologen. Dann sagt der Onkologe doch glatt, dass der Anruf des Krankenhauses nicht mir gegolten hätte. Er hätte mich mit einem anderen Patienten verwechselt. Verwechselt! Somit müsse er seine Aufklärung bezüglich active surveillance oder Chemo revidieren. Er hätte sich meine Unterlagen noch einmal angesehen und rate deswegen auch zu einer Chemo…“

Der Sprung ins Vertrauen

Glücklicherweise – weil sein Vertrauen in die Empfehlung der Zweitmeinungsstelle wiederherstellend – hatte mein Freund zwischenzeitlich der Professorin der Zweitmeinungssstelle, die mit seinem Urologen telefoniert hatte, eine E-Mail geschrieben, in der er alle Informationen, die ihm zur Verfügung standen, aufgelistet hatte. Sie war so nett gewesen, gleich am nächsten Tag anzurufen. Sie bekräftigte am Telefon ihre Empfehlung: Kein active surveillance, er hätte zwar Stadium 1B, aber die TNM-Klassifikation pT2 cN0 cM0 L1 R0 V0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 sei als high risk Karzinom zu werten. „Tun sie mir den Gefallen, und tun sie etwas. Warten sie nicht ab. Nehmen sie sich eine Woche Zeit, und dann ist gut!“, sagte sie (die Nebenwirkungen offensichtlich anders bewertend als der nette Onkologe).

Und das ist also der Stand der Dinge. Mein alter Freund sagte sich: „Die macht den ganzen Tag kaum etwas anderes, als sich mit Hodenkrebs beschäftigen. Wenn er schon jemandem vertrauen soll, dann doch ihr.“ Also setzte er zum Sprung an. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Zum Sprung ins Vertrauen. Er hat entschieden. Keine Fragen mehr.

Apropos Vertrauen: Der Krankenhaus-Urologe, der bereits vor der OP die Voruntersuchungen gemacht hatte, rief ihn dann an – ohne dass er hätte aktiv werden müssen. Der Onkologe hatte mit ihm gesprochen. „Und er würde seinen Fall jetzt in die Hand nehmen“. Eine Aussage, die sehr gut tat. Ein leises Gefühl von Hier werde ich in guten Händen sein stellte sich ein. Vor allem auch, weil der Urologe von sich aus die noch zu machenden Voruntersuchungen ansprach. Mein alter Freund musste nicht fragen, hier wurde Wichtiges für ihn geregelt.

Dann ging es ins Krankenhaus, um die Voruntersuchungen (Bluttests, u.a. Tumormarker, Sonographie, Lungenfunktionstest, EKG, Neurokonferenz) zu absolvieren. Die Möglichkeit von Samenspenden (und anschließender Kryokonservierung meiner Fortpflanzungszellen) wurde besprochen und, weil ich keinen Kinderwunsch mehr hegte, nicht ergriffen. Alle Ärzte und Pflegekräfte waren sehr freundlich, aufmerksam, strukturiert. Ein Hörtest beim HNO-Arzt steht noch an. Kommenden Montag geht es los mit der Chemotherapie.

Ich hoffe nur, dass nicht der Onkologe, sondern die Professorin bezüglich der Nebenwirkungen Recht behält – und mein alter Freund den Sprung ins Vertrauen nicht bereut.

Links:

Zusammenfassung von Spiegel online zum Thema „Tatort und Hodenkrebs und Kiffen“: Frage nach dem „Tatort“: Erhöht Cannabis das Risiko für Hodenkrebs?

Bericht über Studien bezüglich 1 Zyklus PEB und Leitlinien: EAU-Leitlinie 2011 mit Blick in die Zukunft: maligner Hodentumor im Stadium I – weniger ist mehr!

Informationen zur PEB-Chemotherapie:

 


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB…

»Jung«, sagte er, »solange du dir noch die Eier kratzen kannst, hat dich der Tod noch nicht am Sack! Das Leben geht weiter, wenn nur du weitergehst.« (aus: „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“).

Hodenkrebs_Erfahrungen
Was ihm auf den Sack ging…

So eine Diagnose wie Hodenkrebs ist ja per schon etwas, dass einem an die Nieren geht, was ihm aber wirklich auf den Sack ging, war, dass er ab dem Morgen des Tages, an dem er unter das Messer des Chirurgen kommen sollte, anscheinend von ihn betreffenden Informationen abgeschnitten war.

Stundenlang wartete mein alter Freund im Flügelhemdchen auf die OP – ohne dass sich jemand bemüßigt sah, ihm mitzuteilen, dass sich die OP verzögert. Er hätte gerne vor der OP dem Chirurgen die Hand geschüttelt und von diesem gehört, was er denn – wenn die Vollnarkose wirkt – mit ihm zu tun gedenke (nur um sicherzugehen, dass der Chirurg richtig informiert ist und sich nicht anderweitig betätigt). Den Chirurg sah er nicht – nicht vor, nicht nach der OP. Bis zur Visite am nächsten Morgen konnte ihm niemand so recht Auskunft über den OP-Verlauf und -Erfolg geben. Auch nach der Computertomografie am Tag nach der OP befand er sich in einem toten Informationswinkel. Beinahe 24 Stunden musste er auf die erlösende Nachricht warten, dass keine Metastasen gefunden wurden. Mehr dazu dort… Hier nur noch das dazu: Wenn es nicht in diesem Stil weitergegangen wäre, wäre das wohl alles Schnee von gestern. Schwamm drüber. Jedes Krankenhaus hat mal einen schlechten Tag. Oder derer drei. Aber was im Krankenhaus begann, setzte sich leider fort. Mit dem Schnitt des Chirurgen war das Thema „Hodenkrebs“ nicht beendet. Und nicht beendet war leider auch der communication breakdown.

Alles fit im Schritt?

Mein alter Freund ist eigentlich ein lustiges Kerlchen, und so gab er sich bei jedem Telefonat (und jeder E-Mail – und das sicherlich nicht nur mir gegenüber) Mühe, auch die spaßigen Momente hervorzuheben, die seine Diagnose mit sich brachte.

„Da drücken sie mir einen Einwegrasierer in die Hand. Vom Bauchnabel abwärts bis runter zu den Oberschenkeln sollte ich mich rasieren – tolle Übung ohne Übung. Oh Gott, wo setze ich den ersten Schnitt. Und wie. Und wenn meine Hand zittert? Sah mich schon dem Chirurgen seine Arbeit abnehmen…“

Am zweiten Tag nach der OP verließ er das Krankenhaus. Großartige Untersuchungen gab es keine mehr. Pflegerisch fühlte er sich genau unterversorgt wie von Informationen abgeschnitten (große Ausnahme: Nachtschwester Bea*). Also nichts wie weg. Seine Temperatur kontrollieren konnte er auch daheim. An dieser Stelle seiner Erzählung brachte er dann oben angeführtes Zitat aus meinem zweiten Roman „Abschied“, was mich natürlich freute. Zitiert zu werden ist was Feines. „Ich musste einfach weitergehen. Dort zu liegen, ohne dass medizinisch überhaupt was passierte, schlug mir doch was aufs Gemüt. So hübsch war es da auch nicht.
Krankenhaus_Fruehstück
Und dann das Essen… Das Frühstück so üppig, dass mich die anschließende Verdauungsarbeit müde zurück ins Bett trieb.

Das Mittagessen so kreativ, dass ich vor lauter kulinarischer Überraschung auf dem Essensplan nachsehen musste, was sie mir da kredenzt haben (und nein, das Bild zeigt keinen Reibekuchen oder Verwandtes). Krankenhaus_Mittagessen

Wie heißt es doch so schön: Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König, Abendessen… Soll ich Dir noch ein Bilder vom Abendessen schicken?

Das Essen wurde eigentlich nur vom Fernseher getoppt. Krankenhaus_FernseherUnd das während der WM! Ne, ich musste weg. Weitergehen…“

Lachend fügte er noch hinzu: „Denn ich bin zwar nur noch ein Halbgemächtling, aber zum Glück hängt es ja nicht daran, wie viel Cojones man hat – denke nur an den Halbing Bilbo. Nicht kaputt zu kriegen!“

Seine Operationswunde verheilte gut. „Brennt nur noch manchmal.“ Die Naht sah von Tag zu Tag besser aus. „Und jucken tut sie mittlerweile.“ Es zwickte und zwackte meinen Freund zwar noch in der Leiste, wo der Chirurg den Schnitt gesetzt hatte, um an seinen linken Hoden heranzukommen. Der Bereich um die Wunde war druckempfindlich, und wenn er zu lange gesessen hatte oder er sich unvorsichtig bewegte, tat ihm die linke Leistengegend auch weh. Aber von Schmerzen konnte keine Rede mehr sein.

War der Chirurg auch kommunikativ nur ein Sechserkandidat gewesen, mit dem Skalpell hatte er zwischen den Schenkeln meines Freundes nach aktuellem Stand der Dinge 1A-Arbeit geleistet. Es war nach der OP keine Drainage notwendig gewesen. Die Körpersäfte hatten sich nicht an dieser für die Schwerkraft anziehenden Stelle gesammelt. Übermäßig geschwollen war nichts gewesen. Wie sich die Semikastration (auch so einer schöner Fachbegriff) auf den Hormonhaushalt meines Freundes auswirken würde, würde sich zeigen. Die Prognosen waren gut. Der andere Hoden würde die Arbeit für den verlorenen Bruder übernehmen, hieß es, Testosterongaben würden nicht notwendig werden (wenn denn der Krebs sich auch noch den zweiten Hoden holt, aber dafür gäbe es – wie das Ultraschall eindeutig zeige – keine Anzeichen). Somit wäre er immer noch zeugungsfähig – was mein Freund gut fand. Nicht weil er noch Kinder wollte, das nicht. Aber – so erklärte er: „Das schöne alte Wort ‚Gemächt‘ kommt nicht umsonst von ‚Machen‘, also übertragen ‚Kinder machen‘, und wurde nicht umsonst auch im Sinne von ‚Macht, mächtig sein‘ gebraucht werden – also Potenz. Und das würde mich ja schon sehr treffen. Wenn es dort einen Einschnitt gegeben hätte. Aber das sieht bisher nicht so aus. Apropos ‚Aussehen‘: Mein Spiegelbild hat sich, obwohl ich auf ein Hodenimplantat, so ein Silikonei, verzichtet habe, nicht großartig geändert. Finde ich natürlich fein!“ Mein Freund hoffte zu diesem Zeitpunkt noch: OP gut, alles gut! Weiter geht’s im Text… „Sag mir bitte, wenn wir telefonieren,“, meinte er, „wenn ich plötzlich höher spreche.“ Und es war klar, dass er dies scherzhaft meinte.

Gut 14 Tage nach der OP ging mein Freund wieder zur Arbeit. Neben seinem preußischen Pflichtgefühl wird auch dieses „Weiter geht’s im Text… Alles normal!“, eine Rolle gespielt haben. Zwar konnte er noch nicht über die volle Distanz eines Arbeitstages gehen. Aber sein Arbeitgeber war froh, ihn wenigstens einen Teil des Tages an seinem Platz zu wissen und ließ ihm freie Hand bei der Gestaltung seiner Arbeitszeit. Und von Tag zu Tag ging es besser. Mit dem Sitzen. Mit seiner allgemeinen körperlichen Verfassung. Hatte er sich in der ersten Arbeitswoche nach der Arbeit noch für mindestens drei Stunden hinlegen müssen, weil ihn der Tag so angestrengt hatte, gab es gegen Ende der zweiten Arbeitswoche bereits Tage, an denen es ihn nicht mehr sofort, wenn er nach Hause kam, in die Horizontale zog. Sein Leben schien sich zu normalisieren. Der Alltag schien in wieder zu haben… „Alles fit ihm Schritt?“, fragte ein Arbeitskollege (mein Freund hatte über die Semikastration kein Feigenblatt gelegt) auf erfrischend unbetroffene, gleichwohl eine ehrliche Antwort erwartende Weise. „Im Schritt alles fit!“, antwortete mein alter Freund, der zwischenzeitlich den histologischen Befund erhalten hatte, „Aber leider ist das nur die halbe Miete.“

In den Schoß fällt einem das nicht…

Mit der OP war leider weder der Krebs noch der communication breakdown erledigt.

Eine Woche nach der OP hat er den histologischen Befund erhalten. Für einen medizinischen Laien doch ein schwer zu verdauendes Stück terminologischer Dichtheit. Leider weilte sein Urologe im Urlaub (was er erst erfuhr, als er Rat suchend in der Praxis anrief), und der Vertretungsurologe war nicht wirklich in der Lage, die terminologische Dichtheit des Befundes in allgemein verständlich Informationen umzuwandeln. Mal ganz abgesehen davon, dass er mit sich selbst uneins war, wie der Befund interpretiert werden sollte („Ist alles ok, mit OP Krebs besiegt, oder vielleicht auch nicht, vielleicht doch noch Chemo, lieber einen anderen fragen…“). Mein Freund schwebte also in einer gewissen Unsicherheit, was die Natur seines Tumors anging, Klar war zu diesem Zeitpunkt nur: Es war ein Tumor. Klar war nur: Mein Freund hatte das dringende Bedürfnis, über seinen Tumor aufgeklärt zu werden.

Leider scheint es so, dass solche Aufklärung einem nicht in den Schoß fällt. Das ist Arbeit. Es gilt zu telefonieren, zu recherchieren, wieder zu telefonieren, Termine abzustimmen, bei diesen Terminen geistig so fit zu sein, um die richtigen Fragen zu stellen, die Antworten zu verstehen…

pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 So lautete die Quintessenz des Befundes. Eine Quintessenz, die wir dann aufgrund unserer Internetrecherchen diskutierten – aber was sind solche Recherchen schon wert? Ohne einen Fachmann, der hilft, diese Informationen einzuordnen. Der die puren Informationen mit seinen Erfahrungen abgleicht, um über einen Sachverhalt wirklich aufzuklären.

Glücklicherweise war der Hausarzt meines Freundes, auch wenn er in dem speziellen Fall eines pT-blabla-Tumors über keine Erfahrung verfügte, ein Mensch, der sich kümmert. So telefonierte dieser mit dem Klinikum. Erfuhr, dass am Tage seines Anrufes (etwas, das meinem Freund niemand gesagt hatte) ein Tumorboard stattfinden würde, in dem der Fall seines Patienten verhandelt werden würde. Er würde morgen ein Fax erhalten…
Es dauerte noch vier Tage (und mehrere Telefonate aus der Praxis seines Hausarztes), bis das Fax mit dem Protokoll des Tumorboardes endlich greifbar war, am 16. Tag nach der OP. Ein Protokoll, das im Diagnoseteil den histopathologischen Befund hinsichtlich der Einordnung des Tumors ins TNM-System wie folgt ergänzte: pT2 cN0 cM0 L1, R0. Ein Protokoll (Details s.u. Anhang 1), das ein klinisches Stadium 1B diagnostizierte und mit dem Therapievorschlag endete: „(2 Zyklen PEB) versus engmaschige Surveillance“.

Und da hatte mein Freund den Salat.

Chemo oder nicht? Aufgrund welcher Informationen sollte er das denn entscheiden? Eine Chemo ist schließlich nicht ohne (sowohl was die Nebenwirkungen als auch die zeitliche Ausdehnung der Therapie angeht, siehe unten Anhang). Woher die Kompetenz nehmen, diese für sein Leben so wichtige Frage richtig zu beantworten? Gibt es überhaupt eine richtige Antwort? Wird nicht erst das weitere Leben erweisen, ob er richtig entschieden hat?

Mein Freund ist ja eigentlich ein lustiges Kerlchen. Aber diese Entscheidung vor die er sich gestellt sah, schlug ihm doch aufs Gemüt. Er hatte das Gefühl, sich in kurzer Zeit zum Spezialisten für Hodenkrebs fortbilden zu müssen. Er hatte gelesen, 3 bis 4 Wochen nach der OP sollte – wenn denn nötig – mit einer Chemotherapie begonnen werden. Die Zeit drängte also…

Glücklicherweise hatte er, gleich nachdem er aus der Klinik entlassen worden war, gedrängt durch das Bedürfnis mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt (sein niedergelassener Urologe war ja noch im Urlaub), eine Privatsprechstunde mit dem Chef der urologischen Abteilung vereinbart, die ihn im Krankenhaus umsorgt hatte. Kein Gütekriterium. Aber der Chef, der leider zur Zeit des Klinikaufenthaltes im Urlaub gewesen war, hatte einen sehr guten Ruf. Das bestätigten mehr als 2 Quellen. Und so traf also mein Freund den Chef, und der war glücklicherweise aus ähnlichem Holz gemacht wie sein Hausarzt. Ein Kerl, dem seine Patienten am Herzen liegen. Das war sein Eindruck. Sein Eindruck jedenfalls, nachdem er zu ihm vorgelassen wurde. Denn zunächst wurde mein Freund von einem anderen Arzt untersucht. Hodensack abtasten. Ultraschall. Mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Wahr es. Fein. „Und kommt der Chef gleich noch dazu?“, „Äh, nein, wollten sie ihn sprechen?“

Einem Patienten fällt wirklich nicht in den Schoß, was er sich wünscht. Da muss einer schon auf seine Bedürfnisse pochen. Und das tat mein Freund. Und siehe da, die Tür ward ihm aufgetan. Eine Woche nach dem Erhalt des Tumorboardbescheides, am 22. Tag nach der OP, saß er endlich jemanden gegenüber, der fähig und willens war, ihn über seinen Tumor aufzuklären.

Chemo oder keine Chemo, das ist hier die Frage

pT2 cN0 cM0 L1, R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 hieß laut dem Chefarzt der urologischen Abteilung: Niedrig-Risiko-Non-Seminom, gute Prognosegruppe. Mein Freund hätte zwar von allen Hodentumoren die aggressivste Form (embryonales Karzinom) und der Tumor hätte auch schon eine gewisse Größe (pT2) erreicht und es läge zudem eine Infiltration der Rete Testis vor, aber dieses Non-Seminom (zu dieser Tumorart gehöre ein embryonales Karzinom) sei früh erkannt worden. Deswegen hätte das Tumorboard den Tumor in die Klasse 1B eingeordnet. Zwar sei im CT ein kontrollbedürftiger Lymphknoten medial der linken V. illiaca externa erkannt worden, aber aufgrund seiner Größe (9 x 13mm) könne dieser sich auch als normal erweisen (selbst wenn Lymphknoten über 1 cm als bedenklich eingestuft werden).

Bezüglich des Risikofaktors „Vaskuläre Invasion“ hätte er noch einmal mit dem Pathologen telefoniert. Der Pathologe sei sich hier nicht sicher gewesen, die Invasion sei in einem Grenzbereich angesiedelt, es sei nicht klar, ob eine Invasion vorliege, da er aber – wenn geschehen – eine Lymphgefäßinvasion für wahrscheinlicher als eine Blutgefäßinvasion halte, wäre L1 klassifiziert worden. Aber der Pathologie würde sich das Präparat noch einmal ansehen und sich melden. Diese Rückmeldung stehe noch aus. Aber er – der Chefarzt – gehe davon aus, dass sich bezüglich der Einordnung „Niedrig-Risiko-Karzinom / gute Prognosegruppe“ keine Änderung ergeben würde.

So weit, so gut (wenigstens im ersten Moment). Die Art und Weise, wie der Arzt meinem Freund im persönlichen Gespräch begegnete, besänftigte seine Enttäuschung über mangelnde Kommunikation und Information, die er nach seiner OP empfunden hatte. Und was würde er ihm nun raten, wie zu entscheiden sei? 2 Zyklen PEB Chemotherapie oder engmaschige Surveillance? Das könne er nicht sagen, dass sei eine Frage der eigenen Persönlichkeit.

Und da war der Moment, in dem es meinem Freund gut ging, auch schon vorbei. War das eine Antwort, die man hören wollte? Ich kann Ihnen hier nicht sagen, was sie tun sollten… Jäh war der Moment des Gefühls der kommikativen Umhegtheit verloren. Der Pathologe ist sich nicht sicher… Was sollte das denn nun bedeuten?

Mein Freund war, gelinde gesagt, frustriert. Was natürlich auf gewisse Weise paradox war: Auf der einen Seite misstraute er nach den Erfahrungen kurz vor, nach und ein bissel nach der OP ärztlicher Autorität, auf der anderen Seite spürte er die Sehnsucht, sich vertrauensvoll einer solchen Autorität anschließen zu können. Das ist dein Tumor, also tue jetzt das! Und er hätte sich sehr gerne, ohne Zweifel, der Autorität des Chefarztes angeschlossen.

Hodenkrebs sei auf jeden Fall heilbar, in über 90% aller Fälle, sagte der Chefarzt (wie schon der niedergelassene Urologe, sein Hausarzt, die Urologen der Voruntersuchungen…). Grundsätzlich wäre es ja schon einmal positiv, dass überhaupt eine Entscheidung anstehe. Wäre der Tumor nicht so früh erkannt worden, dann wäre klar, dass eine 4 Zyklen Chemotherapie folgen müsse, vielleicht sogar zusätzlich noch eine weitere OP, um Lymphknoten zu entfernen (Lymphknotenresektion). So aber hätte mein Freund die Wahl zwischen adjuvanter 2 Zyklen PEB oder engmaschiger Surveillance. Und diese Wahl sei, wie gesagt, eine Frage der Persönlichkeit. Genauer: Eine Frage, wie man aufgrund seiner persönlichen Konstitution mit statistischen Werten umgeht.

„Toll!“, meinte mein Freund zu mir, „Wie heißt es doch immer, glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast… Und überhaupt: Ich war weder ein Kerl mit Azoospermie (keine Spermien im Sperma nachweisbar), noch einer mit Hodenhochstand, noch gibt es eine genetische Disposition, da ich der erste in meiner Familie bin. Außerdem liege ich mit meinem Alter fast außerhalb der Kerngruppe der Hodenkrebspatienten. Also soll mir einer was von Statistik erzählen…!“

Der Chefarzt sagte: 30% aller Krebspatienten mit diesem Befund entwickeln Rezidive (also Folgetumore, Metastasen), von diesen 30% sind es 80%, die im ersten Jahr Metastasen bekommen. Bei einer Chemotherapie würde das Risiko auf ca. 3% gesenkt werden. Umgekehrt würde dies bedeuten: 70% der Hodenkrebspatienten mit seinem Befund bräuchten keine Chemo, da bei ihnen die OP ausreichte.

Der Chefarzt sagte: Die meisten Patienten würden in einem ähnlichen Fall die adjuvante Chemotherapie wählen, weil sie das Gefühl nicht aushalten würden, dass in ihnen noch Krebs lauern könnte, dass ihre Erkrankung eine tickenden Zeitbombe wäre. Sie würden sich der 2 Zyklen PEB Chemotherapie unterziehen, um das Risiko eines Rezidivs auf ca. 3% zu senken. 2 Zyklen PEB seien übrigens bei den meisten Patienten nicht so schlimm, gut auszuhalten (zum zeitlichen Aufwand und den Nebenwirkungen einer PEB Chemo vgl. unten den Anhang). Wähle man hingegen nicht die adjuvante 2 Zyklen PEB und gehöre schließlich zu den 30% (oder laut Urologielehrbuch: 14-22%), so dass sich erneut ein Tumor bildet, sich Metastasen zeigen, so seien 4 Zyklen PEB angesagt, und die seien die „Hölle“. Wähle man die adjuvante 2 Zyklen PEB und gehöre man dann zu den 3% (oder laut Urologielehrbuch: 3-5%), so würden natürlich auch 4 Zyklen PEB verabreicht, was dann ebenso die „Hölle“ sei. Aber egal wie sich mein Freund entscheide, Hodenkrebs sei in über 90% aller Fälle heilbar. Der Weg sei nur unterschiedlich schwer….

30 zu 70 – so lautete also die statistische Entscheidungsgrundlage. Die spätere Internetrecherche ergab, dass das Tumorzentrum Bonn auf die gleichen Zahlen kam. Im Urologielehrbuch steht: Beim Nichtseminom Stadium I low risk ohne Chemotherapie sei das Rezidivgefahr mit 14–22% relativ hoch. Bei einer Chemotherapie sinke dieses auf 3-5%.

Eigentlich eine klare Kiste. Wenn nicht mein Freund diese mittlerweile tiefsitzende Unsicherheit gespürt hätte, dass immer noch nicht erschöpfend geklärt ist, um was für einen Tumor es sich handelt, der bei ihm gewachsen ist. Mögen auch 4 Zyklen PEB die Hölle sein, so muss man sich gleichwohl, wenn es noch Unklarheiten bei der Diagnose gibt, nicht in die Vorhölle begeben.

Ein Königreich für Klarheit

Gott verdammt, was heißt jetzt dieses L1? Ist das nun eine vaskuläre Invasion oder nicht? Dies scheint mir doch der Kasus Knacksus zu sein. Wenn ich den Chefarzt richtig verstanden habe, ist es keine, jedenfalls keine, die ernst zu nehmen sei. Sonst würde ja seine Einordnung Niedrig-Risiko-Karzinom auch nicht stimmen. Aber vielleicht täuscht er sich ja auch? Vielleicht bin ich ja doch einer mit Klinischem Stadium 1 und hohem Risiko. So einer von denen, die in den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft als Patienten mit vaskulärer Invasion (high risk, pT2) beschrieben werden. pT2 bin ich ja schließlich auch.“

Mein Freund hatte diese Internetrecherchen im Augen (kursive Hervorhebungen je von mir):

  • Die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft (F2 Hodentumoren, hier das pdf: Hodenkrebs_Leitlinien) geben die Empfehlung, dass Nicht-Seminome im klinischen Stadium I wie folgt therapiert werden sollen: Patienten mit low risk Tumor pT1 werden überwacht und im Rezidivfall chemotherapiert. Patienten mit „vaskulärer Invasion“ (high risk, pT2) werden mit zwei Zyklen PEB adjuvant chemotherapiert.

  • Das Urologielehrbuch sagt Folgendes: Bei Niedrigrisiko Nichtseminom Stadium I besteht die Standardtherapie in der engmaschigen Überwachung (watchful waiting), da das niedrige Risiko der Progression keine Therapie mit Nebenwirkungen akzeptabel macht. Nachteilig sind der psychische Stress der initialen Nichttherapie, ungefähr 20 % der Patienten benötigen 3 Zyklen PEB bei Progress. Eine engmaschige Überwachung ist keine gute Option bei Patienten mit großer Tumorangst, hohem Therapiewunsch oder schlechter Compliance. In dieser Situation sollte eine adjuvante Chemotherapie mit einem Zyklus PEB empfohlen werden. Aber: „Die Gefäßinvasion im Orchiektomiepräparat ist ein entscheidender Risikofaktor für die Progression des nichtseminomatösen Keimzelltumors (Nichtseminom) Stadium I.“ Ist eine solche festzustellen, dann reicht engmaschige Überwachung als Therapie nicht aus.

  • Das Tumorzentrum Bonn fasst zusammen, dass bei Nicht-Seminomen im klinischen Stadium I zwar in dem operativ entfernten Hoden ein Tumor gefunden wurde, aber keine Metastasen festgestellt werden konnten. Aus Erfahrung wissen die Ärzte jedoch, dass in 30 Prozent der Fälle klinisch okkulte, nicht nachweisbare Metastasen in den Lymphbahnen versteckt sind. Hier bieten sich drei Therapieoptionen an: Vorsorglich könne 1. durch eine modifizierte oder nervenerhaltende Lymphadenektomie die Lymphknoten entlang der Metastasenstraße entfernt oder 2. eine adjuvante Chemotherapie durchgeführt werden, 3. sei eine abwartende und beobachtende Strategie („wait and see“) möglich. Die Behandlungsverfahren 1 und 2 sind mit Nebenwirkungen verbunden. Zudem kann man dagegen einwenden, dass es sich bei den 70 Prozent, die gar keine verborgenen Metastasen haben, um unnötige Therapien handelt. Hier also eine abwartende und beobachtende Strategie sinnvoll gewesen wäre. Leider weiß man aber vor der Therapie nicht, ob dieser spezielle Patient zu diesen 70 Prozent gehört. Ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidungshilfe ob 1, 2 oder 3 sei der Nachweis, ob der Primärtumor bereits in die Blut- und Lymphgefäße des Hodens hineingewachsen ist, denn das weist auf ein hohes Metastasierungsrisiko hin. In diesem Fall sei von einer abwartenden Strategie abzuraten.

Chemotherapie oder engmaschige Surveillance? Mein Freund will, um sich zu entscheiden, alle Informationen auf dem Tisch haben. Es muss doch möglich sein, dass bezüglich seines Tumors alle Unklarheiten aus dem Weg geräumt werden.

„Wenn L1 wirklich L1 ist, dann bleibt mir keine Wahl – Chemo ich komme. Dann ist der Tumor bereits auf den Weg zu neuen Gefilden und dann werd ich ihm diesen Weg mit Zytostatika zubomben – und hoffen, dass die Kollateralschäden nicht allzu arg sind. Aber wenn nicht…“

Leider drängt die Zeit, um das zu entscheiden. Wie gesagt, es hieß, mein Freund hätte ein Zeitfenster von 3 bis 4 Wochen nach der OP, dann sollte mit der Chemo begonnen werden – wenn er sich denn für sie entschiede. Das wäre quasi jetzt.

Und was würden Sie tun, wenn sie einen solchen Tumor hätten? Mein Freund stellte dem Chefarzt diese Frage per E-Mail. Eine Frage, auf die er erst kam, nachdem sein Hausarzt sich enttäuscht von der Entweder-Oder-Haltung des Chefarztes zeigte. Der Chefarzt rief daraufhin an. „Schwer zu sagen. Die meisten Patienten, die die adjuvante Chemotherapie gewählt hätten, würden später sagen, sie würden wieder so entscheiden. Viele Patienten, die sich für das Abwarten entschieden hätten, würden dies später bereuen. Die meisten, weil sie sich – obwohl der Krebs bislang nicht wieder ausgebrochen ist – dennoch wie eine tickende Zeitbombe fühlen. Manche, bei denen der Krebs ausgebrochen ist, weil sie sich die 4 Zyklen Chemotherapie gerne erspart hätten. Aber wenn sie mich auf eine Antwort festnageln wollen, dann würde ich die 2 PEB wählen. Vielleicht.“

Morgen, gut einen Monat nach der OP, hat mein alter Freund endlich den ersten Termin bei seinem Urologen, der ihn ins Krankenhaus überwiesen hat und der für die Nachsorge und Weiterbehandlung zuständig ist. Mit ihm hatte er, weil jener im Urlaub weilte, noch gar nicht sprechen können.

  • Wie lautet das abschließende Urteil des Pathologen bezüglich L1? Vaskuläre Invasion oder nicht, das ist die Frage.

  • Was sagt das Zweitmeinungsprojekts der Deutschen Hodentumor Studiengruppe (GTCSG) zu seinem Fall?

  • Und wenn Chemo: Reicht nicht auch 1 Zyklus PEB (vgl. oben Urologielehrbuch)?

Das sind die Fragen, deren Klärung sich mein Freund von seinem Urologen erhofft, um endlich eine Entscheidung treffen zu können, mit der er leben kann.

„Weißt du“, sagte er mir heute zum Abschied am Telefon, „Egal ob ich mich für eine Chemo oder für active surveillance entscheide – vermutlich wird in Zukunft der Gedanke mein steter Begleiter, dass vielleicht just in diesem Moment etwas in mir wächst – selbst wenn ich mich gut fühle und nichts davon spüre. Das wird eine Herausforderung werden, dem Krebs nicht zu viel Macht über mein Leben einräumen. Ihn ernst, aber nicht zu wichtig zu nehmen. Wie hast du geschrieben: “Kein Mensch – Hodenkarzinom links”. Pustekuchen Mann! Mensch!“

  Nichts ist gewonnen, alles ist dahin, Stehn wir am Ziel mit unzufriednem Sinn.“

(Macbeth, 3. Akt, 2. Szene, William Shakespeare)

 

Interessante Quellen:

www.urologielehrbuch: Hodentumore
Tumorzentrum Bonn: Hodenkrebs
Deutsches Krebsforschungszentrum: TNM-System und Staging. Befunde verstehen und einordnen
Forum Hodenkrebs Österreich: Tumorklassifikation bei Hodenkrebs
Zweitmeinungsprojekt der Deutschen Hodentumor Studiengruppe: Zweitmeinung Hodentumor

Ratgeber der Krebshilfe als pdf: Blauer_Ratgeber_Hodenkrebs_Krebshilfe
Die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft (F2 Hodentumoren) als pdf: Hodenkrebs_Leitlinien)


 

Anhang 1 – die Diagnose im Detail:

 

Diagnose des Hodenkarzinoms laut Tumorkonferenz:

  • Pluriformes nicht-seminomatöses Hodencarzinom links, prädominierendes embryonales Carcinom mit kleinen Seminomanteilen, Infiltration der Rete Testis
  • pT2 cN0 cM0 L1, R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3
  • Klinisches Stadium 1B
  • Kontrollbedürftiger Lymphknoten medial der linken V. Illiaca
  • Tumormarker Dokumentation (vor der OP): AFP 4,8 ng/ml, Beta-HCG 7,6mlU/ml, LDH 204 U/L

 

TNM-Klassifikation, Aufschlüsselung (laut Internetrecherche):

T = Tumorausdehnung (vorangestelltes p = pathologisches Stadium)

N = Lymphknotenmetastasen (vorangestelltes c = clinical stadium)

M = Fernmetastasen

L = Befall des Lymphgefäßsystem

R = Resttumorgewebe

V = Einbruch in die Venen

Quelle http://www.hodentumor.at/TNM.html

 

ICD-O 9070/3 = Embryonales Karzinom

ICD0 9061/3= Seminom

Quelle: WHO, International Agency for Research on Cancer, International Classification of Diseases for Oncology, ICD-O-3 online, hier: Morphological Codes (2011)

 

Anhang 2: PEB Chemotherapie – Ablauf und Nebenwirkungen

Zum Ablauf einer PEB Chemotherapie und den zu erwartenden Nebenwirkungen hat die Urologische Universitätsklinik Mannheim (hier wurde mein Freund übrigens nicht operiert) eine informative Patienteninformation herausgegeben (Quelle und pdf hier…):

„Patienteninformation zur Chemotherapie bei Hodentumoren nach dem PEB-Schema

Sehr geehrter Patient,

wegen eines Hodentumors soll bei Ihnen eine Chemotherapie durchgeführt werden. Die Chemotherapie ist Dank der intensiven klinischen Forschungen der letzten Jahrzehnte eine standardisierte und höchst erfolgreiche Behandlung geworden und garantiert in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung. Aufgrund Ihres Erkrankungsstadiums führen wir die Chemotherapie mit drei Medikamenten durch. Zum einen handelt es sich um das Medikament Cisplatin (P), zum zweiten um das Medikament Etoposit (E) und zum dritten um das Medikament Bleomycin (B). Die Abfolge der Medikamentengabe richtet sich nach
einem strengen Schema, welches wir Ihnen separat zu dieser Information aushändigen werden. Sie können also jederzeit mitverfolgen, welches Medikament Ihnen zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge verabreicht wird.

Neben der Chemotherapie werden Ihnen zusätzlich Medikamente verabreicht, die eventuell auftretende Übelkeit und Erbrechen weitgehend verhindern. Da die Chemotherapie die Bildung von Blutzellen im Knochenmark unterdrückt, ist es erforderlich, dass wir und auch zwischenzeitlich Ihr Hausarzt/Urologe in regelmäßigen Abständen Ihre Blutwerte kontrollieren. Vor allem zu wenige weiße Blutkörperchen
können zu zu einer Anfälligkeit für Infektionen führen. Tritt Fieber auf, müssen deshalb sofort stark wirksame Antibiotika gegeben werden. Niedrige Blutplättchen können zu einer beeinträchtigten Blutstillung bei Verletzungen führen. Die Übertragung von Blut oder Blutplättchen ist jedoch nur in Ausnahmefällen notwendig. Andere Nebenwirkungen wie eine Verschlechterung des Hörvermögens, Gefühlsstörungen in den Händen und Füßen, Geschmacksstörungen, Hautveränderungen sowie eine Beeinträchtigung der Lungenfunktion können in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. Deshalb ist es
notwendig, vor jedem Therapiezyklus die Funktion dieser Organe zu überprüfen, so werden Sie beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt zur Überprüfung des Hörvermögens, beim Augenarzt zur Kontrolle des Augenhintergrundes und beim Internisten zur Kontrolle der Lungenfunktion vorgestellt.

Eine weitere Folge der Chemotherapie ist eine Qualitätsverschlechterung der Spermien, und somit eventuell eine Einschränkung Kinder zu zeugen. Allerdings ist eine dauerhafte Schädigung oder gar ein Versiegen der Spermienproduktion selten. Nach der Chemotherapie erholt sich die Spermienproduktion rasch. Wir empfehlen Ihnen jedoch, vor dem Therapiezyklus eine Kryokonservierung (Tiefkühlung) Ihrer Spermien durchzuführen.

Für die Dauer der Behandlung und für einige Wochen nach der Behandlung können die Kopfhaare komplett ausfallen, was für Sie besonders unangenehm sein kann. Zu Ihrer Beruhigung können wir Ihnen sagen, dass die Haare nach Abschluss der Behandlung wieder nachwachsen.

Der grundsätzliche Ablauf der Chemotherapie bei Ihrer Erkrankung ist wie folgt:

Die Behandlung gliedert sich in mehrere Zyklen, wobei ein Zyklus eine Dauer von insgesamt 21 Tagen hat. Abhängig vom Erkrankungsstadium werden bei Ihnen einer, zwei, drei oder vier Zyklen durchgeführt. Diese Zyklen sind in der Verabreichung der Medikamente und Begleitmedikamente identisch. Jeder Zyklus beginnt am Tag 1. An den Tagen 1 bis 5 wird Ihnen eine festgesetzte (siehe Medikamentenplan) Anzahl von Medikamenten während der stationären Behandlung verabreicht. Die Gabe der Medikamente wird an den Tagen 1 bis 5 über einen zentral venös eingelegten Katheter
durchgeführt, da diese Medikamente aggressiv für die kleineren Venenwände (wie sie an den Armen vorkommen) sind. Die Einlage dieses Katheters wird von unseren Narkoseärzten durchgeführt. Hierüber werden Sie gesondert aufgeklärt.

Nach den Tagen 1-5, werden Sie aus unserer stationären Behandlung entlassen, sofern Sie keine körperlichen Beschwerden, wie z.B. Fieber oder stärkere Übelkeit und Erbrechen, haben. Am Tag 8 des Zyklus werden Sie wieder stationär aufgenommen zur Durchführung einer Chemotherapie über eine Armvene. An den Tagen 9 bis 14 findet keine Behandlung statt, Sie können diese Tage daher in der Regel zu Hause verbringen. Am Tag 15 findet die identische Verabreichung der Medikamente statt, wie am Tag 8. Am Ende dieses Tages können Sie unser Krankenhaus verlassen. Der Zyklus endet regulär am Tag 21. Am Tag 22 beginnt ein neuer Zyklus mit der Behandlung im Krankenhaus für 5 Tage. Wie bereits oben erwähnt, wird vor jedem Zyklus eine Kontrolle wichtiger Organfunktionen durchgeführt, wie z.B. die Kontrolle des Hörvermögens, des Sehvermögens und der Lungenfunktion. Dazu werden Sie bei den entsprechenden Fachärzten vorgestellt. Während der Behandlungszyklen, auch an Tagen, an denen keine Chemotherapie appliziert wird, ist eine regelmäßige Blutbildkontrolle erforderlich. Dank der Entwicklung neuer und sehr wirksamer Medikamente ist diese Chemotherapie, die Ihr Krebsleiden heilen kann, gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Appetittlosigkeit, Blutveränderungen, Haarausfall und die oben bereits genannten verschwinden nach Abschluß der Therapie. […]“

© Urologische Universitätsklinik Mannheim

Weitere Informationen:

Urologielehrbuch „PEB-Chemotherapie mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin“

Broschüre des Tumorzentrum Bonn „Hodenkrebs“, Abschnitt „Chemotherapie“

 


 

*Fußnote Nachtschwester Bea:

Bei all seiner Kritik am Krankenhauspersonal, an den Ärzten, die nicht mit ihm kommunizierten, den Pflegekräften, die z.B. nach der OP versäumten, die Vitalzeichen regelmäßig zu kontrollieren, die es mit der Händedesinfektion nicht so genau nahmen: Auf Nachtschwester Bea ließ er nichts kommen. Wie viele Patienten sie wohl in der Nacht zu betreuen hatte? In der Nacht nach der OP, als er nach schlaflosem Herumwälzen plötzlich Schüttelfrost bekommen hatte, war sie, nachdem er geklingelt hatte, nur wenige Minuten später gleich bei ihm. Nach einer zweiten Decke hatte er wegen seines Schüttelfrostes und seines Frierens gefragt. Die hatte sie ihm gebracht – und dann bei seinem Klagen über Schüttelfrost geschaltet. Fieber gemessen, rektal, weil genauer. Schließlich ist die Info, ob nach einer OP Fieber auftritt, nicht unerheblich**. Mehrmals war sie in dieser Nacht noch in sein Zimmer gekommen, hatte sich bei ihm, der nicht schlafen konnte, nach seinem Befinden erkundet. Hatte noch einmal Fieber gemessen.

Krankenhaus_Bett
Apropos messen: „Sie sind doch ein langer Kerl!“ In dieser Nacht, der zweiten, die er im Krankenhaus verbrachte, zog sie sein Bett auf eine seiner Körpergröße angemessene Länge aus und füllte die entstandene Lücke mit einem passenden Matratzenteil. Zuvor hatte er, wenn er das Kopfteil des Bettes hochfuhr, seine Beine anwinkeln oder seine Füße auf das Fußteil des Bettes legen müssen, um Platz zu finden. Er dachte, das wäre normal. Ginge nicht anders bei den Betten. Nachtschwester Bea wusste es besser. Nett und kompetent.

**Am Morgen drückte ihm die Tagesschwester ein elektronisches Fieberthermometer ins Ohr, dieses zeigte Normaltemperatur an. Als er erwähnte, dass in der Nacht rektal zweimal fast 38,5 Grad gemessen worden waren und vielleicht das im Ohrmessen nicht so aussagekräftig ist, holte die Schwester ein gewöhnliches digitales Thermometer und einige Plastiküberzieher aus dem Schrank: Er könne ja zwischendurch mal rektal messen…

 


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus

Patient 3. Klasse?
Bevor ich hier wiedergebe, was mir mein alter Freund aufgewühlt am Telefon schilderte, möchte ich betonen: Folgende Ausführungen sind sicherlich ungerecht, zudem völlig subjektiv und einseitig in ihrer Schilderung. Ein Einzelfall gesehen durch die Brille persönlicher Betroffenheit. Nicht die Regel also. Sicherlich nicht.

Bin ich zu empfindlich?

„Also bin ich zu empfindlich, oder was? Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Die können mich doch nicht einfach dort liegen lassen. Stundenlang in diesem dämlichen Flügelhemdchen. Ohne einen Schluck zu trinken, vor allem ohne Nachricht, dass sich die Operation verzögert, ohne von sich aus wenigstens einmal einen Blick in mein Zimmer zu werfen, um zu schauen, wie geht es denn dem Herrn in den vielleicht letzten Stunden mit all seinen Familienjuwelen.

Ich sage Dir, das ging mir auf den Sack. Die OP war auf 10 Uhr terminiert. Mich weckten sie um 7 Uhr, schickten mich zum Duschen. Anschließend Kompressionsstrümpfe und Flügelhemdchen überziehen. Habe dann noch ein wenig geschlafen. Wachte um halb 10 auf. Es wurde 10. Halb 11. Niemand kam. 11 Uhr. 12 Uhr. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass sie mich vergessen haben. Da klingelte ich dann doch einmal nach einer Pflegekraft. Die auch prompt kam. Das muss ich gerechterweise sagen. Ließ sich von sich aus auch nur selten jemand blicken, auf die Klingel wurde immer prompt reagiert. Und freundlich und hilfsbereit waren die Pflegenden dann auch immer. Aber wer will schon einer dieser lästigen Patienten sein, die immer klingeln?

Zudem: kann man nicht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erwarten? Jemand hätte doch auf den Gedanken kommen können, dass in Zimmer Soundso ein Mensch liegt, der eine OP vor sich hat, eine Vollnarkose, und vielleicht sogar eine einschneidende Veränderung in seinem Leben. Auf die Idee kommen, dass dieser Mensch wenn nicht ängstlich, so doch nervös ist. Dass hier ein wenig pflegerische Zuwendung jenseits von Temperaturmessen, Spritzensetzen, Bettmachen angebracht wäre? Auf mein Klingeln hin kam dann Auszubildender Andi (Pflegeschüler im dritten Jahr) und teilte mir auf Nachfrage mit, dass eine andere Operation dazwischen geschoben werden musste. Was ja auch kein Problem ist. Nur hätte ich das gerne eher gewusst. Dann hätte ich mich nicht so wie bestellt und nicht abgeholt gefühlt. Vor allem weil Auszubildender Andi nicht den Eindruck machte, dass diese Information für das Personal auf Station neu war.

Aber warum sollte auch jemand auf die Idee kommen, diese Information gegenüber demjenigen zu kommunizieren, der hier eigentlich schon seit 2 Stunden unter dem Messer gelegen haben sollte? Und überhaupt, die Kommunikation! Sag mir, bin ich zu empfindlich?“

Nein, versicherte ich meinem alten Freund, Du bist nicht zu empfindlich. Außerdem fand ich, dass er bei der Diagnose und weil eine Operation, egal welcher Art, immer gewisse Risiken trägt, alles Recht gehabt hätte, empfindlich zu sein. Aber er hatte, ohne noch einmal zu klingeln, bis um 13.30 Uhr ausgeharrt, als sie ihn endlich zur OP holten.

Krebs. Eine schreckliche Diagnose. Ein Schock. Aber dann doch nicht ganz so schlimm, wie mein alter Freund meinte. Denn: Hodenkrebs. Gut heilbar, wie die Doctores versicherten. Puh. Glück im Unglück gehabt. Doch dann sackte das Wort tiefer in sein Bewusstsein. Sackte an die Stelle seiner selbst, an der das ganze feine Gespinst an Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Vorurteilen, Hoffnungen, Ängsten, Leidenschaften zusammenlief, die in ihrer Summe das Selbstbewusstsein ausmachen. Hodenkrebs. Oh Mann! Ein Schock.

Kommunikation – nicht Krebs – das war jetzt einige Tage nach der OP das Thema meines Freundes. Vielleicht schob er dieses sich aufgrund seiner Erfahrungen anbietende Thema vor das Schreckgespenst „Krebs“, vielleicht war er auch einfach froh, sich an einem anderen Thema als der Diagnose und ihren Konsequenzen abarbeiten zu können. Vielleicht nutzte er auch nur sinnvoll die Wartezeit auf den histologischen Befund mit berechtigter Kritik an dem Teil des Gesundheitssystem, mit dem er in Berührung gekommen war.

Wie auch immer. Ich konnte seine Kritik nachvollziehen, ja nachfühlen. Auch ich hatte mich vor nicht allzu langer Zeit einer Operation unterziehen müssen. Ein Daumenbruch, der unter Plexus-Narkose gerichtet und verschraubt werden musste. Also nicht vergleichbar mit seiner OP. Aber gleichwohl hatte auch ich in einem Vorbereitungsraum gelegen. Während um mich herum letzte Vorbereitungen getroffen wurden, dämmerte ich aufgrund des oral gegebenen Beruhigungsmittels bereits weg. Plötzlich schob sich aus der Geschäftigkeit um mich durch den Sedativnebel hindurch ein Wort, das ich im Vorfeld der OP bereits an mehreren Stellen unter der Rubrik „Allergie“ zu Protokoll gegeben hatte: Penicillin. Ich hatte es beim Orthopäden in meiner Heimatstadt gesagt und es war notiert worden. In der handchirurgischen Praxis, in die ich überwiesen worden war, wurde meine Penicillin-Allergie in den Unterlagen vermerkt. Beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus, wo die Handchirurgen OP-Zeiten gemietet hatten, hatte ich es ebenso wie gegenüber dem Narkosearzt gesagt, bei dem ich im Vorfeld der OP vorstellig wurde. Zudem war auf Station von einer Krankenschwester in mein Patientenstammblatt eingetragen worden, dass ich auf Penicillin sehr allergisch reagiere. Gleichwohl hörte ich in meinem präoperativen Dämmerzustand, dass die eine OP-Schwester die andere bat, schon einmal das Penicillin für die OP vorzubereiten. Kaum mehr Herr meiner Sinne, geschweige denn meiner Stimme, die nach 3 Promille Alkohol im Blut klang, konnte ich gerade noch Widerspruch einlegen. „Oh.“, meinte die eine der beiden OP-Schwestern nur, „Dann bereiten wir ein anderes Antibiotikum für die OP vor.“

Oh ja, die Kommunikation

Oh ja, die Kommunikation – ich kann verstehen, warum mein alter Freund so sauer war, dass diese sich in seinem Fall als so mangelhaft herausstellte. Ich teile zwar nicht seine Angst davor, dass vor einer OP Patienten verwechselt werden oder versehentlich an falschen Stellen operiert wird. Aber ich fand es ebenfalls bedenklich, dass der Urologe im Krankenhaus teilweise die Schrift seines Kollegen, der die Voruntersuchung gemacht hatte, nicht lesen konnte. „Was steht da?“ „Patient konnte sich noch nicht für oder gegen Prothese entscheiden.“, half mein alter Freund dem Krankenhausurologen die Schrift zu entziffern. „Ah ha, und möchten sie jetzt im Fall einer Orchidektomie eine Silikon-Prothese erhalten?“, fragte dieser dann, und kritzelte das Nein meines Freundes in einer ähnlich unleserlichen Schrift neben den fraglichen Satz.

„Warum eigentlich alles handschriftlich?“, fragte mein Freund mich. Sicherlich wird alles in der EDV erfasst, wandte ich ein, wobei ich dies ehrlich gesagt nicht wusste. „Meinst Du? Ich habe niemanden bei allen Vor- und Aufnahmegesprächen etwas in einen Rechner eingeben sehen. Diverse Bögen mit vielen Fragen, die entweder von einer Krankenschwester oder einem Arzt oder von mir handschriftlich ausgefüllt wurden – und das nicht immer leserlich. Aber wie auch immer, jedenfalls hätte ich vor der OP gerne noch den Chirurgen gesprochen und von ihm gehört, was er mit mir zu tun gedenkt.“ Ich dachte an meine Penicillin-Erfahrung und musste ihm in gewissem Umfang Recht geben, was seine Befürchtungen anging. Man hört ja auch so viel. Und auch wenn so vieles, von dem man hört, nicht wahr ist, könnte vor einer OP dennoch auf eventuell vorhandene Ängste eingegangen werden.

Mein Freund sah den Chirurgen nicht, nicht vor und nicht nach der OP. Ich versuchte, ihn zu beruhigen: Vielleicht bist du ja aufgrund des Sedativs weggedämmert, bevor der Chirurg mit dir sprechen konnte, oder du erinnerst dich nicht daran.

„Pah, weggedämmert! Patient 3. Klasse, das ist es, sag ich dir!“, fauchte mein Freund wütend ins Telefon hinein. „Es ist genauso, wie es die Schwester beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus vor sich hingemurmelt hatte. Sie blickte auf meine Unterlagen, stellte fest: Sie sind bei der AOK. Dann fragte sie: Irgendwelche Zusatzversicherungen? Als ich verneinte, murmelte sie, während sie den entsprechenden Eintrag machte, vor sich hin: Ah, 3. Klasse. Und deswegen ließ sich der Chirurg auch nicht blicken!“

Patient 3. Klasse?

Patient 3. Klasse? Das ist vielleicht ein wenig zu hart gesagt. Aber hinsichtlich der Kommunikation hat sich das Krankenhaus-Team ihm gegenüber jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert.

Es ist nicht korrekt, dass niemand vom Operationsteam nach der OP mit meinem Freund sprach, nachdem er aus der Narkose erwacht war. Die Pflegekräfte im Aufwachraum sagten, sie könnten nichts sagen, weil sie bei der OP nicht dabei waren. Auf Station konnte man nichts sagen, weil sie noch keine Informationen hatten. So lag mein Freund also da, nicht wissend, wie die OP gelaufen war, ob es Komplikationen gegeben hatte, und vor allem: Hatten sie ihm den – hoffentlich linken – Hoden jetzt entfernen müssen? (es fühlte sich so an, aber wirklich sicher war er sich nicht). Und hatten sie die Biopsie des rechten Hodens vergessen (fühlte er unter seinen Fingern an besagter Stelle doch kein Pflaster, keine kleine Wunde). Nein, er erhielt zunächst keine Antworten. Die erhielt er erst am folgenden Tag bei der Visite.

„Das gleiche Trauerspiel beim CT!“, erboste sich mein Freund. „Am Tag nach der OP um 11 Uhr das CT, am Tag danach bequemen sich die Herrn Doctores dann, mir den Befund mitzuteilen.“

Nun gut, dass er beinahe 24 Stunden darauf warten musste, dass ihm jemand definitiv sagte, dass sie beim CT keine Metastasen gefunden hatten, ist verständlich. Der Radiologe muss Zeit finden, einen Bericht zu diktieren, der muss in der Schreibstube aufs Papier gebracht werden. Dieser abgeschriebene Bericht muss vom zuständigen Radiologen freigegeben werden… Das kann schon mal dauern… Dass es dauern kann, hat meinem Freund allerdings niemand gesagt hatte, der angesichts des für ihn folgenschweren Befundes mit baldiger Nachricht rechnete. Somit kann ich seine Wut auf das Krankenhaus verstehen, das Gefühl, dort als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Das Gefühl, dass niemand es für nötig hielt, ihn als mündigen Menschen zu behandeln.

Sicherlich war dies nicht so. Dieser Eindruck hatte sich bei ihm am OP-Tag verfestigt und durch diese Brille sah er dann alles weitere. Das eine oder andere Gespräch mit Freunden wird auch Eindruck gemacht haben. Wie, nach der OP kam nicht alle halbe Stunde eine Pflegekraft und hat Blutdruck und Temperatur gemessen? Das ist nicht korrekt! (denn alle halbe Stunde in den ersten 2 Stunden nach der Rückkehr auf Station müssen die Vitalzeichen kontrolliert werden, danach stündlich). Ich aber kann mir vorstellen, dass er die Stunden nach der OP erschöpft vor sich hingedämmert hat, so dass ihm entging, dass regelmäßig eine Pflegekraft bei ihm die Vitalzeichen checkte. Möglich ist das. Und somit ist seine Aussage, dass bei ihm erst gegen Abend, rund 4 Stunden nach der OP, wie üblich Temperatur und Blutdruck gemessen wurden, nicht auf die Goldwaage zu legen.

Zumal er sein allgemein negatives Votum selbst dahingehend abschwächte, dass Auszubildender Andi sehr bemüht gewesen sei und es auch verstanden habe, ihn mit seinen Scherzen zum Lächeln zu bringen (allerdings hätte er es mit der Händedesinfektion nicht so genau genommen). Zudem hätte sich der Urologe, der die Voruntersuchung durchgeführt hatte, für ihn viel Zeit genommen, um ihm die Diagnose und die Konsequenzen zu erklären. Auch der Urologe, der ihn bei der Aufnahme im Krankenhaus noch einmal untersucht hatte, sei sehr freundlich gewesen. Waren auch beide nicht mit einer leserlichen Handschrift gesegnet (aber vielleicht gehört das zum Berufsstand „Arzt“ auch dazu, dass man unleserlich zu schreiben hat, wenn ich mich da an manche ausgestellten Rezepte erinnere…), so gaben sich beide alle Mühe, ihm seine Situation verständlich zu machen und ihn zu beruhigen. Hodenkrebs sei sehr gut heilbar, sagten sie. Gute Chancen… Über 90% Zwar sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man seinen linken Hoden entfernen müsse. Aber das sei der erste Schritt zur Heilung. Und die geringe Menge im Blut gefundener Tumormarker deute daraufhin, dass der Tumor begrenzt und der rechte Hoden nicht befallen sei. Somit würde der gesunde Hoden für zwei arbeiten, kein Problem, für sein Mannsein würde sich somit nichts ändern. Testosteron würde er in diesem wahrscheinlichen Fall als orale Hormongabe nicht benötigen.

Falls man (ein „man“, das so unbestimmt bleiben sollte, weil mein Freund bis heute nicht den Namen des Chirurgen weiß) den linken Hoden entfernen müsse (das entscheidet der Chirurg während der OP durch bloße Begutachtung und seine Erfahrung) müsse man natürlich die histologische Untersuchung des befallenen Hodens abwarten. Denn für das weitere Vorgehen, ob zum Beispiel eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie notwendig sei, sei die Art des Tumors entscheidend. Zudem würde eine Biopsie des recht Hodens durchgeführt werden, heißt, durch einen kleinen Schnitt wird eine winzige Menge Gewebe entnommen, um sicherzustellen, dass der rechte Hoden karzinomfrei ist. Aber wie gesagt, sagten beide Urologen: Gut heilbar. Gute Chancen… Viel Glück!

Eine Biopsie war bei meinem Freund nicht gemacht worden. Macht man nicht mehr nach neuen Richtlinien, erklärte der Oberarzt ihm am Tag nach der OP bei der Visite, ohne eigentlich etwas zu erklären. Warum macht man das nicht mehr? Aus welchem Grund wurde die Richtlinie geändert? Was bedeutet dies hinsichtlich der Frage, ob der rechte Hoden gesund ist? Fragen über Fragen, mit denen sie meinen Freund alleine ließen.

Kein Mensch – Hodenkarzinom links

Fragen, die zu weiteren Fragen führten: Warum sagten die Urologen bei der Voruntersuchung und bei der Aufnahme übereinstimmend, dass eine Biopsie durchgeführt werden würde? Waren sie freundlich, kommunikativ, vertrauenerweckend, aber nicht auf dem neuesten Stand der Dinge? Gar inkompetent? Was ist dann von ihrer Einschätzung zu halten, dass Hodenkrebs gut heilbar sei? Kurz: Mein Freund war bis ins Mark verunsichert.

Die beiden genannten Urologen waren ihm kompetent erschienen. Wären sie es nicht, dann wären sie sicherlich auch nicht mit so wichtigen Aufgabe wie Voruntersuchung und Aufnahme betraut gewesen. Oder täuschte er sich in der Wichtigkeit dieser Aufgaben? Waren sie in Wahrheit nur kleine, unbedeutende Rädchen im medizinischen Arbeitsprozess, auf die hinsichtlich einer erfolgreichen Behandlung der Patienten verzichtet werden könnte? War ihre Funktion, die sie mit Gesprächsbereitschaft und Freundlichkeit ausfüllten, vielleicht nur eine Art Zugeständnis an den Wunsch der Patienten als Mensch gesehen zu werden?

Sind Freundlichkeit und Kommunikationswilligkeit vielleicht nur ein Deckmäntelchen für Inkompetenz?

Ja, kann es sein, dass ein gewisses Maß an Unfreundlichkeit, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass nicht mit, sondern über den Menschen im Bett gesprochen wird, und ein gerüttelt Maß an Widerwillen zur Kommunikation mit dem Patienten, ein Widerwillen, der sich in einer abgehakten, von Fremdwörtern strotzenden, nur Fachleuten zugänglichen Aussagesatzsprache äußert, Zeichen von Kompetenz sind? Weil Ärzte nur dann im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten sind, wenn sie mit dem Patienten lediglich als Fall und nicht als Mensch zu tun haben? Weil Ärzte gewissermaßen eines Teiles ihrer medizinischen Kraft beraubt werden, wenn sie sich auf Menschensprache einlassen, wenn sie gezwungen sind, sich Laien verständlich zu machen. Weil die wirklichen Koryphäen auf ihrem Gebiet wahrhaft nur noch mit ihresgleichen kommunizieren können?

Somit wäre die Klinik kein Ort der Kommunikation zwischen Menschen, darf kein Ort der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch sein, weil sie ein Ort der Koryphäen ist. Das Bedürfnis meines Freundes, zu erfahren, was passiert ist, erklärt zu bekommen, was passiert, wäre demnach kontraproduktiv. Eigentlich ein Missverständnis. Liegt diesem Bedürfnis doch der Gedanke zugrunde, dass er ein kranker Mensch sei. Wohingegen er doch nichts weiter als ein Hodenkarzinom links ist. Jedenfalls sein sollte, um den Fachleuten die Kommunikation zu ersparen, die sie nur von ihren Aufgaben ablenkt und sie auf das Niveau des Allzumenschlichen hinabzieht. Dieses Missverständnis zu durchschauen, hieße, sich fraglos in die Hände der Fachleute zu überantworten und zu verstehen, dass Unfreundlichkeit und das Fehlen von Kommunikation keine Anzeichen von schlechter Pflege und Betreuung sind, sondern Zeichen des notwendigen Abstandes der Experten von ihren Fällen, um im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten objektiv das Richtige zu tun. Gottvertrauen ist gefragt!

Sähe mein Freund dies ein, so würde sich das schäbige Gefühl verlieren, als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Er würde nicht mehr darauf pochen, von den Ärzten als Mensch behandelt zu werden. Hodenkarzinom links. Mehr würde er in medizinischen Zusammenhängen nicht mehr sein wollen. Für menschliche Bedürfnisse gibt es schließlich die Familie, psychologische Beratungseinrichtungen, Seelsorger – oder Freunde wie mich.

Gott bewahre!

Und so erwarte ich jetzt jeden Moment den Anruf meines alten Freundes, der dann hoffentlich Gewissheit hat, welcher Art der Krebs war, der eine Operation notwendig gemacht hatte, weil nun endlich der histologische Befund vorliegt, dessen Ausfertigung sich etwas verzögert hat, wie mein Freund nach einigen Telefonaten herausfand. Warum?, dies konnte ihm niemand sagen. Wann es denn soweit sei, ließ sich nicht voraussagen.

Sicherlich hätte sein Urologe an seinem Heimatort diese Telefonate für ihn geführt, bei seinen Kollegen auf den Busch geklopft, um die Verfassung des wichtigen Befundes zu beschleunigen, oder wenigstens mündlich wichtige Anhaltspunkte für die anstehenden nächsten Schritte zu erhalten. Denn sollte aufgrund der Krebsart – Gott bewahre! Ein eher unwahrscheinliches, aber dennoch realistisches Szenario – eine Chemotherapie notwendig sein, so würde hier schnell gehandelt werden müssen. Aber sein Urologe vor Ort war für zwei Wochen in den wohlverdienten Urlaub gefahren, was leider versäumt worden war, meinem Freund vor seinem Klinikaufenthalt mitzuteilen. An einen Termin bei dem ihn vertretenden Arzt war schwer heranzukommen. Erst war der Anschluss der Praxis ständig besetzt, dann…

Aber schließlich hat es doch geklappt. Mein Freund hat dann noch per Telefon dafür gesorgt, dass der Vertretungsarzt alle Unterlagen erhält („Na, hoffentlich klappt das!“, meinte mein Freund vor einigen Tagen mit müder Stimme). Heute ist dieser Termin. Er war schon vor einigen Stunden. Ich bin schon ganz kribbelig. Nun gut, vielleicht musste mein Freund lange warten, vielleicht – ah, endlich. Das Telefon klingelt.

pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3

„Ich bin einfach nur müde.“, meinte mein alter Freund am Telefon, „Ich hoffte so sehr, zu erfahren, was genau für ein Karzinom sie aus mir herausgeschnitten haben. Ich mein, diese Information ist doch wichtig, oder? Vor allem wollte ich wissen: Hat die OP dem Krebs den Garaus gemacht oder sind weitere Schritte angesagt?“

Den histologischen Befund hatte er am Morgen vor seinem Termin beim Urologen erhalten. Das Krankenhaus hatte den Brief des Pathologen per Post an meinen Freund geschickt. Was ihn, wie er einräumte, positiv überraschte, hatte er doch nach seinen Erfahrungen mit dem Krankenhaus nicht damit gerechnet, von dort noch etwas zu hören. Allerdings lag dem Befund kein Brief bei, der etwa eine Art Übersetzung der Pathologensprache oder eine Empfehlungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens enthalten hätte. Aber nun gut, die uro-onkologische Nachsorge sollte ja auch – wie es in dem vom Krankenhaus zur Entlassung meines Freundes ausgestellten Arztbrief stand – durch den Urologen an seinem Heimatort erfolgen („Entlassung des Patienten … in Ihre geschätzte Weiterbehandlung nach Hause“). Der bzw. seine Urlaubsvertretung würde ihm dem Befund schon erklären können, hoffte mein Freund, der den Befund auf dem Weg zum Vertretungsurologen las, aber nicht verstand.

Auch der Vertretungsurologe hatte den Befund erhalten (noch ein Pluspunkt fürs Krankenhaus, das hatte also geklappt), aber er hatte diesen ebenso wenig wie den Arztbrief des Krankenhauses gelesen. Er überflog beide im Beisein meines Freundes.

„Ja, das sieht doch gut aus!“, meinte er nach Durchsicht des Arztbriefes, „OP gut verlaufen, CT ohne Befund, keine Metastasen.“ Der Urologe blätterte die zwei Seiten des histologischen Befundes hin und her, „Ich würde sagen, der Krebs ist weg!“ Mein Freund atmete auf. „Also war es das für mich. OP und gut.“ Der Urologe blätterte nochmals die zwei Seiten des histologischen Befundes hin und her. „Ja!“, antwortete er.

Mein Freund wollte aber dennoch etwas mehr über den Befund erfahren, über dieses Ding, das an empfindlicher Stelle bei ihm gewuchert war und das eine „Semikastration“, wie es im Befund stand, notwendig gemacht hatte. Was ist ein embryonales Karzinom?, fragte er also. Das ist ein embryonales Karzinom, antwortete der Mediziner.

„Also bin ich zu empfindlich, oder was?“, rief mein alter Freund erbost ins Telefon hinein, „Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Was sollte ich jetzt noch von seiner Prognose halten, dass der Krebs weg ist?“

Er hatte dann den Urologen noch gefragt: „Ist ein embryonales Karzinom ein Seminom oder ein Non-Seminom?“ Denn er hatte gelesen, dass dies die für die weitere Behandlung wichtige Grundunterscheidung bei Hodenkrebs sei.

„Und dann, ich fasste es nicht, holte der ein Urologielexikon aus dem Schrank, setzte sich neben mich und schlug den Begriff nach. Was hat denn die Klinik als weiteres Vorgehen empfohlen?, fragte er währenddessen. Nichts, sagte ich, die Ärzte hatten den Befund nicht vorliegen und haben mich zur uro-onkologischen Nachsorge an ihren Kollegen, also, da dieser im Urlaub ist, an sie weitergereicht.“

„Aha!“, sagte der Urologe, erzählte mein Freund, dann blätterte der Arzt noch etwas im Lexikon herum und meinte dann: Vielleicht sollten wir doch noch eine Chemotherapie machen, nur zur Sicherheit! Aber da sollte man, also sein Kollege, der ja noch eine Woche im Urlaub ist, noch einmal Rücksprache mit dem Pathologen halten und mit dem Leiter der Urologie im Krankenhaus sprechen, um das weitere Prozedere abzuklären…

„Ich bin so geschafft und gleichzeitig so wütend.“, sagte mein alter Freund, „Anderthalb Wochen sind seit der OP vergangen. Es kann doch nicht sein, dass mir niemand sagen kann, was genau für ein Karzinom sie aus mir herausgeschnitten haben und ob jetzt noch weitere Schritte angesagt sind oder ob die OP ausgereicht hat, den Krebs zu entfernen!“

Nein!, gab ich ihm Recht, das darf nicht sein! „Danke dir!“, entgegnete mein Freund mit müder Stimme, „Ich leg‘ jetzt auf. Werd‘ versuchen, jemanden ans Telefon zu bekommen, der mir erklären kann, was pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 bedeutet. Denn das scheint mir die Quintessenz des Befundes zu sein. Vielleicht erwische ich ja den Pathologen. Vielleicht jemanden von der Krankenkasse, die haben doch so ein Ärztetelefon. Meinen Hausarzt werde ich auch anrufen, der kennt sich eigentlich immer gut aus, vielleicht weiß er Rat. Aber zuerst rufe ich im Krankenhaus an. Jetzt, da der Befund vorliegt, müssen die mir doch etwas sagen können…!“

Wir verabschiedeten uns voneinander, dann fuhr ich meinen Rechner hoch. pT2 L.1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 – mal schauen, ob das Internet hier stichhaltigere Informationen bereithält als bisher die Ärzte meines Freundes. Eigentlich ein trauriger Gedanke.


Nachtrag: Interessante Adressen, die ich im Internet fand:


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Oh Gott, sie haben die Verpackung verändert

Damenbinden_Verpackung_geaendert
Früher oder später trifft es wahrscheinlich die meisten Männer. Das erste Mal, da ihn, sagen wir auf der Arbeit, zum Beispiel eine sms erreicht: „Schatz, bringst Du mir bitte Binden mit“ (oder Tampons oder Slipeinlagen…). Und so fährt man nach der Arbeit ahnungslos zum nächstgelegenen Drogeriemarkt, geht lächelnd wohlgemut durch die Auslagen, bis man das Regal für Frauenhygienartikel findet.

„Schatz, bringst Du mir bitte Binden mit“

Ja, aber gerne doch. Doch welche?

Erst steht man staunend vor dem Regal. Was es nicht alles gibt! Normal, Ultra dies, ultra das. Maxi. Mini. Mit Flügeln. Ohne Flügel. Ohne Duft oder mit Duft. Mit diesem oder jenem Duft. Und die ganze Auswahl wird potenziert durch die verschiedenen Anbieter. Wohin man auch blickt, Pastelltöne in betäubender Vielfalt.

Dann überkommt einen eine gewisse Panik, während man mit dem inneren Augen ins heimische Bad wandert. Wie sieht noch einmal die nun offenbar leere Packung Binden daheim aus? Waren da nicht Grüntöne? Oder doch eher ein leichter Stich ins Bläuliche? Pink? Ja, Pink. Richtig pink oder doch eher eine Nuance Altrosa? Oh Gott, und welcher Anbieter?

Man könnte nun natürlich zum Handy greifen und die fehlenden Informationen bei seiner Frau abrufen. Aber gibt man sich eine solche Blöße?

Dann doch lieber die Logik bemühen. „Normal“ kann doch nicht verkehrt sein. Aber was heißt schon normal? Wo ist denn da die Bemessungsgrundlage? Des Mannes Blick streift vom Regal weg über die anwesenden Damen. „Normal“ meint wahrscheinlich die von der durchschnittlichen Frau bevorzugte Größe. Aber: was heißt hier „durchschnittlich“? Ist diese Frau dort oder jene durchschnittlich? Kleidergrößen sind besser einzuschätzen. Ha! Hatte er nicht vor kurzem etwas über durchschnittliche Kleidergrößen deutscher Frauen gelesen? Wie war das noch? Früher 40, heute 42. Ja, so war das. Also „Mini“, schwankt doch die Kleidergröße der Dame daheim (jedenfalls in offiziellen Verlautbarungen). Man will ja nicht in ein Fettnäpfchen treten. Aber Mini mit oder ohne Flügel? Mit oder ohne Duft. Duft klingt gut. Aber ist das auch wirklich gut verträglich? Und was ist mit der Länge? Mini normal oder Mini lang?

Vielleicht einfach die Augen schließen und sich bei der Auswahl von Fortuna leiten lassen?

Die Wahrscheinlichkeit, dass Fortuna in diesem Moment einfach mal in eine andere Richtung sieht, ist außerordentlich hoch. Die meisten Neulinge beim Frauenhygieneartikelkauf werden daneben greifen. Aber man ist ja lernfähig.

Erfahrene Männer haben sich nach solchen Momenten natürlich später genau die bevorzugte Marke und die genaue Beschreibung eingeprägt – oder einfach mit dem Handy ein Foto von der entsprechenden leeren Verpackung geschossen, die er in seiner Unfähigkeit mit einem falschen Produkt hatte ersetzen wollen. Und weil man logisch vorgeht – und für die Zukunft gewappnet sein will: Fotos vom Shampoo, der Spülung, vom Haarfestiger, vom… Und weil es dann, nach dem Abgleich mit dem Bild in seinem Gedächtnis (oder auf dem Handy) noch einfacher zu bewerkstelligen ist, merkt er sich genau den Ort, an dem der entsprechende Artikel im Drogeriemarkt zu finden ist. Quasi blind. Man läuft dann einfach immer die gleiche Runde, greift hier in die dritte Regal-Etage links, bückt sich dort zur Auslage hinunter gleich gegenüber dem Wasserspender.

Und so lächelt man, wenn man wieder einmal eine sms erhält. „Schatz, bringst Du mir bitte Binden mit, ach ja, und noch das Trockenshampoo“. Lächelt, bis man wieder im Drogeriemarkt steht – und merkt: Sie haben umgeräumt.

Doch die entsprechenden Regale und Auslagen sind zu finden. Zur Not fragt man eine der freundlichen Verkäuferinnen oder Verkäufer. Und somit steht man dann vor den gesuchten Artikeln. Doch in der dritten Regal-Etage links steht etwas anders. Ein leichter Anflug von erhöhtem Blutdruck macht sich bemerkbar. Der Blick streicht über die nun anders geordnete Vielfalt, gleicht das Angebot mit dem Bild vor dem inneren Auge (oder dem Foto auf dem Handy) ab – und findet nichts. Denn – oh Gott! – die bevorzugte Marke hat bei diesem Artikel die Verpackung geändert.

Ja, oh Gott. Denn was lernt man daraus (außer sich die genauen Produktspezifikationen unabhängig von der Verpackung einzuprägen)? Wenn selbst bei Binden die Produktpräsentation wechselt, das Produktmarketing also der Ansicht ist, dass sowohl eine andere Gestaltung als auch ein anderer Verkaufsort für den Umsatz förderlich sind, dann obacht Mann!

Frauen suchen das Neue.

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Was ich an Frauenzeitschriften nicht leiden kann

Frauenzeitschriften
Um es gleich festzustellen: Ich lese gerne Frauenzeitschriften. Nicht nur beim Arzt. Habe ich immer schon getan. Es gibt eine Menge Nützliches zu erfahren. Über Frauen. Und über Allerlei. Interessante Geschichten, spannende Lebensläufe – da blättere ich gerne hinein.

Aber was ich überhaupt nicht leiden kann: All diese eingeklebten Pröbchen, Duft-Appetizer, die Nase-Neugierig-Macher. Puh. In ihrer Mischung manchmal schwer zu ertragen. Was da für Dämpfe zwischen den Seiten aufsteigen. Appretur, Lackfarben-Ausdünstungen sind nichts dagegen. Olfaktorischer Overkill. Und mit tränenden Augen liest sich schlecht. Zudem: Wie soll man denn da einfach mal durchblättern, wenn die Zeitschrift immer zur nächsten eingeklebten Probe springt? Wenn immer diese Doppelseiten aufklappen, wo auf der einen Seite Werbung mit einem geruchsintensiven Lesezeichen prangt…

Man nimmt ein Heftchen zur Hand und fast automatisch landet man bei einer dieser Doppelseiten – und je dicker die eingeklebte Probe ist, umso zwangsläufiger. Und ich habe nicht den Eindruck, dass die Artikel daneben die je interessantesten des Heftchens sind. Vielleicht alleine schon deswegen nicht, weil nichts von der Werbung ablenken soll…

Das empfinde ich als penetrant. Ob es nur mir als Mann so geht? Eine repräsentative Umfrage der Frauen im Haus hat ergeben: Nein. 100% Zustimmung.

Da lobe ich mir doch meine Heavy Metal-Postillen: Dort finden sich die Proben geballt auf einer Seite. 10, 14, 18 Proben auf einer CD. Und ansonsten kann man ungestört blättern. Es könnte ja auch jede Plattenfirma ihre eigene CD mit einem Song pressen lassen und dann finden sich diese Proben verteilt im Heft… Frauenzeitschriften-Prinzip.

Warum tun sich die Kosmetikkonzerne nicht zusammen – und produzieren zusammen eine Pröbchenseite (vor allem da es ja eh nur wenige Konzerne sind, die nur in der Werbung so tun, als würden sie voneinander völlig unabhängige Produkte vertreiben – ach die Vielfalt). Also 4, 6, 8 kleine Proben auf einer Plastikseite, ins Heft eingeklebt, jede Probe von der anderen mit einer Perforation getrennt. Jedes einzelne Pröbchen könnte sogar individuell gestaltet werden – und ist diese Seite einmal herausgetrennt, dann steht nichts mehr dem Frauenzeitschriften-Lesevergnügen im Weg. Man kann hinblättern, wohin man will…

Wobei, ich bin nicht die Zielgruppe. Was weiß ich schon von Frauen-Marketing. Ich blättere ja nur mal hinein… Und wahrscheinlich ist das der Trick dabei, dass auch Frauen nur hineinblättern – und mittels Proben an die wichtigen Stellen gelotst werden. Kann das denn sein? Size matters? Je dicker die Probe… Scheint so. Aber was weiß ein Mann schon davon.

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