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Ein Patient 1. Klasse – „Der eingebildete Kranke“ von Molière, eine Rezension

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Ein Sommer, der zu oft unter dem Zeichen „Patient 3. Klasse“ stand, ließ mich zu einem feinen, gemeinen Stück Literatur greifen, das sehr oft mit dem schwerfüßigen Attribut „Klassiker“ belegt wird (Klassiker = schwer = angestaubt).

Aber da hier auch nach über 300 Jahren nichts angestaubt ist, wusste ich, dass mir die Lektüre ein Lächeln in Gesicht zaubern wird.

Die Wahrheit, heißt es, sei das Gute und Schöne. Die Wahrheit ist: Es ist gut und schön, wenn es einem gelingt, in einer Welt, die weder gut noch schön ist, ein lächelndes Herz zu behalten.

Ein Patient 1. Klasse – „Der eingebildete Kranke“ von Molière, eine Rezension

Der Vorhang geht auf und ohne Umschweife ist der Zuschauer (und der Leser) mittendrin in der wahnhaften Welt des Herrn Argan, einer Welt, deren Lauf nicht durch den Fluss der Zeit, die Wanderung der Gestirne oder durch den Wechsel von Tag und Nacht bestimmt wird, sondern durch das Fließen der Einläufe und Tinkturen und des Geldes an Ärzte. Argan ist ein Hypochonder wie er im Buche steht, für die Ärzte, die ihm das Geld aus der Tasche ziehen, ist er ein Patient 1. Klasse. Seine Vernarrtheit in Krankheit geht sogar soweit, dass er seine Tochter nur an einen Arzt oder einen Apotheker verheiraten will. Herr Argan leidet, und das ist gut so, ist ihm das Gefühl des Leides doch so vertraut wie die Klistierspritze im Körper. Ein Tag ohne Darmreinigung… – undenkbar.

Le malade imaginaire – Der eingebildete Kranke ist das letzte von Molière geschriebene und inszenierte Stück. Eine Hypochonderkomödie mit reichlich Wortwitz rund um geldgierige Ärzte, Ehestiftung, eine Erbschleicherin und ein mit allen Wassern gewaschenes Dienstmädchen.

Mit scheinbar lockerer Hand gelingt Molière eine zugleich amüsante wie hintergründige Kritik an der Medizin und der Ärzteschaft seiner Zeit, eine Kritik, die, insofern sie Standesdünkel und Arroganz gegenüber den Patienten betrifft, sehr aktuell ist. Die Medizinerschelte ist ein Thema, das sich über viele Jahre hinweg durch Molières Schaffen zieht und welches in Der eingebildete Kranke seinen gestalterischen Höhepunkt findet.

Molières Kritik an der Medizin ist durchaus persönlich motiviert: er ist davon überzeugt, dass er die schwere Krankheit, die er von Dezember 1665 bis Januar 1666 durchlitt (und deren misslungene Behandlung durch die Ärzte dann tatsächlich zu der anhaltend angeschlagenen Gesundheit Molières führte) und die ihn zur zeitweiligen Schließung seines Theaters zwang, nicht wegen, sondern trotz der Ärzte überlebt habe. Ein Gedanke, der im Stück auftaucht, wenn Béralde über seinen Bruders Argan sagt, dass jener bislang nur wegen seiner guten Gesundheit die Ärzte überlebt habe.

Die Ärzteschaft in Molières Zeit und die von ihr praktizierten Heilmethoden sind der Antike auf eine Weise verpflichtet, die an blinde Abhängigkeit grenzt, es gelten nicht Beobachtungen, nicht Erfahrungen, sondern allein die überkommene Lehrmeinung der Alten. Dreh- und Angelpunkt der Medizin ist die antike Lehre von den Temperamenten und Körpersäften, die besagt, dass Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit im Körper der Menschen in einem bestimmten Verhältnis vorhanden sein müssen. Krankheit ist Ungleichgewicht der Säfte, die Ärzte suchen es wiederherzustellen, indem sie erhitzen, erfrischen, befeuchten oder austrocknen. Zwei beliebte Mittel dazu sind Aderlass und das Verabreichen von Klistieren. Was vor Hunderten von Jahren laut den Alten gut gewesen ist, muss auch noch heute gut sein… Molière selbst steht auf der Seite des Fortschritts, im Gegensatz zu der offiziellen Medizin seiner Zeit ignoriert er nicht die Entdeckungen auf dem Gebiet der Medizin, etwa die Entdeckung des Blutkreislaufes im Jahr 1619 durch den Engländer Harvey.

Die große Kunst des Molière ist es nun, seine Kritik nicht einfach zu formulieren und z.B. einer Figur monologisch belehrend in den Mund zu legen, sondern sie ungezwungen in das komische Geschehen rund um den Hypochonder Argan und seine Familie einzuflechten.

Molière gibt die Ärzteschaft der Lächerlichkeit preis, in dem er sich selbst lächerlich machende Ärzte auf die Bühne stellt. Ein Paradebeispiel ist der frisch von der Universität kommende, angehende Mediziner Thomas Diafoirus, dessen Abhängigkeit von überkommenden Meinungen Molière in den grandiosen Szenen, die der Vorstellung dieses von Argan gewünschten Schwiegersohns dienen, dadurch augenfällig macht, dass Thomas nur vorher auswendig Gelerntes von sich gibt: höfliche, steife, immer wieder mit lateinischen Wendungen versehene Galantarien, die dann auch noch den Adressaten verfehlen, weil er Argans Ehefrau für Angélique hält. Thomas ist also nicht auf der Höhe der Zeit und einen Blick für Menschen hat dieser angehende Arzt auch nicht: hält er es doch für eine gute Idee seiner Auserwählten als erstes Date eine Sektion vorzuschlagen.

Nicht weniger lächerlich als Thomas sind auch sein Vater Dr. Diafoirus und sein Onkel Dr. Purgon, etwa wenn sie sich gelehrten Diskursen ergehen und Herr Argan in seinem Wahn all diese gegensätzlichen Diagnosen und gegensätzlichen Therapien für der Weisheit letzter Schluss hält, nur weil er es kaum erwarten kann, ein neues Medikament auszuprobieren oder wieder ein Klistier verordnet zu bekommen. Die Glaubwürdigkeit der Ärzte bekommt ihren Todesstoß, als es nach allerhand mit der Komik der Konfusion spielenden Szenen (z.B. der Entlarvung der Erbschleicherin) dem Dienstmädchen Toinette und Argans Bruder gelingt, Herrn Argan einmal von einem Einlauf abzuhalten. Sogleich fühlt sich der verordnenden Arzt Dr. Purgon in seiner Autorität gekränkt. Und weil diese Kränkung der Autorität – wie Molière suggeriert – das Schlimmste ist, was einem Arzt passieren kann, geht Dr. Purgon auch gleich in die Vollen und malt seinem störrischen Patienten in bunten Farben seinen nahen, jetzt nicht mehr abzuwendenden, qualvollen Tod aus – nicht ohne daraufhin zu weisen, dass Herr Argan vor dem Eintritt seines selbstverschuldeten Dahinscheidens noch den verschmähten Einlauf zu bezahlen habe, schließlich sei er schon vorbereitet gewesen…

Der eingebildete Kranke wurde am 10. Februar 1673 mit großem Erfolg uraufgeführt. Molière selbst spielte die Hauptfigur Argan, seine Frau Armande die Rolle der Angélique. Er war damals bereits schwer an der Lunge erkrankt, und im Verlauf der vierten Vorstellung am 17. Februar 1673 (auf den Tag ein Jahr zuvor war Madeleine gestorben) erlitt er einen Schwächeanfall. Im sicheren Bewusstsein des nahen Todes bat Molière um die Sterbesakramente. Weil die Schauspielerei aber zur damaligen Zeit als unehrenhaft und als Teufelszeug galt (Schauspieler – und auch Zuschauer – zu exkommunizieren war gängige Praxis) lehnten zwei Priester Molières Bitte ab. Erst ein dritter Priester erklärte sich bereit, Molière die Letzte Ölung zu geben: er kam zu spät. Im Kostüm des Argan starb Molière ohne Segen der Kirche. Es heißt, erst durch das Eingreifen des Königs konnte er christlich beerdigt werden. Allerdings halten sich seit damals hartnäckig die Gerüchte, dass Molière sterbliche Überreste auf Betreiben der Kirche bald nach der Bestattung ausgegraben und in den für ungetaufte Kinder reservierten Teil des Friedhofs verlegt wurden.

Diagnose: Ein feines, gemeines Stück Medizin-Literatur, dass auch nach über 300 Jahren nicht angestaubt ist, da dieser Klassiker leichtfüßig, ebenso humorvoll wie giftig, mitten hinein – auch in die moderne – Seele greift. Mit scheinbar lockerer Hand gelingt Molière eine zugleich amüsante wie hintergründige Kritik an der Medizin und der Ärzteschaft seiner Zeit, eine Kritik, die, insofern sie Standesdünkel und Arroganz gegenüber den Patienten betrifft, sehr aktuell ist.

Zum Autor:

Molière wurde am 15. Januar 1622 als Sohn eines Tapezierermeisters in Paris geboren und auf den Namen Jean-Baptiste Poquelin getauft (den Künstlernamen Molière nahm er 1644 an). Er stammte aus einer wohlhabenden Familie des aufstrebenden Bürgertum. 1643 gründete er, zusammen mit der Schauspielerin Madeleine Béjart, die seine Geliebte, Freundin und Vertraute wurde, eine Schauspielgruppe. Molière war Komödienschreiber, Regisseur und Schauspieler in Personalunion. Aufgrund von Geldnöten war die Schauspielgruppe gezwungen nach drei Jahren Paris zu verlassen, erst nach zwölf Jahren in der Provinz kehrten sie 1658 nach Paris zurück. Es begann die erfolgreiche Zeit, denn Molière gelang es mit seinen Komödien die Gunst von König Ludwig XIV, des Sonnenkönigs, zu gewinnen, der Molière – wenigstens eine Zeitlang – gegen alle Anfeindungen (vor allem von der Kirche) in Schutz nahm. Da die Einnahmen der Schauspieltruppe pro Kopf ausgezahlt wurden und Molière in seiner dreifachen Funktion als Autor, Regisseur und Schauspieler einen dreifachen Anteil einstreichen konnte, war er bald ein wohlhabender Mann. 1662 heiratete Molière Armande, von der es gerüchteweise hieß, sie sei die Tochter seiner langjährigen Geliebten Madeleine, vielleicht sogar seine eigene Tochter. Vieles spricht aber dafür, dass Armande und Madeleine Schwestern gewesen sind. Nach langer Krankheit verstarb Molière am 17. Februar 1673.

Quelle zu Hintergrundinformationen: Jürgen Grimm, Molière, Stuttgart/Weimar (Verlag J.B. Metzler), 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2002 (ISBN 3-476-12212-3)

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Heuschrecken essen – eine interessante kulinarische Erfahrung

Heuschrecken essen –  eine interessante kulinarische Erfahrung

Wie schmecken Heuschrecken?

Wer in der Ferne reist, hat etwas zu erzählen – oder kann die Menschen daheim an besonderen kulinarischen Erfahrungen teilhaben lassen. Zum Beispiel zu Weihnachten. Kulinarisches unter dem Weihnachtsbaum ist gern gesehen. Diverse Schoko-Leckereien. Ein edler Likör. Ausgewählte Teesorten. Ein besonderer Whiskey. Ein Gutscheinheft für Restaurants in der Umgebung. Selbstgebackene Plätzchen. Warum also nicht einmal Heuschrecken zu Weihnachten verschenken?

Kulinarisches Neuland

Pralinen aus Kamelmilch des in Dubai ansässigen Herstellers Al nassma

Pralinen aus Kamelmilch des in Dubai ansässigen Hersteller Al nassma

„Warum also nicht einmal Heuschrecken zu Weihnachten verschenken?“, so hatte sich ein Freund der Familie gedacht, der am zweiten Weihnachtentag mit uns feierte. Bereits im Jahr zuvor hatte er mich kulinarisches Neuland betreten lassen, hatte er mir doch aus Dubai Pralinen aus Kamelmilch mitgebracht. Eine edel verpackte Auswahl an aus Kamelmilch gewonnenen Köstlichkeiten (vom in Dubai ansässigen Hersteller Al nassma, Link zur Homepage). Lecker! Etwas ganze Besonderes. Er hatte mir eine Freude mit seinem Mitbringsel aus der Ferne gemacht.

Vergangenes Weihnachten wollte er dann eine andere in der Ferne, im fernen Thailand, gemachte kulinarische Erfahrung mit mir teilen: Heuschrecken.

Und so hielt ich am zweiten Weihnachtstag ein schön eingepacktes Geschenk rechteckiger Form in Händen. Nachdem ich das Geschenkpapier geöffnet hatte, entdeckte ich eine schmucklose durchsichtige Plastikverpackung, wie man sie als Verpackung von frischen Oliven beim Händler um die Ecke oder Krautsalaten beim Hähnchengrillwagen kennt. Die Verpackung der Kamelmilchpralinen hatte da schon mehr hergemacht.

Umso interessanter, weil ungewöhnlicher war dann aber der Inhalt der Verpackung: Heuschrecken, circa drei Dutzend an der Zahl. Oder anders gesagt: Eine Menge regloser Insektenbeine und über 30 blicklose, rote Insektenaugenpaare. Wie ich dem Kommentar des Freundes der Familie und der auf der Verpackung aufgeklebten Produktinformation entnehmen konnte, verzehrfertig zubereitet.

Das war doch einmal ein wirklich überraschendes Geschenk! Wie ich erfuhr, waren die Heuschrecken online erstanden worden. „Die Heuschrecken sind aus einer kontrollierten Zucht und entsprechen den deutschen Lebensmittelstandards.“, erfuhr ich. Also wohlan. Dann also forsch in die Verpackung greifen und sich eine Heuschrecke zu Gemüte führen.

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Und wie schmecken Heuschrecken?

Die direkt aus der Packung probierten Heuschrecken hatten wenig Eigengeschmack. Ich schmeckte eine Tendenz in Richtung Soja, wenn man das „Würzige“ weglässt. Eine dezente muffige Unternote machte sich bemerkbar, die man bereits, wenn man sie in die Hand nahm, spüren konnte: fühlten sich die Heuschrecken doch feucht-weich an, ohne dass sie wirklich nass waren. Direkt aus der Packung waren die Heuschrecken weder in den Fingern noch im Mund knusprig.

Der Produzent gibt den Tipp, die Insekten vor dem Essen noch kurz durch eine Pfanne mit einer Mischung aus heißem Bratöl und einen Schuss Sesamöl zu schwenken. „Die Mischung peppt die Insekten geschmacklich noch einmal auf“ (Link zum Angebot des Anbieters Yummy Food Shop). Und so warf ich die restlichen Heuschrecken in die Pfanne. Und siehe da: Nun fühlten sie sich bereits in den Fingern knusprig an, als ich sie noch heiß vom Teller nahm. Knackig im Biss (ohne dass man beim Hineinbeißen das Gefühl hatte, einen Insektenpanzer zu durchknacken), Geschmack nach Sesamöl, und dann – wenn auch dezenter als ungebraten – die leichte muffige Unternote. Auch nochmals angebraten ist wenig Eigengeschmack vorhanden.

Ich könnte mir vorstellen, dass sich Heuschrecken (ähnlich wie Tortillachips, die ja auch vergleichsweise wenig Eigengeschmack haben) sich aufgrund ihrer recht festen Konsistenz sehr gut zum Dippen eignen. Die zum Insekt passenden Dips müsste man dann noch herausfinden. Zudem könnte den Heuschrecken mit ein wenig mehr Kochkunst und Würzraffinesse sicherlich – ähnlich wie bei Tofu – mehr Geschmack entlockt werden.

Das Geschmacksfazit: Nicht eklig, nicht sonderlich lecker. Ein spannendes Geschenk und eine interessante kulinarische Erfahrung, aber kein Kandidat für eine Lieblingsspeise. Das Anbraten ergab ein Geschmacksplus, dass gleichwohl nicht dafür sorgte, Heuschrecken fortan als eine gerne gesehene Ergänzung zukünftiger Menüs zu sehen. Somit werde nicht ich die zum Insekt passenden Dips herausfinden. Sollte ich aber ein gutes Lokal besuchen, das Heuschrecken auf der Karte anbietet, so ist es durchaus möglich, dass ich mich durch die Künste des Koches zu einem zweiten Geschmackstest verleiten lasse.

Und wie schmecken Heuschrecken?

Isst man die eigentlich komplett?

PS, einige Fragen, die mir gestellt wurden:

  • „Kann man Heuschrecken eigentlich auch grillen?“, wurde ich ein paar Tage später gefragt. Da die Heuschrecken, die bei mir auf den Tisch kamen, verzehrfertig zubereitet waren, denke ich Ja. Wenn man dafür sorgt, dass sie nicht zwischen die Grillroste rutschen. Stelle mir aber vor, dass die Zubereitung in der Pfanne mit Öl ein insgesamt schmackhafteres Ergebnis zeitigt.
  • Eine weitere Frage war: „Was haben die anderen Teilnehmer des Festmahls zu den Hüpfern gesagt?“ Die waren neugierig, was ich sage. Wollten aber nicht selbst probieren.
  • „Isst man die eigentlich komplett… so wie sie sich gerade in der Pfanne räkeln?“ Ja, die Heuschrecken, die ich geschenkt erhielt, waren verzehrfertig, also isst man sie ganz und gar.
  • „Waren die Heuschrecken bekömmlich?“ Wenn ich von der kleinen Portion ausgehe, die ich gegessen habe: Ja, die Heuschrecken waren bekömmlich.

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Smaugs Einöde – wie passend. Filmkritik

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Was für ein passender Titel. Dabei habe ich ein Faible für Drachen. Und auch den „Kleinen Hobbit“ mag ich sehr. Als Buch. Als kleinen, feinen, spannenden, eng gestrickten Roman.

Aber was ist hier geschehen?

Jacksons Verfilmung des „Herr der Ringe“ fand ich sehr gelungen, weil er es meiner Meinung nach geschafft hatte, vieles von dem, was mir an Tolkiens „Herr der Ringe“ nicht gefiel, außen vor zu lassen. Dieses Langatmige, Ausgedehnte, dieses allzu ins Details gehende Beschreiben von für die Handlung unwichtigen Dingen – auch wenn sie für die zugrunde liegende Mythologie (die erschaffene Welt) vielleicht bedeutsam sind.

Und bei seiner Verfilmung von „Der kleine Hobbit“?

Hier ging Jackson den umgekehrten Weg: Er hat den „Kleinen Hobbit“ auf „Herr der Ringe“-Niveau aufgeblasen. Ringdisiert.

Dies empfand ich so beim ersten Teil – und trotz des angehobenen Actionlevels empfinde ich es auch beim zweiten Teil der Hobbit-Verfilmung.

Dabei hatte ich mich so auf den zweiten Teil gefreut – hey Smaug, neben Fuchur und Grisu der coolste Drache, den ich in noch jungen Jahren kennengelernt habe. 5. Klasse. Schullektüre – und „Der kleine Hobbit“ war so ziemlich die einzige Schullektüre, die ich mit Begeisterung gelesen habe.

Und jetzt? Was ist Smaug doch für ein Schwätzer. War das schon damals so? Trübt mich jetzt meine Erinnerung an mein erstes Leseerlebnis des Hobbits? Wie auch immer: In der Verfilmung smaugt er rum und smaugt er her, rasselt mit Wortzähnen und Feuersätzen, diskutiert mit Bilbo auf Beutlin-komm-raus. Wie lange? Eine gefühlte halbe Stunde. Natürlich: Seine Optik haben sie gut hinbekommen. Und das Drachenbad in geschmolzenem Gold ist eindrucksvoll. Aber dennoch: Manchmal sind weniger Worte mehr Bedeutung.

Smaugs Einöde – leider ein passender Titel. Denn obwohl zweite Teil von Jacksons Hobbit rasanter war als der erste Teil, hat er mich auf eine gewisse Weise angeödet. Weil er mich emotional nicht berührte. Weil er alles, was an der Romanvorlage bemerkenswert war, in die Breite gewalzt hat. Weder Zwerge, noch Bilbo, noch Gandalf – und schon gar nicht Smaug haben mich mitgerissen. Ihr Schicksal ließ mich unberührt. Der Zauber, der mich damals die Schullektüre verschlingen ließ, war geschwunden.

Schade. Bezeichnend für mein Filmerlebnis: Ich habe Smaug seine letzten Worte nicht abgenommen: Ich bin das Feuer. Ich bin der Tod. Sein ganzes vorheriges Geschwätze hat ihm die apokalyptische Wucht genommen.

Wie wird wohl der dritte Teil beginnen? Bilbo mit großen Augen in die Ferne blickend. Monolog: Oh, was haben wir nur getan. Wie konnten wir nur? Den Drachen wecken. Verderben. Verdammnis. Feuer. Tod. Dann Aufblenden. Die Kamera schwenkt, damit wir sehen, was Bilbo mit großen, schreckensweiten Augen sieht: Den Drachen im Anflug auf die Stadt. Eindrucksvolles Bild. Der schwarze Schatten. Schnitt in die Stadt. Schreiende Menschen. Panisch umherlaufende Menschen. Schnitt. Smaug Nahaufnahme. „Oh ja, lauft, lauft. Hier kommt Smaug. Das Feuer. Der Tod.“ Smaug dreht eine Runde. Seine Stimme aus dem Off. „Unheil. Hier kommt es. Meine Klauen sind Speere. Meine Flammen die Hölle. Lauft ruhig. Lauft. Ihr könnt euch nicht verstecken. Ich bin das Feuer. Ich bin der Tod.“ Schnitt. Schreiende Menschen. Panischer Blick gen Himmel, wo Smaug noch eine Runde dreht. Stimme aus dem Off: „Ihr seid Futter für mein Feuer. Gleich komme ich über euch, eure Heimsuchung, Nemesis, Plage. Von Zwergen geweckt. Ach die Narren. Und ihr müsst es büßen. Merkt es euch: Ich bin Smaug. König unter dem Berge. Ich bin das Feuer. Bin der Tod.“ Schnitt. Bilbo blickt dramatisch. Ein Zwerg legt ihm eine Hand auf die Schulter. Menschen schreien. Smaug dreht noch eine Runde, Stimme aus dem Off… „Ich bin…“

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Architeuthis oder der verstrahlte 48 Meter Riesentintenfisch – Rezension: „Der Rote“ von Bernhard Kegel

Quelle: http://www.lightlybraisedturnip.com/giant-squid-in-california/

Quelle: The Lightly Braised Turnip

Millionenfach über Facebook geliket, von Zeitungen und Fernsehstationen aufgegriffen, etwa von „Der Welt“ unter der Überschrift: „Das Rätsel um den verstrahlten Riesen-Tintenfisch“ (vom 10. Januar 2014): Das zunächst vom Onlineportal „The Lightly Braised Turnip“ verbreitete Bild eines gigantischen, 48 Meter langen Riesentintenfischs an einem Strand von Santa Monica, Kalifornien. Vermutete Ursache der furchterregenden Größe: „radioaktiver Gigantismus“ und die Atomkatastrophe von Fukushima.

Und auch wenn dieses Foto ein Fake ist – dass es solche Giganten der Tiefsee tatsächlich gibt, wird mittlerweile als erwiesen angesehen: „Abdrücke mit etwa fünfzig Zentimeter Durchmesser an gefangenen Pottwalen lassen auf eine Größe der Krake von ungefähr fünfzig Meter schließen“ (Zitat: Ankündigung des Films „Riesenkraken – Monster der Meere“ von Jo Sarsby am 14. Januar 2014 auf Phoenix).

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Ein faszinierendes Thema. Die Tiefsee, von der wir weniger wissen als vom Weltraum, und die dort lebenden riesigen Kopffüßer. Eine Faszination, die mich zu Bernhard Kegels Roman „Der Rote“ greifen ließ.

Kennt Ihr den Schwarm? Ich bislang noch nicht (damit befinde ich mich wahrscheinlich in kleiner Gesellschaft, sagen wir mal, von der Größe eine Fußballmannschaft). Jedenfalls hatte das den Vorteil, dass ich Bernhard Kegels Roman „Der Rote“ (gerne beworben im Stil von „Sie fanden den Schwarm toll, dann lesen Sie…“) lesen und schätzen lernen konnte, ohne Schätzing im Kopf.

Nun gut, ganz unvoreingenommen war ich nicht. Aufgrund so mancher Kritik erwartete ich so eine Art Dinopark unter dem Meer gewürzt mit einem guten Schuss Katastrophendrama („Tsunami“), ich dachte (vgl. meine erwähnte Faszination), da lauert etwas Monströses zwischen den Buchdeckeln, ein Kampf der Giganten Riesenkrake (und zwar eine wirklich richtig riesige Riesenkrake, bzw. sogar viele davon) und Pottwalen (auch vielen davon), eine Art maritimer Showdown auf Endzeit-Niveau.

Nun, diese Erwartungshaltung (wahrscheinlich habe ich letzter Zeit auch einfach zu viele Emmerich-Filme gesehen) wurde enttäuscht, zum Glück. Denn „Der Rote“ ist ein wirklich feines Buch rund um die Leidenschaft für glitschige Tiere, die in einer Welt leben, die uns Menschen (noch) nicht offensteht (die Tiefsee), ein spannendes Buch über Wissenschaft und Verantwortung, eine fesselnde Reflexion über Forschung unter dem Zwang, sich auch wirtschaftlich auszahlen zu müssen.

Der Rote ist ein Roman über unser Verhältnis zu Wesen, die uns so fremd sind, dass wir sie nicht verstehen können, deren Andersartigkeit uns entweder Angst oder Respekt einflößt. Natürlich ist „Der Rote“ groß, monströs, natürlich taucht das Motiv des Kampfes zwischen dem größten säugenden Raubtier, dem Pottwal, und den mehrarmigen Giganten öfter auf. Es gibt auch einen Tsunami (wirklich eindrucksvoll erschreckend geschildert, finde ich). Aber gleichwohl bezieht das Buch seinen Reiz doch eher aus den leiseren Momenten. Zum Beispiel die Beschreibungen der Tauchgänge der Hauptfigur Herrman Pauli, ein deutscher Biologe, auf denen er seine Leidenschaft für vielarmigen Wesen der Tiefsee entdeckt. Oder die Momente Auge in Riesenauge mit dem Roten, in denen eine Intelligenz glänzt, die nicht menschlich, aber sehr respektabel ist.

Wie gesagt, ein sehr lesenswertes Buch (mit einem Schuss Liebesroman), spannend, faszinierend in seinem faktenreichen Detailreichtum (ohne referierend zu wirken, meist). Ach ja, eigentlich geht es auch gar nicht um Riesenkraken, sondern um Kalmare (Architeuthis und Kolosskalmar).

Homepage von Bernhard Kegel

Quellen:
The Lightly Braised Turnip
Die Welt
Phoenix

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Ein Polizeimeister im adventlichen Lichterwahn und Tante Dores Lebensfaden. Rezension: Lutz Schafstädt, Tauwetter. Erzählungen.

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Die vergisst man nicht. Diese feinen Wendungen.

Eine schöne Entdeckung: Lutz Schafstädts Erzählungen, die er als eBook unter dem Titel „Tauwetter“ veröffentlicht hat. Jede Erzählung besticht durch eine genaue und klare Sprache, eine intelligente Klarheit, die aber nicht kalt ist. Im Gegenteil, ich empfinde den Erzählton als warm, ohne sentimental zu werden. Ebenso Herz wie Verstand berührend.

Deswegen werde ich auch nicht vergessen, wie Polizeimeister Kühn eine adventlich-kritische Situation meistert und was Oma Dore Überraschendes mit ihrem „Lebensfaden“ anfängt.

Wie gesagt: Feine Wendungen, die Schafstädt in seinen aufs Wesentliche konzentrierten Geschichten bietet. Mit Herz und Humor erzählt er unaufgeregt von besonderen Momenten im Leben der Protagonisten, sehr lebensnahen Momenten.

Und ich finde aufgrund dieser unaufgeregten Erzählweise wird das Besondere dieser Momente, zumal es Schafstädt gelingt, mit wenigen Worten ganze Erinnerungsräume aufscheinen zu lassen, um so deutlicher, berührender, eindringlicher.

Tauwetter – ganz sicher nicht das letzte Buch von Lutz Schafstädt, das ich lesen werde (Nachtrag April 2015: Das E-Book ist zurzeit nicht lieferbar).

Hier geht es zur Homepage des Autors

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„Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Schillers Tell – eine Rezension

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Ich musste wieder einmal mit dem Bus fahren, als Lektüre hatte ich mir etwas Leichtes auf den Weg mitgenommen: Also leicht an Gewicht – mein altes Reclam-Büchlein mit dem „Tell“. Und ich muss sagen, der Tell war angesichts meines Arbeitstages gut gewählt, wie ich dann, an der Bushaltestelle lesend, dachte. Eines Arbeitstages, der wieder einmal alles aufbot, um meine Stressresistenz zu testen: von den allseits beliebten Laubbläsern bis hin zu einem Kollegen, der zur Ankurbelung seiner kreativen Schübe einen Baseballschläger in die Firma gebracht hatte (seinen, wie er das Teil nennt „Denkschläger“), den er – wenn ihm nichts einfällt – in seine flache Hand schlug. Klatsch. Klatsch. Ein Geräusch, das meinen Puls schneller schlagen ließ. Der Gedanke, dass er seinen Denkschläger verkehrt anwendet und ich ihm gerne die richtige Anwendung gezeigt hätte, kam schnell. Heißt es doch, leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen… Ach ja, wie steht es im Tell: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Wahr, wie wahr. Auch wenn ich froh bin, friedlich geblieben zu sein. Meine vielen Kneipenjobs während des Studiums zahlen sich in punkto Stressresistenz aus. Ja: „Früh übt sich, was ein Meister werden will.“

Apropos: Unser Staubsauger ist kaputt. Also der Stecker. Gebrochen. Getreu dem Motto „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ fuhr ich mit dem Bus zum Baumarkt, um ein entsprechendes Ersatzteil zu besorgen, welches ich dann würde mit dem Kabelende verbinden können. Elektriker war keine meiner studentischen Beschäftigungen gewesen, aber das Internet weiß ja Rat. Und so wusste ich zumindest: Ein Eurostecker kann es wegen der Spannung, die bei einem Staubsauger anliegt, nicht werden. Ich also dem freundlichen Herrn mein Problem geschildert – und wurde von ihm zielsicher zum Eurostecker geführt. „Aber die sind nicht die Richtigen bei höherer Spannung“, sagte ich. Und er nahm die Verpackung in die Hand und las nach: „Stimmt!“ Dann führte er mich zu einem Regal mit vielen, sehr vielen unterschiedlichen Steckern – und begann jeden einzelnen herauszunehmen, um die Beschriftung zu studieren. Ich verließ den Baumarkt ohne Stecker, angesichts elektrischer Gefahren wollte ich durch diese hohle Gasse nicht kommen…. „Mach deine Rechnung mit dem Himmel…“ – lieber nicht.

Ja, vieles an Schillers Tell ist sprichwörtlich geworden, und die zentrale Frage „Wie weit darf im Namen der Freiheit gegangen werden?“ ist heute noch so aktuell wie vor 200 Jahren (wobei sich bei uns die Frage der Rechtfertigung des Tyrannenmordes hoffentlich nicht mehr stellen wird).

Kurz: Mir hat es Spaß gemacht, den Tell nochmals zu lesen, wegen seiner kraftvollen Sprache, weil er zum Nachdenken anregt – und die Wartezeit auf und die Fahrt im Bus somit enorm verkürzt.

Der Tell war Schillers letztes beendetes Drama (1804 beendet, er starb 1805). Längst war er zu etwas geworden, das man heute Großschriftsteller nennt, und doch hatte er sich, wie der Tell nochmals zeigt, viel von seiner politischen Bissigkeit bewahrt, die seine dramatischen Anfangszeiten auszeichnete (so brachte ihm sein erstes, 1781 anonym veröffentlichtes Drama „Die Räuber“ gleich eine Menge Ärger mit seinem Landesherren ein: 14 Tage Arrest, da Schiller ohne Erlaubnis zur Uraufführung gereist war, es ward ihm verboten Stücke zu schreiben, Schiller floh aus dem Land).

Auch darin, in seinem Lebenslauf, ist er aktuell, wie die Nachrichten von verfemten, verbotenen, verfolgten Schriftstellern aus anderen Winkeln der Welt leider zeigen. Wie steht es im Tell: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

 

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Ein alter Feind neu entdeckt. Die Saat, von Guillermo Del Toro und Chuck Hogan – Rezension

Die Saat, del Toro
Kennt Ihr das? Ihr lest ein Buch und findet plötzlich einen alten Bekannten wieder? Ich dachte schon, es gäbe ihn nicht mehr. Den bösen Vampir, den alten Feind der Menschheit. Ich dachte schon, diese Art des literarischen Blutsaugers wäre ausgestorben, ersetzt durch nette, sensible Vampire, sehr ansehnlich, gut gebaut, in der Sonne glitzernd, mit guten Umgangsformen.

Aber Pustekuchen. Es gibt sie noch, und was das Wiedersehen erfreulich macht: Sie sind wieder da, die Bezüge zum wirklich Beängstigenden. Unter der Oberfläche der von uns Menschen so fein eingerichteten Welt lauert etwas Mächtiges, was uns alle auslöschen kann. Der alte Hauch von Pestilenz. Der alte Gedanke, dass nur ein dünne Haut zwischen unserer zivilisierten Welt und dem Chaos liegt. Dass jeder von uns im Handumdrehen (und nicht durch eine gewollte romantische Handlung) das, was uns als Menschen ausmachte, verlieren kann. Der Vampir hatte immer etwas von einer Krankheit an sich. Und in „Die Saat“ wurde dieser Gedanke (man denke nur an die Blutbild-Bilder aus Coppolas Dracula) konsequent und in aller Grausamkeit durchgespielt.

Ein sehr spannendes Buch. Hart. Apokalyptisch. Aber nicht ohne Hoffnung. Sei wachsam, sei mitmenschlich, achte auf die Zeichen (und besorge dir richtigen Waffen!). Ein Buch für alle, die „The Stand“ von Stephen King mochten (gerade wenn sie bei allem Mögen sich des Eindrucks einer gewissen Langatmigkeit nicht erwehren konnten und sich ein wenig mehr Action gewünscht haben). Ein Buch für alle, denen es im Zwielicht zu wenig zwielichtig zuging.

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Mehr als Klischees… meine wissenschaftliche Baustelle: Topik. Eine Rezension

Lothar_Bornscheuer_Topik
Es gibt Menschen, über welche man auch im Zeitalter von Google und weltweiter Vernetzung nur wenig erfährt. Was von ihnen als Person bleibt, bleibt im Privaten. Wertvolle Erinnerungen, nur den Vertrauten anvertraut. Was von ihrem Denken bleibt, ist manchmal ein Werk.

Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/Main 1976 (Suhrkamp) von Lothar Bornscheuer

Lothar Bornscheuer war ein deutscher Literaturwissenschaftler, Hochschullehrer und Buchautor. Topik war eines seiner Hauptthemen, sein Buch von 1976 ist sein umfassendster und spannendster Beitrag zur Thematik „Topik“.

Was ist Topik?
Topik beschäftigt sich mit Topoi. Laut Wikipedia versteht man unter „einem Topos (Plural Topoi; altgr. τόπος topos „Ort“, „Gemeinplatz“; lat. locus communis) … einen Ort im übertragenen Sinn, aber auch eine Formkategorie. Im modernen Verständnis bedeutet Topos Gemeinplatz, stereotype Redewendung, vorgeprägtes Bild, Beispiel oder Motiv (z. B. navigatio vitae, das „Lebensschiff“)“.

Topik als die Lehre von den Topoi beschäftigt sich demnach mit dem Auftreten dieser Gemeinplätze, Motive, kurz Klischees, vor allem in Literatur und Kunst. Das ist richtig, aber auch falsch. Denn Topik, so wie sie Bornscheuer analysiert, geht es nicht allein um Klischees, sondern vielmehr um die Vorurteils-Struktur menschlicher Wahrnehmung und Produktivität (als Mensch, Künstler, Wissenschaftler). Topik ist diese Vorurteils-Struktur – und gleichzeitig ihre Kritik.

“Alle theoretischen und praktischen Produktivitäten unterliegen jeweils einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Charakteritik, der Bewegungsspielraum schöpferischer Ideen und ihrer Realisierungsmöglichkeiten in allen Bereichen einer bestimmten Kulturepoche (in ihrem Bildungssystem, ihren Wissenschaften, ihrer Technologie sowie in ihren ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Organisationsformen) ist durch eine jeweils epochencharakteristische Tiefenstruktur bestimmt. Diese Tiefenstruktur eines je bestimmten gesellschaftsgeschichtlichen Bildungshabitus könnte als eine der Bedeutungsschichten des Begriffs >Topik< verstanden werden” (Bornscheuer, Topik, S. 19-20). Bornscheuers Nachdenken über diese Tiefenstruktur trifft sich mit dem Denken von u.a. Michel Foucault. Es ist ein Denken, welches Vorurteils-Struktur und Freiheit nicht als Gegensatz vorstellt: Alle Produktivität, alles Nachdenken, alles Überzeugen, jede Lebensgestaltung, jedes Werk (ob nun Kunstwerk oder wissenschaftliches Werk) findet auf dem Boden der herrschenden Topik statt. Hier auf diesem Boden der Topik ergeben sich für den Menschen und Künstler aber auch Möglichkeiten der Freiheit. Kurz gesagt: Mit Bornscheuer Topik zu betreiben, bedeutet, nahe an Foucaults Auffassung von Philosophie zu sein als einer Denkhandlung, deren eigentlicher Sinn in der Veränderung eingeübter Denk-, Sprach- und Erfahrungsweisen besteht, „um damit ein freies und souveränes Selbstverhältnis zu ermöglichen [...]“ (Kögler, Hans Herbert: Michel Foucault, Stuttgart, Weimar 1994 (Sammlung Metzler), S. 4). Topik, so wie sie Bornscheuer analysiert hat, ist, um es Foucault zu sagen: „[...] eine Analyse der Zivilisationstatsachen, die unsere Kultur charakterisieren, definieren [...] eine Ethnologie der Kultur, der wir angehören“ (Foucault, Michel: Von der Subversion des Wissens, hrsg. u. aus d. Franz. u. Italien. übers. von Walter Seitter, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1974 (Ullstein, S. 13). Noch heute ein wichtiges Buch, vielleicht gerade heute ein wichtiges Buch. PS: Im Jahr 2004 wurde mir der wissenschaftliche Nachlass von Lothar Bornscheuer anvertraut. Die Universität Konstanz bot sich an, den Nachlass in Obhut zu nehmen und der wissenschaftlichen Arbeit zugänglich zu machen. Somit befindet sich der wissenschaftlicher Nachlass seitdem in der Universitätsbibliothek Konstanz. Er wurde im Rahmen des von Frau Prof. Almut Todorow betreuten Forschungsprojektes 52/97 gesichtet und für die Archivierung vorbereitet. Archiviert ist er in den Rara-Beständen der Universitätsbibliothek. Leider waren auch die Rara-Bestände der Konstanzer Universitätsbibliothek von der Asbestverseuchung betroffen, die im Herbst 2010 zur Schließung der Universitätsbibliothek Konstanz führten. Mittlerweile sind die Rara-Bestände und auch Bornscheuers Nachlass von Asbest gereinigt und können wieder wissenschaftlich genutzt werden. Facebook-Seite zu Bornscheuer

Cover_Topik_Boscher
Meine Zusammenfassung des Themas

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Obszön-religiöse Fresken – Clive Barker, Coldheart Canyon – Rezension

Barker_Coldheart
Kennt Ihr das… Ihr hört ein Musikstück und wisst: Diese Töne werden Euch nie wieder loswerden, den ersten Satz von Beethoven Fünfter, die ersten Takte von Dream Theaters „The Spirit Carries On“, Nightwishs „Ghost Love Score“… Ihr lest die ersten Seiten eines Buches und seid gefangen, nein mehr, Ihr wisst, diese Seiten werden Euch immer begleiten. Der Anfang von John Irvings Garp zum Beispiel. Anthony Burgess „Der Fürst der Phantome“. Und die ersten Kapitel von Clive Barkers „Coldheart Canyon“. Die Beschreibung dieser monumentalen, unheimlichen, von düsteren Kräften mit Energie aufgeladenen, obszön-religiösen Fresken. Nur der Anfang, ganz am Anfang von Barkers dickem Wälzer, aber Hallo! Das hat die Qualität seiner „Bücher des Blutes“, vor allem der Titel gebenden Geschichte. Ich bin beeindruckt.

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