Ein Sommer, der zu oft unter dem Zeichen „Patient 3. Klasse“ stand, ließ mich zu einem feinen, gemeinen Stück Literatur greifen, das sehr oft mit dem schwerfüßigen Attribut „Klassiker“ belegt wird (Klassiker = schwer = angestaubt).
Aber da hier auch nach über 300 Jahren nichts angestaubt ist, wusste ich, dass mir die Lektüre ein Lächeln in Gesicht zaubern wird.
Die Wahrheit, heißt es, sei das Gute und Schöne. Die Wahrheit ist: Es ist gut und schön, wenn es einem gelingt, in einer Welt, die weder gut noch schön ist, ein lächelndes Herz zu behalten.
Ein Patient 1. Klasse – „Der eingebildete Kranke“ von Molière, eine Rezension
Der Vorhang geht auf und ohne Umschweife ist der Zuschauer (und der Leser) mittendrin in der wahnhaften Welt des Herrn Argan, einer Welt, deren Lauf nicht durch den Fluss der Zeit, die Wanderung der Gestirne oder durch den Wechsel von Tag und Nacht bestimmt wird, sondern durch das Fließen der Einläufe und Tinkturen und des Geldes an Ärzte. Argan ist ein Hypochonder wie er im Buche steht, für die Ärzte, die ihm das Geld aus der Tasche ziehen, ist er ein Patient 1. Klasse. Seine Vernarrtheit in Krankheit geht sogar soweit, dass er seine Tochter nur an einen Arzt oder einen Apotheker verheiraten will. Herr Argan leidet, und das ist gut so, ist ihm das Gefühl des Leides doch so vertraut wie die Klistierspritze im Körper. Ein Tag ohne Darmreinigung… – undenkbar.
Le malade imaginaire – Der eingebildete Kranke ist das letzte von Molière geschriebene und inszenierte Stück. Eine Hypochonderkomödie mit reichlich Wortwitz rund um geldgierige Ärzte, Ehestiftung, eine Erbschleicherin und ein mit allen Wassern gewaschenes Dienstmädchen.
Mit scheinbar lockerer Hand gelingt Molière eine zugleich amüsante wie hintergründige Kritik an der Medizin und der Ärzteschaft seiner Zeit, eine Kritik, die, insofern sie Standesdünkel und Arroganz gegenüber den Patienten betrifft, sehr aktuell ist. Die Medizinerschelte ist ein Thema, das sich über viele Jahre hinweg durch Molières Schaffen zieht und welches in Der eingebildete Kranke seinen gestalterischen Höhepunkt findet.
Molières Kritik an der Medizin ist durchaus persönlich motiviert: er ist davon überzeugt, dass er die schwere Krankheit, die er von Dezember 1665 bis Januar 1666 durchlitt (und deren misslungene Behandlung durch die Ärzte dann tatsächlich zu der anhaltend angeschlagenen Gesundheit Molières führte) und die ihn zur zeitweiligen Schließung seines Theaters zwang, nicht wegen, sondern trotz der Ärzte überlebt habe. Ein Gedanke, der im Stück auftaucht, wenn Béralde über seinen Bruders Argan sagt, dass jener bislang nur wegen seiner guten Gesundheit die Ärzte überlebt habe.
Die Ärzteschaft in Molières Zeit und die von ihr praktizierten Heilmethoden sind der Antike auf eine Weise verpflichtet, die an blinde Abhängigkeit grenzt, es gelten nicht Beobachtungen, nicht Erfahrungen, sondern allein die überkommene Lehrmeinung der Alten. Dreh- und Angelpunkt der Medizin ist die antike Lehre von den Temperamenten und Körpersäften, die besagt, dass Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit im Körper der Menschen in einem bestimmten Verhältnis vorhanden sein müssen. Krankheit ist Ungleichgewicht der Säfte, die Ärzte suchen es wiederherzustellen, indem sie erhitzen, erfrischen, befeuchten oder austrocknen. Zwei beliebte Mittel dazu sind Aderlass und das Verabreichen von Klistieren. Was vor Hunderten von Jahren laut den Alten gut gewesen ist, muss auch noch heute gut sein… Molière selbst steht auf der Seite des Fortschritts, im Gegensatz zu der offiziellen Medizin seiner Zeit ignoriert er nicht die Entdeckungen auf dem Gebiet der Medizin, etwa die Entdeckung des Blutkreislaufes im Jahr 1619 durch den Engländer Harvey.
Die große Kunst des Molière ist es nun, seine Kritik nicht einfach zu formulieren und z.B. einer Figur monologisch belehrend in den Mund zu legen, sondern sie ungezwungen in das komische Geschehen rund um den Hypochonder Argan und seine Familie einzuflechten.
Molière gibt die Ärzteschaft der Lächerlichkeit preis, in dem er sich selbst lächerlich machende Ärzte auf die Bühne stellt. Ein Paradebeispiel ist der frisch von der Universität kommende, angehende Mediziner Thomas Diafoirus, dessen Abhängigkeit von überkommenden Meinungen Molière in den grandiosen Szenen, die der Vorstellung dieses von Argan gewünschten Schwiegersohns dienen, dadurch augenfällig macht, dass Thomas nur vorher auswendig Gelerntes von sich gibt: höfliche, steife, immer wieder mit lateinischen Wendungen versehene Galantarien, die dann auch noch den Adressaten verfehlen, weil er Argans Ehefrau für Angélique hält. Thomas ist also nicht auf der Höhe der Zeit und einen Blick für Menschen hat dieser angehende Arzt auch nicht: hält er es doch für eine gute Idee seiner Auserwählten als erstes Date eine Sektion vorzuschlagen.
Nicht weniger lächerlich als Thomas sind auch sein Vater Dr. Diafoirus und sein Onkel Dr. Purgon, etwa wenn sie sich gelehrten Diskursen ergehen und Herr Argan in seinem Wahn all diese gegensätzlichen Diagnosen und gegensätzlichen Therapien für der Weisheit letzter Schluss hält, nur weil er es kaum erwarten kann, ein neues Medikament auszuprobieren oder wieder ein Klistier verordnet zu bekommen. Die Glaubwürdigkeit der Ärzte bekommt ihren Todesstoß, als es nach allerhand mit der Komik der Konfusion spielenden Szenen (z.B. der Entlarvung der Erbschleicherin) dem Dienstmädchen Toinette und Argans Bruder gelingt, Herrn Argan einmal von einem Einlauf abzuhalten. Sogleich fühlt sich der verordnenden Arzt Dr. Purgon in seiner Autorität gekränkt. Und weil diese Kränkung der Autorität – wie Molière suggeriert – das Schlimmste ist, was einem Arzt passieren kann, geht Dr. Purgon auch gleich in die Vollen und malt seinem störrischen Patienten in bunten Farben seinen nahen, jetzt nicht mehr abzuwendenden, qualvollen Tod aus – nicht ohne daraufhin zu weisen, dass Herr Argan vor dem Eintritt seines selbstverschuldeten Dahinscheidens noch den verschmähten Einlauf zu bezahlen habe, schließlich sei er schon vorbereitet gewesen…
Der eingebildete Kranke wurde am 10. Februar 1673 mit großem Erfolg uraufgeführt. Molière selbst spielte die Hauptfigur Argan, seine Frau Armande die Rolle der Angélique. Er war damals bereits schwer an der Lunge erkrankt, und im Verlauf der vierten Vorstellung am 17. Februar 1673 (auf den Tag ein Jahr zuvor war Madeleine gestorben) erlitt er einen Schwächeanfall. Im sicheren Bewusstsein des nahen Todes bat Molière um die Sterbesakramente. Weil die Schauspielerei aber zur damaligen Zeit als unehrenhaft und als Teufelszeug galt (Schauspieler – und auch Zuschauer – zu exkommunizieren war gängige Praxis) lehnten zwei Priester Molières Bitte ab. Erst ein dritter Priester erklärte sich bereit, Molière die Letzte Ölung zu geben: er kam zu spät. Im Kostüm des Argan starb Molière ohne Segen der Kirche. Es heißt, erst durch das Eingreifen des Königs konnte er christlich beerdigt werden. Allerdings halten sich seit damals hartnäckig die Gerüchte, dass Molière sterbliche Überreste auf Betreiben der Kirche bald nach der Bestattung ausgegraben und in den für ungetaufte Kinder reservierten Teil des Friedhofs verlegt wurden.
Diagnose: Ein feines, gemeines Stück Medizin-Literatur, dass auch nach über 300 Jahren nicht angestaubt ist, da dieser Klassiker leichtfüßig, ebenso humorvoll wie giftig, mitten hinein – auch in die moderne – Seele greift. Mit scheinbar lockerer Hand gelingt Molière eine zugleich amüsante wie hintergründige Kritik an der Medizin und der Ärzteschaft seiner Zeit, eine Kritik, die, insofern sie Standesdünkel und Arroganz gegenüber den Patienten betrifft, sehr aktuell ist.
Zum Autor:
Molière wurde am 15. Januar 1622 als Sohn eines Tapezierermeisters in Paris geboren und auf den Namen Jean-Baptiste Poquelin getauft (den Künstlernamen Molière nahm er 1644 an). Er stammte aus einer wohlhabenden Familie des aufstrebenden Bürgertum. 1643 gründete er, zusammen mit der Schauspielerin Madeleine Béjart, die seine Geliebte, Freundin und Vertraute wurde, eine Schauspielgruppe. Molière war Komödienschreiber, Regisseur und Schauspieler in Personalunion. Aufgrund von Geldnöten war die Schauspielgruppe gezwungen nach drei Jahren Paris zu verlassen, erst nach zwölf Jahren in der Provinz kehrten sie 1658 nach Paris zurück. Es begann die erfolgreiche Zeit, denn Molière gelang es mit seinen Komödien die Gunst von König Ludwig XIV, des Sonnenkönigs, zu gewinnen, der Molière – wenigstens eine Zeitlang – gegen alle Anfeindungen (vor allem von der Kirche) in Schutz nahm. Da die Einnahmen der Schauspieltruppe pro Kopf ausgezahlt wurden und Molière in seiner dreifachen Funktion als Autor, Regisseur und Schauspieler einen dreifachen Anteil einstreichen konnte, war er bald ein wohlhabender Mann. 1662 heiratete Molière Armande, von der es gerüchteweise hieß, sie sei die Tochter seiner langjährigen Geliebten Madeleine, vielleicht sogar seine eigene Tochter. Vieles spricht aber dafür, dass Armande und Madeleine Schwestern gewesen sind. Nach langer Krankheit verstarb Molière am 17. Februar 1673.
Quelle zu Hintergrundinformationen: Jürgen Grimm, Molière, Stuttgart/Weimar (Verlag J.B. Metzler), 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2002 (ISBN 3-476-12212-3)
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