Archiv der Kategorie: Boschers Streiflichter

Was mir so in den Sinn kommt und mitteilenswert erscheint.

Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB…

»Jung«, sagte er, »solange du dir noch die Eier kratzen kannst, hat dich der Tod noch nicht am Sack! Das Leben geht weiter, wenn nur du weitergehst.« (aus: „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“).

Hodenkrebs_Erfahrungen
Was ihm auf den Sack ging…

So eine Diagnose wie Hodenkrebs ist ja per schon etwas, dass einem an die Nieren geht, was ihm aber wirklich auf den Sack ging, war, dass er ab dem Morgen des Tages, an dem er unter das Messer des Chirurgen kommen sollte, anscheinend von ihn betreffenden Informationen abgeschnitten war.

Stundenlang wartete mein alter Freund im Flügelhemdchen auf die OP – ohne dass sich jemand bemüßigt sah, ihm mitzuteilen, dass sich die OP verzögert. Er hätte gerne vor der OP dem Chirurgen die Hand geschüttelt und von diesem gehört, was er denn – wenn die Vollnarkose wirkt – mit ihm zu tun gedenke (nur um sicherzugehen, dass der Chirurg richtig informiert ist und sich nicht anderweitig betätigt). Den Chirurg sah er nicht – nicht vor, nicht nach der OP. Bis zur Visite am nächsten Morgen konnte ihm niemand so recht Auskunft über den OP-Verlauf und -Erfolg geben. Auch nach der Computertomografie am Tag nach der OP befand er sich in einem toten Informationswinkel. Beinahe 24 Stunden musste er auf die erlösende Nachricht warten, dass keine Metastasen gefunden wurden. Mehr dazu dort… Hier nur noch das dazu: Wenn es nicht in diesem Stil weitergegangen wäre, wäre das wohl alles Schnee von gestern. Schwamm drüber. Jedes Krankenhaus hat mal einen schlechten Tag. Oder derer drei. Aber was im Krankenhaus begann, setzte sich leider fort. Mit dem Schnitt des Chirurgen war das Thema „Hodenkrebs“ nicht beendet. Und nicht beendet war leider auch der communication breakdown.

Alles fit im Schritt?

Mein alter Freund ist eigentlich ein lustiges Kerlchen, und so gab er sich bei jedem Telefonat (und jeder E-Mail – und das sicherlich nicht nur mir gegenüber) Mühe, auch die spaßigen Momente hervorzuheben, die seine Diagnose mit sich brachte.

„Da drücken sie mir einen Einwegrasierer in die Hand. Vom Bauchnabel abwärts bis runter zu den Oberschenkeln sollte ich mich rasieren – tolle Übung ohne Übung. Oh Gott, wo setze ich den ersten Schnitt. Und wie. Und wenn meine Hand zittert? Sah mich schon dem Chirurgen seine Arbeit abnehmen…“

Am zweiten Tag nach der OP verließ er das Krankenhaus. Großartige Untersuchungen gab es keine mehr. Pflegerisch fühlte er sich genau unterversorgt wie von Informationen abgeschnitten (große Ausnahme: Nachtschwester Bea*). Also nichts wie weg. Seine Temperatur kontrollieren konnte er auch daheim. An dieser Stelle seiner Erzählung brachte er dann oben angeführtes Zitat aus meinem zweiten Roman „Abschied“, was mich natürlich freute. Zitiert zu werden ist was Feines. „Ich musste einfach weitergehen. Dort zu liegen, ohne dass medizinisch überhaupt was passierte, schlug mir doch was aufs Gemüt. So hübsch war es da auch nicht.
Krankenhaus_Fruehstück
Und dann das Essen… Das Frühstück so üppig, dass mich die anschließende Verdauungsarbeit müde zurück ins Bett trieb.

Das Mittagessen so kreativ, dass ich vor lauter kulinarischer Überraschung auf dem Essensplan nachsehen musste, was sie mir da kredenzt haben (und nein, das Bild zeigt keinen Reibekuchen oder Verwandtes). Krankenhaus_Mittagessen

Wie heißt es doch so schön: Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König, Abendessen… Soll ich Dir noch ein Bilder vom Abendessen schicken?

Das Essen wurde eigentlich nur vom Fernseher getoppt. Krankenhaus_FernseherUnd das während der WM! Ne, ich musste weg. Weitergehen…“

Lachend fügte er noch hinzu: „Denn ich bin zwar nur noch ein Halbgemächtling, aber zum Glück hängt es ja nicht daran, wie viel Cojones man hat – denke nur an den Halbing Bilbo. Nicht kaputt zu kriegen!“

Seine Operationswunde verheilte gut. „Brennt nur noch manchmal.“ Die Naht sah von Tag zu Tag besser aus. „Und jucken tut sie mittlerweile.“ Es zwickte und zwackte meinen Freund zwar noch in der Leiste, wo der Chirurg den Schnitt gesetzt hatte, um an seinen linken Hoden heranzukommen. Der Bereich um die Wunde war druckempfindlich, und wenn er zu lange gesessen hatte oder er sich unvorsichtig bewegte, tat ihm die linke Leistengegend auch weh. Aber von Schmerzen konnte keine Rede mehr sein.

War der Chirurg auch kommunikativ nur ein Sechserkandidat gewesen, mit dem Skalpell hatte er zwischen den Schenkeln meines Freundes nach aktuellem Stand der Dinge 1A-Arbeit geleistet. Es war nach der OP keine Drainage notwendig gewesen. Die Körpersäfte hatten sich nicht an dieser für die Schwerkraft anziehenden Stelle gesammelt. Übermäßig geschwollen war nichts gewesen. Wie sich die Semikastration (auch so einer schöner Fachbegriff) auf den Hormonhaushalt meines Freundes auswirken würde, würde sich zeigen. Die Prognosen waren gut. Der andere Hoden würde die Arbeit für den verlorenen Bruder übernehmen, hieß es, Testosterongaben würden nicht notwendig werden (wenn denn der Krebs sich auch noch den zweiten Hoden holt, aber dafür gäbe es – wie das Ultraschall eindeutig zeige – keine Anzeichen). Somit wäre er immer noch zeugungsfähig – was mein Freund gut fand. Nicht weil er noch Kinder wollte, das nicht. Aber – so erklärte er: „Das schöne alte Wort ‚Gemächt‘ kommt nicht umsonst von ‚Machen‘, also übertragen ‚Kinder machen‘, und wurde nicht umsonst auch im Sinne von ‚Macht, mächtig sein‘ gebraucht werden – also Potenz. Und das würde mich ja schon sehr treffen. Wenn es dort einen Einschnitt gegeben hätte. Aber das sieht bisher nicht so aus. Apropos ‚Aussehen‘: Mein Spiegelbild hat sich, obwohl ich auf ein Hodenimplantat, so ein Silikonei, verzichtet habe, nicht großartig geändert. Finde ich natürlich fein!“ Mein Freund hoffte zu diesem Zeitpunkt noch: OP gut, alles gut! Weiter geht’s im Text… „Sag mir bitte, wenn wir telefonieren,“, meinte er, „wenn ich plötzlich höher spreche.“ Und es war klar, dass er dies scherzhaft meinte.

Gut 14 Tage nach der OP ging mein Freund wieder zur Arbeit. Neben seinem preußischen Pflichtgefühl wird auch dieses „Weiter geht’s im Text… Alles normal!“, eine Rolle gespielt haben. Zwar konnte er noch nicht über die volle Distanz eines Arbeitstages gehen. Aber sein Arbeitgeber war froh, ihn wenigstens einen Teil des Tages an seinem Platz zu wissen und ließ ihm freie Hand bei der Gestaltung seiner Arbeitszeit. Und von Tag zu Tag ging es besser. Mit dem Sitzen. Mit seiner allgemeinen körperlichen Verfassung. Hatte er sich in der ersten Arbeitswoche nach der Arbeit noch für mindestens drei Stunden hinlegen müssen, weil ihn der Tag so angestrengt hatte, gab es gegen Ende der zweiten Arbeitswoche bereits Tage, an denen es ihn nicht mehr sofort, wenn er nach Hause kam, in die Horizontale zog. Sein Leben schien sich zu normalisieren. Der Alltag schien in wieder zu haben… „Alles fit ihm Schritt?“, fragte ein Arbeitskollege (mein Freund hatte über die Semikastration kein Feigenblatt gelegt) auf erfrischend unbetroffene, gleichwohl eine ehrliche Antwort erwartende Weise. „Im Schritt alles fit!“, antwortete mein alter Freund, der zwischenzeitlich den histologischen Befund erhalten hatte, „Aber leider ist das nur die halbe Miete.“

In den Schoß fällt einem das nicht…

Mit der OP war leider weder der Krebs noch der communication breakdown erledigt.

Eine Woche nach der OP hat er den histologischen Befund erhalten. Für einen medizinischen Laien doch ein schwer zu verdauendes Stück terminologischer Dichtheit. Leider weilte sein Urologe im Urlaub (was er erst erfuhr, als er Rat suchend in der Praxis anrief), und der Vertretungsurologe war nicht wirklich in der Lage, die terminologische Dichtheit des Befundes in allgemein verständlich Informationen umzuwandeln. Mal ganz abgesehen davon, dass er mit sich selbst uneins war, wie der Befund interpretiert werden sollte („Ist alles ok, mit OP Krebs besiegt, oder vielleicht auch nicht, vielleicht doch noch Chemo, lieber einen anderen fragen…“). Mein Freund schwebte also in einer gewissen Unsicherheit, was die Natur seines Tumors anging, Klar war zu diesem Zeitpunkt nur: Es war ein Tumor. Klar war nur: Mein Freund hatte das dringende Bedürfnis, über seinen Tumor aufgeklärt zu werden.

Leider scheint es so, dass solche Aufklärung einem nicht in den Schoß fällt. Das ist Arbeit. Es gilt zu telefonieren, zu recherchieren, wieder zu telefonieren, Termine abzustimmen, bei diesen Terminen geistig so fit zu sein, um die richtigen Fragen zu stellen, die Antworten zu verstehen…

pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 So lautete die Quintessenz des Befundes. Eine Quintessenz, die wir dann aufgrund unserer Internetrecherchen diskutierten – aber was sind solche Recherchen schon wert? Ohne einen Fachmann, der hilft, diese Informationen einzuordnen. Der die puren Informationen mit seinen Erfahrungen abgleicht, um über einen Sachverhalt wirklich aufzuklären.

Glücklicherweise war der Hausarzt meines Freundes, auch wenn er in dem speziellen Fall eines pT-blabla-Tumors über keine Erfahrung verfügte, ein Mensch, der sich kümmert. So telefonierte dieser mit dem Klinikum. Erfuhr, dass am Tage seines Anrufes (etwas, das meinem Freund niemand gesagt hatte) ein Tumorboard stattfinden würde, in dem der Fall seines Patienten verhandelt werden würde. Er würde morgen ein Fax erhalten…
Es dauerte noch vier Tage (und mehrere Telefonate aus der Praxis seines Hausarztes), bis das Fax mit dem Protokoll des Tumorboardes endlich greifbar war, am 16. Tag nach der OP. Ein Protokoll, das im Diagnoseteil den histopathologischen Befund hinsichtlich der Einordnung des Tumors ins TNM-System wie folgt ergänzte: pT2 cN0 cM0 L1, R0. Ein Protokoll (Details s.u. Anhang 1), das ein klinisches Stadium 1B diagnostizierte und mit dem Therapievorschlag endete: „(2 Zyklen PEB) versus engmaschige Surveillance“.

Und da hatte mein Freund den Salat.

Chemo oder nicht? Aufgrund welcher Informationen sollte er das denn entscheiden? Eine Chemo ist schließlich nicht ohne (sowohl was die Nebenwirkungen als auch die zeitliche Ausdehnung der Therapie angeht, siehe unten Anhang). Woher die Kompetenz nehmen, diese für sein Leben so wichtige Frage richtig zu beantworten? Gibt es überhaupt eine richtige Antwort? Wird nicht erst das weitere Leben erweisen, ob er richtig entschieden hat?

Mein Freund ist ja eigentlich ein lustiges Kerlchen. Aber diese Entscheidung vor die er sich gestellt sah, schlug ihm doch aufs Gemüt. Er hatte das Gefühl, sich in kurzer Zeit zum Spezialisten für Hodenkrebs fortbilden zu müssen. Er hatte gelesen, 3 bis 4 Wochen nach der OP sollte – wenn denn nötig – mit einer Chemotherapie begonnen werden. Die Zeit drängte also…

Glücklicherweise hatte er, gleich nachdem er aus der Klinik entlassen worden war, gedrängt durch das Bedürfnis mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt (sein niedergelassener Urologe war ja noch im Urlaub), eine Privatsprechstunde mit dem Chef der urologischen Abteilung vereinbart, die ihn im Krankenhaus umsorgt hatte. Kein Gütekriterium. Aber der Chef, der leider zur Zeit des Klinikaufenthaltes im Urlaub gewesen war, hatte einen sehr guten Ruf. Das bestätigten mehr als 2 Quellen. Und so traf also mein Freund den Chef, und der war glücklicherweise aus ähnlichem Holz gemacht wie sein Hausarzt. Ein Kerl, dem seine Patienten am Herzen liegen. Das war sein Eindruck. Sein Eindruck jedenfalls, nachdem er zu ihm vorgelassen wurde. Denn zunächst wurde mein Freund von einem anderen Arzt untersucht. Hodensack abtasten. Ultraschall. Mal nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Wahr es. Fein. „Und kommt der Chef gleich noch dazu?“, „Äh, nein, wollten sie ihn sprechen?“

Einem Patienten fällt wirklich nicht in den Schoß, was er sich wünscht. Da muss einer schon auf seine Bedürfnisse pochen. Und das tat mein Freund. Und siehe da, die Tür ward ihm aufgetan. Eine Woche nach dem Erhalt des Tumorboardbescheides, am 22. Tag nach der OP, saß er endlich jemanden gegenüber, der fähig und willens war, ihn über seinen Tumor aufzuklären.

Chemo oder keine Chemo, das ist hier die Frage

pT2 cN0 cM0 L1, R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 hieß laut dem Chefarzt der urologischen Abteilung: Niedrig-Risiko-Non-Seminom, gute Prognosegruppe. Mein Freund hätte zwar von allen Hodentumoren die aggressivste Form (embryonales Karzinom) und der Tumor hätte auch schon eine gewisse Größe (pT2) erreicht und es läge zudem eine Infiltration der Rete Testis vor, aber dieses Non-Seminom (zu dieser Tumorart gehöre ein embryonales Karzinom) sei früh erkannt worden. Deswegen hätte das Tumorboard den Tumor in die Klasse 1B eingeordnet. Zwar sei im CT ein kontrollbedürftiger Lymphknoten medial der linken V. illiaca externa erkannt worden, aber aufgrund seiner Größe (9 x 13mm) könne dieser sich auch als normal erweisen (selbst wenn Lymphknoten über 1 cm als bedenklich eingestuft werden).

Bezüglich des Risikofaktors „Vaskuläre Invasion“ hätte er noch einmal mit dem Pathologen telefoniert. Der Pathologe sei sich hier nicht sicher gewesen, die Invasion sei in einem Grenzbereich angesiedelt, es sei nicht klar, ob eine Invasion vorliege, da er aber – wenn geschehen – eine Lymphgefäßinvasion für wahrscheinlicher als eine Blutgefäßinvasion halte, wäre L1 klassifiziert worden. Aber der Pathologie würde sich das Präparat noch einmal ansehen und sich melden. Diese Rückmeldung stehe noch aus. Aber er – der Chefarzt – gehe davon aus, dass sich bezüglich der Einordnung „Niedrig-Risiko-Karzinom / gute Prognosegruppe“ keine Änderung ergeben würde.

So weit, so gut (wenigstens im ersten Moment). Die Art und Weise, wie der Arzt meinem Freund im persönlichen Gespräch begegnete, besänftigte seine Enttäuschung über mangelnde Kommunikation und Information, die er nach seiner OP empfunden hatte. Und was würde er ihm nun raten, wie zu entscheiden sei? 2 Zyklen PEB Chemotherapie oder engmaschige Surveillance? Das könne er nicht sagen, dass sei eine Frage der eigenen Persönlichkeit.

Und da war der Moment, in dem es meinem Freund gut ging, auch schon vorbei. War das eine Antwort, die man hören wollte? Ich kann Ihnen hier nicht sagen, was sie tun sollten… Jäh war der Moment des Gefühls der kommikativen Umhegtheit verloren. Der Pathologe ist sich nicht sicher… Was sollte das denn nun bedeuten?

Mein Freund war, gelinde gesagt, frustriert. Was natürlich auf gewisse Weise paradox war: Auf der einen Seite misstraute er nach den Erfahrungen kurz vor, nach und ein bissel nach der OP ärztlicher Autorität, auf der anderen Seite spürte er die Sehnsucht, sich vertrauensvoll einer solchen Autorität anschließen zu können. Das ist dein Tumor, also tue jetzt das! Und er hätte sich sehr gerne, ohne Zweifel, der Autorität des Chefarztes angeschlossen.

Hodenkrebs sei auf jeden Fall heilbar, in über 90% aller Fälle, sagte der Chefarzt (wie schon der niedergelassene Urologe, sein Hausarzt, die Urologen der Voruntersuchungen…). Grundsätzlich wäre es ja schon einmal positiv, dass überhaupt eine Entscheidung anstehe. Wäre der Tumor nicht so früh erkannt worden, dann wäre klar, dass eine 4 Zyklen Chemotherapie folgen müsse, vielleicht sogar zusätzlich noch eine weitere OP, um Lymphknoten zu entfernen (Lymphknotenresektion). So aber hätte mein Freund die Wahl zwischen adjuvanter 2 Zyklen PEB oder engmaschiger Surveillance. Und diese Wahl sei, wie gesagt, eine Frage der Persönlichkeit. Genauer: Eine Frage, wie man aufgrund seiner persönlichen Konstitution mit statistischen Werten umgeht.

„Toll!“, meinte mein Freund zu mir, „Wie heißt es doch immer, glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast… Und überhaupt: Ich war weder ein Kerl mit Azoospermie (keine Spermien im Sperma nachweisbar), noch einer mit Hodenhochstand, noch gibt es eine genetische Disposition, da ich der erste in meiner Familie bin. Außerdem liege ich mit meinem Alter fast außerhalb der Kerngruppe der Hodenkrebspatienten. Also soll mir einer was von Statistik erzählen…!“

Der Chefarzt sagte: 30% aller Krebspatienten mit diesem Befund entwickeln Rezidive (also Folgetumore, Metastasen), von diesen 30% sind es 80%, die im ersten Jahr Metastasen bekommen. Bei einer Chemotherapie würde das Risiko auf ca. 3% gesenkt werden. Umgekehrt würde dies bedeuten: 70% der Hodenkrebspatienten mit seinem Befund bräuchten keine Chemo, da bei ihnen die OP ausreichte.

Der Chefarzt sagte: Die meisten Patienten würden in einem ähnlichen Fall die adjuvante Chemotherapie wählen, weil sie das Gefühl nicht aushalten würden, dass in ihnen noch Krebs lauern könnte, dass ihre Erkrankung eine tickenden Zeitbombe wäre. Sie würden sich der 2 Zyklen PEB Chemotherapie unterziehen, um das Risiko eines Rezidivs auf ca. 3% zu senken. 2 Zyklen PEB seien übrigens bei den meisten Patienten nicht so schlimm, gut auszuhalten (zum zeitlichen Aufwand und den Nebenwirkungen einer PEB Chemo vgl. unten den Anhang). Wähle man hingegen nicht die adjuvante 2 Zyklen PEB und gehöre schließlich zu den 30% (oder laut Urologielehrbuch: 14-22%), so dass sich erneut ein Tumor bildet, sich Metastasen zeigen, so seien 4 Zyklen PEB angesagt, und die seien die „Hölle“. Wähle man die adjuvante 2 Zyklen PEB und gehöre man dann zu den 3% (oder laut Urologielehrbuch: 3-5%), so würden natürlich auch 4 Zyklen PEB verabreicht, was dann ebenso die „Hölle“ sei. Aber egal wie sich mein Freund entscheide, Hodenkrebs sei in über 90% aller Fälle heilbar. Der Weg sei nur unterschiedlich schwer….

30 zu 70 – so lautete also die statistische Entscheidungsgrundlage. Die spätere Internetrecherche ergab, dass das Tumorzentrum Bonn auf die gleichen Zahlen kam. Im Urologielehrbuch steht: Beim Nichtseminom Stadium I low risk ohne Chemotherapie sei das Rezidivgefahr mit 14–22% relativ hoch. Bei einer Chemotherapie sinke dieses auf 3-5%.

Eigentlich eine klare Kiste. Wenn nicht mein Freund diese mittlerweile tiefsitzende Unsicherheit gespürt hätte, dass immer noch nicht erschöpfend geklärt ist, um was für einen Tumor es sich handelt, der bei ihm gewachsen ist. Mögen auch 4 Zyklen PEB die Hölle sein, so muss man sich gleichwohl, wenn es noch Unklarheiten bei der Diagnose gibt, nicht in die Vorhölle begeben.

Ein Königreich für Klarheit

Gott verdammt, was heißt jetzt dieses L1? Ist das nun eine vaskuläre Invasion oder nicht? Dies scheint mir doch der Kasus Knacksus zu sein. Wenn ich den Chefarzt richtig verstanden habe, ist es keine, jedenfalls keine, die ernst zu nehmen sei. Sonst würde ja seine Einordnung Niedrig-Risiko-Karzinom auch nicht stimmen. Aber vielleicht täuscht er sich ja auch? Vielleicht bin ich ja doch einer mit Klinischem Stadium 1 und hohem Risiko. So einer von denen, die in den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft als Patienten mit vaskulärer Invasion (high risk, pT2) beschrieben werden. pT2 bin ich ja schließlich auch.“

Mein Freund hatte diese Internetrecherchen im Augen (kursive Hervorhebungen je von mir):

  • Die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft (F2 Hodentumoren, hier das pdf: Hodenkrebs_Leitlinien) geben die Empfehlung, dass Nicht-Seminome im klinischen Stadium I wie folgt therapiert werden sollen: Patienten mit low risk Tumor pT1 werden überwacht und im Rezidivfall chemotherapiert. Patienten mit „vaskulärer Invasion“ (high risk, pT2) werden mit zwei Zyklen PEB adjuvant chemotherapiert.

  • Das Urologielehrbuch sagt Folgendes: Bei Niedrigrisiko Nichtseminom Stadium I besteht die Standardtherapie in der engmaschigen Überwachung (watchful waiting), da das niedrige Risiko der Progression keine Therapie mit Nebenwirkungen akzeptabel macht. Nachteilig sind der psychische Stress der initialen Nichttherapie, ungefähr 20 % der Patienten benötigen 3 Zyklen PEB bei Progress. Eine engmaschige Überwachung ist keine gute Option bei Patienten mit großer Tumorangst, hohem Therapiewunsch oder schlechter Compliance. In dieser Situation sollte eine adjuvante Chemotherapie mit einem Zyklus PEB empfohlen werden. Aber: „Die Gefäßinvasion im Orchiektomiepräparat ist ein entscheidender Risikofaktor für die Progression des nichtseminomatösen Keimzelltumors (Nichtseminom) Stadium I.“ Ist eine solche festzustellen, dann reicht engmaschige Überwachung als Therapie nicht aus.

  • Das Tumorzentrum Bonn fasst zusammen, dass bei Nicht-Seminomen im klinischen Stadium I zwar in dem operativ entfernten Hoden ein Tumor gefunden wurde, aber keine Metastasen festgestellt werden konnten. Aus Erfahrung wissen die Ärzte jedoch, dass in 30 Prozent der Fälle klinisch okkulte, nicht nachweisbare Metastasen in den Lymphbahnen versteckt sind. Hier bieten sich drei Therapieoptionen an: Vorsorglich könne 1. durch eine modifizierte oder nervenerhaltende Lymphadenektomie die Lymphknoten entlang der Metastasenstraße entfernt oder 2. eine adjuvante Chemotherapie durchgeführt werden, 3. sei eine abwartende und beobachtende Strategie („wait and see“) möglich. Die Behandlungsverfahren 1 und 2 sind mit Nebenwirkungen verbunden. Zudem kann man dagegen einwenden, dass es sich bei den 70 Prozent, die gar keine verborgenen Metastasen haben, um unnötige Therapien handelt. Hier also eine abwartende und beobachtende Strategie sinnvoll gewesen wäre. Leider weiß man aber vor der Therapie nicht, ob dieser spezielle Patient zu diesen 70 Prozent gehört. Ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidungshilfe ob 1, 2 oder 3 sei der Nachweis, ob der Primärtumor bereits in die Blut- und Lymphgefäße des Hodens hineingewachsen ist, denn das weist auf ein hohes Metastasierungsrisiko hin. In diesem Fall sei von einer abwartenden Strategie abzuraten.

Chemotherapie oder engmaschige Surveillance? Mein Freund will, um sich zu entscheiden, alle Informationen auf dem Tisch haben. Es muss doch möglich sein, dass bezüglich seines Tumors alle Unklarheiten aus dem Weg geräumt werden.

„Wenn L1 wirklich L1 ist, dann bleibt mir keine Wahl – Chemo ich komme. Dann ist der Tumor bereits auf den Weg zu neuen Gefilden und dann werd ich ihm diesen Weg mit Zytostatika zubomben – und hoffen, dass die Kollateralschäden nicht allzu arg sind. Aber wenn nicht…“

Leider drängt die Zeit, um das zu entscheiden. Wie gesagt, es hieß, mein Freund hätte ein Zeitfenster von 3 bis 4 Wochen nach der OP, dann sollte mit der Chemo begonnen werden – wenn er sich denn für sie entschiede. Das wäre quasi jetzt.

Und was würden Sie tun, wenn sie einen solchen Tumor hätten? Mein Freund stellte dem Chefarzt diese Frage per E-Mail. Eine Frage, auf die er erst kam, nachdem sein Hausarzt sich enttäuscht von der Entweder-Oder-Haltung des Chefarztes zeigte. Der Chefarzt rief daraufhin an. „Schwer zu sagen. Die meisten Patienten, die die adjuvante Chemotherapie gewählt hätten, würden später sagen, sie würden wieder so entscheiden. Viele Patienten, die sich für das Abwarten entschieden hätten, würden dies später bereuen. Die meisten, weil sie sich – obwohl der Krebs bislang nicht wieder ausgebrochen ist – dennoch wie eine tickende Zeitbombe fühlen. Manche, bei denen der Krebs ausgebrochen ist, weil sie sich die 4 Zyklen Chemotherapie gerne erspart hätten. Aber wenn sie mich auf eine Antwort festnageln wollen, dann würde ich die 2 PEB wählen. Vielleicht.“

Morgen, gut einen Monat nach der OP, hat mein alter Freund endlich den ersten Termin bei seinem Urologen, der ihn ins Krankenhaus überwiesen hat und der für die Nachsorge und Weiterbehandlung zuständig ist. Mit ihm hatte er, weil jener im Urlaub weilte, noch gar nicht sprechen können.

  • Wie lautet das abschließende Urteil des Pathologen bezüglich L1? Vaskuläre Invasion oder nicht, das ist die Frage.

  • Was sagt das Zweitmeinungsprojekts der Deutschen Hodentumor Studiengruppe (GTCSG) zu seinem Fall?

  • Und wenn Chemo: Reicht nicht auch 1 Zyklus PEB (vgl. oben Urologielehrbuch)?

Das sind die Fragen, deren Klärung sich mein Freund von seinem Urologen erhofft, um endlich eine Entscheidung treffen zu können, mit der er leben kann.

„Weißt du“, sagte er mir heute zum Abschied am Telefon, „Egal ob ich mich für eine Chemo oder für active surveillance entscheide – vermutlich wird in Zukunft der Gedanke mein steter Begleiter, dass vielleicht just in diesem Moment etwas in mir wächst – selbst wenn ich mich gut fühle und nichts davon spüre. Das wird eine Herausforderung werden, dem Krebs nicht zu viel Macht über mein Leben einräumen. Ihn ernst, aber nicht zu wichtig zu nehmen. Wie hast du geschrieben: “Kein Mensch – Hodenkarzinom links”. Pustekuchen Mann! Mensch!“

  Nichts ist gewonnen, alles ist dahin, Stehn wir am Ziel mit unzufriednem Sinn.“

(Macbeth, 3. Akt, 2. Szene, William Shakespeare)

 

Interessante Quellen:

www.urologielehrbuch: Hodentumore
Tumorzentrum Bonn: Hodenkrebs
Deutsches Krebsforschungszentrum: TNM-System und Staging. Befunde verstehen und einordnen
Forum Hodenkrebs Österreich: Tumorklassifikation bei Hodenkrebs
Zweitmeinungsprojekt der Deutschen Hodentumor Studiengruppe: Zweitmeinung Hodentumor

Ratgeber der Krebshilfe als pdf: Blauer_Ratgeber_Hodenkrebs_Krebshilfe
Die Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft (F2 Hodentumoren) als pdf: Hodenkrebs_Leitlinien)


 

Anhang 1 – die Diagnose im Detail:

 

Diagnose des Hodenkarzinoms laut Tumorkonferenz:

  • Pluriformes nicht-seminomatöses Hodencarzinom links, prädominierendes embryonales Carcinom mit kleinen Seminomanteilen, Infiltration der Rete Testis
  • pT2 cN0 cM0 L1, R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3
  • Klinisches Stadium 1B
  • Kontrollbedürftiger Lymphknoten medial der linken V. Illiaca
  • Tumormarker Dokumentation (vor der OP): AFP 4,8 ng/ml, Beta-HCG 7,6mlU/ml, LDH 204 U/L

 

TNM-Klassifikation, Aufschlüsselung (laut Internetrecherche):

T = Tumorausdehnung (vorangestelltes p = pathologisches Stadium)

N = Lymphknotenmetastasen (vorangestelltes c = clinical stadium)

M = Fernmetastasen

L = Befall des Lymphgefäßsystem

R = Resttumorgewebe

V = Einbruch in die Venen

Quelle http://www.hodentumor.at/TNM.html

 

ICD-O 9070/3 = Embryonales Karzinom

ICD0 9061/3= Seminom

Quelle: WHO, International Agency for Research on Cancer, International Classification of Diseases for Oncology, ICD-O-3 online, hier: Morphological Codes (2011)

 

Anhang 2: PEB Chemotherapie – Ablauf und Nebenwirkungen

Zum Ablauf einer PEB Chemotherapie und den zu erwartenden Nebenwirkungen hat die Urologische Universitätsklinik Mannheim (hier wurde mein Freund übrigens nicht operiert) eine informative Patienteninformation herausgegeben (Quelle und pdf hier…):

„Patienteninformation zur Chemotherapie bei Hodentumoren nach dem PEB-Schema

Sehr geehrter Patient,

wegen eines Hodentumors soll bei Ihnen eine Chemotherapie durchgeführt werden. Die Chemotherapie ist Dank der intensiven klinischen Forschungen der letzten Jahrzehnte eine standardisierte und höchst erfolgreiche Behandlung geworden und garantiert in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung. Aufgrund Ihres Erkrankungsstadiums führen wir die Chemotherapie mit drei Medikamenten durch. Zum einen handelt es sich um das Medikament Cisplatin (P), zum zweiten um das Medikament Etoposit (E) und zum dritten um das Medikament Bleomycin (B). Die Abfolge der Medikamentengabe richtet sich nach
einem strengen Schema, welches wir Ihnen separat zu dieser Information aushändigen werden. Sie können also jederzeit mitverfolgen, welches Medikament Ihnen zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge verabreicht wird.

Neben der Chemotherapie werden Ihnen zusätzlich Medikamente verabreicht, die eventuell auftretende Übelkeit und Erbrechen weitgehend verhindern. Da die Chemotherapie die Bildung von Blutzellen im Knochenmark unterdrückt, ist es erforderlich, dass wir und auch zwischenzeitlich Ihr Hausarzt/Urologe in regelmäßigen Abständen Ihre Blutwerte kontrollieren. Vor allem zu wenige weiße Blutkörperchen
können zu zu einer Anfälligkeit für Infektionen führen. Tritt Fieber auf, müssen deshalb sofort stark wirksame Antibiotika gegeben werden. Niedrige Blutplättchen können zu einer beeinträchtigten Blutstillung bei Verletzungen führen. Die Übertragung von Blut oder Blutplättchen ist jedoch nur in Ausnahmefällen notwendig. Andere Nebenwirkungen wie eine Verschlechterung des Hörvermögens, Gefühlsstörungen in den Händen und Füßen, Geschmacksstörungen, Hautveränderungen sowie eine Beeinträchtigung der Lungenfunktion können in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten. Deshalb ist es
notwendig, vor jedem Therapiezyklus die Funktion dieser Organe zu überprüfen, so werden Sie beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt zur Überprüfung des Hörvermögens, beim Augenarzt zur Kontrolle des Augenhintergrundes und beim Internisten zur Kontrolle der Lungenfunktion vorgestellt.

Eine weitere Folge der Chemotherapie ist eine Qualitätsverschlechterung der Spermien, und somit eventuell eine Einschränkung Kinder zu zeugen. Allerdings ist eine dauerhafte Schädigung oder gar ein Versiegen der Spermienproduktion selten. Nach der Chemotherapie erholt sich die Spermienproduktion rasch. Wir empfehlen Ihnen jedoch, vor dem Therapiezyklus eine Kryokonservierung (Tiefkühlung) Ihrer Spermien durchzuführen.

Für die Dauer der Behandlung und für einige Wochen nach der Behandlung können die Kopfhaare komplett ausfallen, was für Sie besonders unangenehm sein kann. Zu Ihrer Beruhigung können wir Ihnen sagen, dass die Haare nach Abschluss der Behandlung wieder nachwachsen.

Der grundsätzliche Ablauf der Chemotherapie bei Ihrer Erkrankung ist wie folgt:

Die Behandlung gliedert sich in mehrere Zyklen, wobei ein Zyklus eine Dauer von insgesamt 21 Tagen hat. Abhängig vom Erkrankungsstadium werden bei Ihnen einer, zwei, drei oder vier Zyklen durchgeführt. Diese Zyklen sind in der Verabreichung der Medikamente und Begleitmedikamente identisch. Jeder Zyklus beginnt am Tag 1. An den Tagen 1 bis 5 wird Ihnen eine festgesetzte (siehe Medikamentenplan) Anzahl von Medikamenten während der stationären Behandlung verabreicht. Die Gabe der Medikamente wird an den Tagen 1 bis 5 über einen zentral venös eingelegten Katheter
durchgeführt, da diese Medikamente aggressiv für die kleineren Venenwände (wie sie an den Armen vorkommen) sind. Die Einlage dieses Katheters wird von unseren Narkoseärzten durchgeführt. Hierüber werden Sie gesondert aufgeklärt.

Nach den Tagen 1-5, werden Sie aus unserer stationären Behandlung entlassen, sofern Sie keine körperlichen Beschwerden, wie z.B. Fieber oder stärkere Übelkeit und Erbrechen, haben. Am Tag 8 des Zyklus werden Sie wieder stationär aufgenommen zur Durchführung einer Chemotherapie über eine Armvene. An den Tagen 9 bis 14 findet keine Behandlung statt, Sie können diese Tage daher in der Regel zu Hause verbringen. Am Tag 15 findet die identische Verabreichung der Medikamente statt, wie am Tag 8. Am Ende dieses Tages können Sie unser Krankenhaus verlassen. Der Zyklus endet regulär am Tag 21. Am Tag 22 beginnt ein neuer Zyklus mit der Behandlung im Krankenhaus für 5 Tage. Wie bereits oben erwähnt, wird vor jedem Zyklus eine Kontrolle wichtiger Organfunktionen durchgeführt, wie z.B. die Kontrolle des Hörvermögens, des Sehvermögens und der Lungenfunktion. Dazu werden Sie bei den entsprechenden Fachärzten vorgestellt. Während der Behandlungszyklen, auch an Tagen, an denen keine Chemotherapie appliziert wird, ist eine regelmäßige Blutbildkontrolle erforderlich. Dank der Entwicklung neuer und sehr wirksamer Medikamente ist diese Chemotherapie, die Ihr Krebsleiden heilen kann, gut verträglich. Die häufigsten Nebenwirkungen, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Appetittlosigkeit, Blutveränderungen, Haarausfall und die oben bereits genannten verschwinden nach Abschluß der Therapie. […]“

© Urologische Universitätsklinik Mannheim

Weitere Informationen:

Urologielehrbuch „PEB-Chemotherapie mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin“

Broschüre des Tumorzentrum Bonn „Hodenkrebs“, Abschnitt „Chemotherapie“

 


 

*Fußnote Nachtschwester Bea:

Bei all seiner Kritik am Krankenhauspersonal, an den Ärzten, die nicht mit ihm kommunizierten, den Pflegekräften, die z.B. nach der OP versäumten, die Vitalzeichen regelmäßig zu kontrollieren, die es mit der Händedesinfektion nicht so genau nahmen: Auf Nachtschwester Bea ließ er nichts kommen. Wie viele Patienten sie wohl in der Nacht zu betreuen hatte? In der Nacht nach der OP, als er nach schlaflosem Herumwälzen plötzlich Schüttelfrost bekommen hatte, war sie, nachdem er geklingelt hatte, nur wenige Minuten später gleich bei ihm. Nach einer zweiten Decke hatte er wegen seines Schüttelfrostes und seines Frierens gefragt. Die hatte sie ihm gebracht – und dann bei seinem Klagen über Schüttelfrost geschaltet. Fieber gemessen, rektal, weil genauer. Schließlich ist die Info, ob nach einer OP Fieber auftritt, nicht unerheblich**. Mehrmals war sie in dieser Nacht noch in sein Zimmer gekommen, hatte sich bei ihm, der nicht schlafen konnte, nach seinem Befinden erkundet. Hatte noch einmal Fieber gemessen.

Krankenhaus_Bett
Apropos messen: „Sie sind doch ein langer Kerl!“ In dieser Nacht, der zweiten, die er im Krankenhaus verbrachte, zog sie sein Bett auf eine seiner Körpergröße angemessene Länge aus und füllte die entstandene Lücke mit einem passenden Matratzenteil. Zuvor hatte er, wenn er das Kopfteil des Bettes hochfuhr, seine Beine anwinkeln oder seine Füße auf das Fußteil des Bettes legen müssen, um Platz zu finden. Er dachte, das wäre normal. Ginge nicht anders bei den Betten. Nachtschwester Bea wusste es besser. Nett und kompetent.

**Am Morgen drückte ihm die Tagesschwester ein elektronisches Fieberthermometer ins Ohr, dieses zeigte Normaltemperatur an. Als er erwähnte, dass in der Nacht rektal zweimal fast 38,5 Grad gemessen worden waren und vielleicht das im Ohrmessen nicht so aussagekräftig ist, holte die Schwester ein gewöhnliches digitales Thermometer und einige Plastiküberzieher aus dem Schrank: Er könne ja zwischendurch mal rektal messen…

 


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus

Patient 3. Klasse?
Bevor ich hier wiedergebe, was mir mein alter Freund aufgewühlt am Telefon schilderte, möchte ich betonen: Folgende Ausführungen sind sicherlich ungerecht, zudem völlig subjektiv und einseitig in ihrer Schilderung. Ein Einzelfall gesehen durch die Brille persönlicher Betroffenheit. Nicht die Regel also. Sicherlich nicht.

Bin ich zu empfindlich?

„Also bin ich zu empfindlich, oder was? Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Die können mich doch nicht einfach dort liegen lassen. Stundenlang in diesem dämlichen Flügelhemdchen. Ohne einen Schluck zu trinken, vor allem ohne Nachricht, dass sich die Operation verzögert, ohne von sich aus wenigstens einmal einen Blick in mein Zimmer zu werfen, um zu schauen, wie geht es denn dem Herrn in den vielleicht letzten Stunden mit all seinen Familienjuwelen.

Ich sage Dir, das ging mir auf den Sack. Die OP war auf 10 Uhr terminiert. Mich weckten sie um 7 Uhr, schickten mich zum Duschen. Anschließend Kompressionsstrümpfe und Flügelhemdchen überziehen. Habe dann noch ein wenig geschlafen. Wachte um halb 10 auf. Es wurde 10. Halb 11. Niemand kam. 11 Uhr. 12 Uhr. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass sie mich vergessen haben. Da klingelte ich dann doch einmal nach einer Pflegekraft. Die auch prompt kam. Das muss ich gerechterweise sagen. Ließ sich von sich aus auch nur selten jemand blicken, auf die Klingel wurde immer prompt reagiert. Und freundlich und hilfsbereit waren die Pflegenden dann auch immer. Aber wer will schon einer dieser lästigen Patienten sein, die immer klingeln?

Zudem: kann man nicht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erwarten? Jemand hätte doch auf den Gedanken kommen können, dass in Zimmer Soundso ein Mensch liegt, der eine OP vor sich hat, eine Vollnarkose, und vielleicht sogar eine einschneidende Veränderung in seinem Leben. Auf die Idee kommen, dass dieser Mensch wenn nicht ängstlich, so doch nervös ist. Dass hier ein wenig pflegerische Zuwendung jenseits von Temperaturmessen, Spritzensetzen, Bettmachen angebracht wäre? Auf mein Klingeln hin kam dann Auszubildender Andi (Pflegeschüler im dritten Jahr) und teilte mir auf Nachfrage mit, dass eine andere Operation dazwischen geschoben werden musste. Was ja auch kein Problem ist. Nur hätte ich das gerne eher gewusst. Dann hätte ich mich nicht so wie bestellt und nicht abgeholt gefühlt. Vor allem weil Auszubildender Andi nicht den Eindruck machte, dass diese Information für das Personal auf Station neu war.

Aber warum sollte auch jemand auf die Idee kommen, diese Information gegenüber demjenigen zu kommunizieren, der hier eigentlich schon seit 2 Stunden unter dem Messer gelegen haben sollte? Und überhaupt, die Kommunikation! Sag mir, bin ich zu empfindlich?“

Nein, versicherte ich meinem alten Freund, Du bist nicht zu empfindlich. Außerdem fand ich, dass er bei der Diagnose und weil eine Operation, egal welcher Art, immer gewisse Risiken trägt, alles Recht gehabt hätte, empfindlich zu sein. Aber er hatte, ohne noch einmal zu klingeln, bis um 13.30 Uhr ausgeharrt, als sie ihn endlich zur OP holten.

Krebs. Eine schreckliche Diagnose. Ein Schock. Aber dann doch nicht ganz so schlimm, wie mein alter Freund meinte. Denn: Hodenkrebs. Gut heilbar, wie die Doctores versicherten. Puh. Glück im Unglück gehabt. Doch dann sackte das Wort tiefer in sein Bewusstsein. Sackte an die Stelle seiner selbst, an der das ganze feine Gespinst an Gedanken, Bildern, Erinnerungen, Vorurteilen, Hoffnungen, Ängsten, Leidenschaften zusammenlief, die in ihrer Summe das Selbstbewusstsein ausmachen. Hodenkrebs. Oh Mann! Ein Schock.

Kommunikation – nicht Krebs – das war jetzt einige Tage nach der OP das Thema meines Freundes. Vielleicht schob er dieses sich aufgrund seiner Erfahrungen anbietende Thema vor das Schreckgespenst „Krebs“, vielleicht war er auch einfach froh, sich an einem anderen Thema als der Diagnose und ihren Konsequenzen abarbeiten zu können. Vielleicht nutzte er auch nur sinnvoll die Wartezeit auf den histologischen Befund mit berechtigter Kritik an dem Teil des Gesundheitssystem, mit dem er in Berührung gekommen war.

Wie auch immer. Ich konnte seine Kritik nachvollziehen, ja nachfühlen. Auch ich hatte mich vor nicht allzu langer Zeit einer Operation unterziehen müssen. Ein Daumenbruch, der unter Plexus-Narkose gerichtet und verschraubt werden musste. Also nicht vergleichbar mit seiner OP. Aber gleichwohl hatte auch ich in einem Vorbereitungsraum gelegen. Während um mich herum letzte Vorbereitungen getroffen wurden, dämmerte ich aufgrund des oral gegebenen Beruhigungsmittels bereits weg. Plötzlich schob sich aus der Geschäftigkeit um mich durch den Sedativnebel hindurch ein Wort, das ich im Vorfeld der OP bereits an mehreren Stellen unter der Rubrik „Allergie“ zu Protokoll gegeben hatte: Penicillin. Ich hatte es beim Orthopäden in meiner Heimatstadt gesagt und es war notiert worden. In der handchirurgischen Praxis, in die ich überwiesen worden war, wurde meine Penicillin-Allergie in den Unterlagen vermerkt. Beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus, wo die Handchirurgen OP-Zeiten gemietet hatten, hatte ich es ebenso wie gegenüber dem Narkosearzt gesagt, bei dem ich im Vorfeld der OP vorstellig wurde. Zudem war auf Station von einer Krankenschwester in mein Patientenstammblatt eingetragen worden, dass ich auf Penicillin sehr allergisch reagiere. Gleichwohl hörte ich in meinem präoperativen Dämmerzustand, dass die eine OP-Schwester die andere bat, schon einmal das Penicillin für die OP vorzubereiten. Kaum mehr Herr meiner Sinne, geschweige denn meiner Stimme, die nach 3 Promille Alkohol im Blut klang, konnte ich gerade noch Widerspruch einlegen. „Oh.“, meinte die eine der beiden OP-Schwestern nur, „Dann bereiten wir ein anderes Antibiotikum für die OP vor.“

Oh ja, die Kommunikation

Oh ja, die Kommunikation – ich kann verstehen, warum mein alter Freund so sauer war, dass diese sich in seinem Fall als so mangelhaft herausstellte. Ich teile zwar nicht seine Angst davor, dass vor einer OP Patienten verwechselt werden oder versehentlich an falschen Stellen operiert wird. Aber ich fand es ebenfalls bedenklich, dass der Urologe im Krankenhaus teilweise die Schrift seines Kollegen, der die Voruntersuchung gemacht hatte, nicht lesen konnte. „Was steht da?“ „Patient konnte sich noch nicht für oder gegen Prothese entscheiden.“, half mein alter Freund dem Krankenhausurologen die Schrift zu entziffern. „Ah ha, und möchten sie jetzt im Fall einer Orchidektomie eine Silikon-Prothese erhalten?“, fragte dieser dann, und kritzelte das Nein meines Freundes in einer ähnlich unleserlichen Schrift neben den fraglichen Satz.

„Warum eigentlich alles handschriftlich?“, fragte mein Freund mich. Sicherlich wird alles in der EDV erfasst, wandte ich ein, wobei ich dies ehrlich gesagt nicht wusste. „Meinst Du? Ich habe niemanden bei allen Vor- und Aufnahmegesprächen etwas in einen Rechner eingeben sehen. Diverse Bögen mit vielen Fragen, die entweder von einer Krankenschwester oder einem Arzt oder von mir handschriftlich ausgefüllt wurden – und das nicht immer leserlich. Aber wie auch immer, jedenfalls hätte ich vor der OP gerne noch den Chirurgen gesprochen und von ihm gehört, was er mit mir zu tun gedenkt.“ Ich dachte an meine Penicillin-Erfahrung und musste ihm in gewissem Umfang Recht geben, was seine Befürchtungen anging. Man hört ja auch so viel. Und auch wenn so vieles, von dem man hört, nicht wahr ist, könnte vor einer OP dennoch auf eventuell vorhandene Ängste eingegangen werden.

Mein Freund sah den Chirurgen nicht, nicht vor und nicht nach der OP. Ich versuchte, ihn zu beruhigen: Vielleicht bist du ja aufgrund des Sedativs weggedämmert, bevor der Chirurg mit dir sprechen konnte, oder du erinnerst dich nicht daran.

„Pah, weggedämmert! Patient 3. Klasse, das ist es, sag ich dir!“, fauchte mein Freund wütend ins Telefon hinein. „Es ist genauso, wie es die Schwester beim Aufnahmegespräch im Krankenhaus vor sich hingemurmelt hatte. Sie blickte auf meine Unterlagen, stellte fest: Sie sind bei der AOK. Dann fragte sie: Irgendwelche Zusatzversicherungen? Als ich verneinte, murmelte sie, während sie den entsprechenden Eintrag machte, vor sich hin: Ah, 3. Klasse. Und deswegen ließ sich der Chirurg auch nicht blicken!“

Patient 3. Klasse?

Patient 3. Klasse? Das ist vielleicht ein wenig zu hart gesagt. Aber hinsichtlich der Kommunikation hat sich das Krankenhaus-Team ihm gegenüber jedenfalls nicht mit Ruhm bekleckert.

Es ist nicht korrekt, dass niemand vom Operationsteam nach der OP mit meinem Freund sprach, nachdem er aus der Narkose erwacht war. Die Pflegekräfte im Aufwachraum sagten, sie könnten nichts sagen, weil sie bei der OP nicht dabei waren. Auf Station konnte man nichts sagen, weil sie noch keine Informationen hatten. So lag mein Freund also da, nicht wissend, wie die OP gelaufen war, ob es Komplikationen gegeben hatte, und vor allem: Hatten sie ihm den – hoffentlich linken – Hoden jetzt entfernen müssen? (es fühlte sich so an, aber wirklich sicher war er sich nicht). Und hatten sie die Biopsie des rechten Hodens vergessen (fühlte er unter seinen Fingern an besagter Stelle doch kein Pflaster, keine kleine Wunde). Nein, er erhielt zunächst keine Antworten. Die erhielt er erst am folgenden Tag bei der Visite.

„Das gleiche Trauerspiel beim CT!“, erboste sich mein Freund. „Am Tag nach der OP um 11 Uhr das CT, am Tag danach bequemen sich die Herrn Doctores dann, mir den Befund mitzuteilen.“

Nun gut, dass er beinahe 24 Stunden darauf warten musste, dass ihm jemand definitiv sagte, dass sie beim CT keine Metastasen gefunden hatten, ist verständlich. Der Radiologe muss Zeit finden, einen Bericht zu diktieren, der muss in der Schreibstube aufs Papier gebracht werden. Dieser abgeschriebene Bericht muss vom zuständigen Radiologen freigegeben werden… Das kann schon mal dauern… Dass es dauern kann, hat meinem Freund allerdings niemand gesagt hatte, der angesichts des für ihn folgenschweren Befundes mit baldiger Nachricht rechnete. Somit kann ich seine Wut auf das Krankenhaus verstehen, das Gefühl, dort als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Das Gefühl, dass niemand es für nötig hielt, ihn als mündigen Menschen zu behandeln.

Sicherlich war dies nicht so. Dieser Eindruck hatte sich bei ihm am OP-Tag verfestigt und durch diese Brille sah er dann alles weitere. Das eine oder andere Gespräch mit Freunden wird auch Eindruck gemacht haben. Wie, nach der OP kam nicht alle halbe Stunde eine Pflegekraft und hat Blutdruck und Temperatur gemessen? Das ist nicht korrekt! (denn alle halbe Stunde in den ersten 2 Stunden nach der Rückkehr auf Station müssen die Vitalzeichen kontrolliert werden, danach stündlich). Ich aber kann mir vorstellen, dass er die Stunden nach der OP erschöpft vor sich hingedämmert hat, so dass ihm entging, dass regelmäßig eine Pflegekraft bei ihm die Vitalzeichen checkte. Möglich ist das. Und somit ist seine Aussage, dass bei ihm erst gegen Abend, rund 4 Stunden nach der OP, wie üblich Temperatur und Blutdruck gemessen wurden, nicht auf die Goldwaage zu legen.

Zumal er sein allgemein negatives Votum selbst dahingehend abschwächte, dass Auszubildender Andi sehr bemüht gewesen sei und es auch verstanden habe, ihn mit seinen Scherzen zum Lächeln zu bringen (allerdings hätte er es mit der Händedesinfektion nicht so genau genommen). Zudem hätte sich der Urologe, der die Voruntersuchung durchgeführt hatte, für ihn viel Zeit genommen, um ihm die Diagnose und die Konsequenzen zu erklären. Auch der Urologe, der ihn bei der Aufnahme im Krankenhaus noch einmal untersucht hatte, sei sehr freundlich gewesen. Waren auch beide nicht mit einer leserlichen Handschrift gesegnet (aber vielleicht gehört das zum Berufsstand „Arzt“ auch dazu, dass man unleserlich zu schreiben hat, wenn ich mich da an manche ausgestellten Rezepte erinnere…), so gaben sich beide alle Mühe, ihm seine Situation verständlich zu machen und ihn zu beruhigen. Hodenkrebs sei sehr gut heilbar, sagten sie. Gute Chancen… Über 90% Zwar sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man seinen linken Hoden entfernen müsse. Aber das sei der erste Schritt zur Heilung. Und die geringe Menge im Blut gefundener Tumormarker deute daraufhin, dass der Tumor begrenzt und der rechte Hoden nicht befallen sei. Somit würde der gesunde Hoden für zwei arbeiten, kein Problem, für sein Mannsein würde sich somit nichts ändern. Testosteron würde er in diesem wahrscheinlichen Fall als orale Hormongabe nicht benötigen.

Falls man (ein „man“, das so unbestimmt bleiben sollte, weil mein Freund bis heute nicht den Namen des Chirurgen weiß) den linken Hoden entfernen müsse (das entscheidet der Chirurg während der OP durch bloße Begutachtung und seine Erfahrung) müsse man natürlich die histologische Untersuchung des befallenen Hodens abwarten. Denn für das weitere Vorgehen, ob zum Beispiel eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie notwendig sei, sei die Art des Tumors entscheidend. Zudem würde eine Biopsie des recht Hodens durchgeführt werden, heißt, durch einen kleinen Schnitt wird eine winzige Menge Gewebe entnommen, um sicherzustellen, dass der rechte Hoden karzinomfrei ist. Aber wie gesagt, sagten beide Urologen: Gut heilbar. Gute Chancen… Viel Glück!

Eine Biopsie war bei meinem Freund nicht gemacht worden. Macht man nicht mehr nach neuen Richtlinien, erklärte der Oberarzt ihm am Tag nach der OP bei der Visite, ohne eigentlich etwas zu erklären. Warum macht man das nicht mehr? Aus welchem Grund wurde die Richtlinie geändert? Was bedeutet dies hinsichtlich der Frage, ob der rechte Hoden gesund ist? Fragen über Fragen, mit denen sie meinen Freund alleine ließen.

Kein Mensch – Hodenkarzinom links

Fragen, die zu weiteren Fragen führten: Warum sagten die Urologen bei der Voruntersuchung und bei der Aufnahme übereinstimmend, dass eine Biopsie durchgeführt werden würde? Waren sie freundlich, kommunikativ, vertrauenerweckend, aber nicht auf dem neuesten Stand der Dinge? Gar inkompetent? Was ist dann von ihrer Einschätzung zu halten, dass Hodenkrebs gut heilbar sei? Kurz: Mein Freund war bis ins Mark verunsichert.

Die beiden genannten Urologen waren ihm kompetent erschienen. Wären sie es nicht, dann wären sie sicherlich auch nicht mit so wichtigen Aufgabe wie Voruntersuchung und Aufnahme betraut gewesen. Oder täuschte er sich in der Wichtigkeit dieser Aufgaben? Waren sie in Wahrheit nur kleine, unbedeutende Rädchen im medizinischen Arbeitsprozess, auf die hinsichtlich einer erfolgreichen Behandlung der Patienten verzichtet werden könnte? War ihre Funktion, die sie mit Gesprächsbereitschaft und Freundlichkeit ausfüllten, vielleicht nur eine Art Zugeständnis an den Wunsch der Patienten als Mensch gesehen zu werden?

Sind Freundlichkeit und Kommunikationswilligkeit vielleicht nur ein Deckmäntelchen für Inkompetenz?

Ja, kann es sein, dass ein gewisses Maß an Unfreundlichkeit, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass nicht mit, sondern über den Menschen im Bett gesprochen wird, und ein gerüttelt Maß an Widerwillen zur Kommunikation mit dem Patienten, ein Widerwillen, der sich in einer abgehakten, von Fremdwörtern strotzenden, nur Fachleuten zugänglichen Aussagesatzsprache äußert, Zeichen von Kompetenz sind? Weil Ärzte nur dann im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten sind, wenn sie mit dem Patienten lediglich als Fall und nicht als Mensch zu tun haben? Weil Ärzte gewissermaßen eines Teiles ihrer medizinischen Kraft beraubt werden, wenn sie sich auf Menschensprache einlassen, wenn sie gezwungen sind, sich Laien verständlich zu machen. Weil die wirklichen Koryphäen auf ihrem Gebiet wahrhaft nur noch mit ihresgleichen kommunizieren können?

Somit wäre die Klinik kein Ort der Kommunikation zwischen Menschen, darf kein Ort der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch sein, weil sie ein Ort der Koryphäen ist. Das Bedürfnis meines Freundes, zu erfahren, was passiert ist, erklärt zu bekommen, was passiert, wäre demnach kontraproduktiv. Eigentlich ein Missverständnis. Liegt diesem Bedürfnis doch der Gedanke zugrunde, dass er ein kranker Mensch sei. Wohingegen er doch nichts weiter als ein Hodenkarzinom links ist. Jedenfalls sein sollte, um den Fachleuten die Kommunikation zu ersparen, die sie nur von ihren Aufgaben ablenkt und sie auf das Niveau des Allzumenschlichen hinabzieht. Dieses Missverständnis zu durchschauen, hieße, sich fraglos in die Hände der Fachleute zu überantworten und zu verstehen, dass Unfreundlichkeit und das Fehlen von Kommunikation keine Anzeichen von schlechter Pflege und Betreuung sind, sondern Zeichen des notwendigen Abstandes der Experten von ihren Fällen, um im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten objektiv das Richtige zu tun. Gottvertrauen ist gefragt!

Sähe mein Freund dies ein, so würde sich das schäbige Gefühl verlieren, als Patient 3. Klasse behandelt worden zu sein. Er würde nicht mehr darauf pochen, von den Ärzten als Mensch behandelt zu werden. Hodenkarzinom links. Mehr würde er in medizinischen Zusammenhängen nicht mehr sein wollen. Für menschliche Bedürfnisse gibt es schließlich die Familie, psychologische Beratungseinrichtungen, Seelsorger – oder Freunde wie mich.

Gott bewahre!

Und so erwarte ich jetzt jeden Moment den Anruf meines alten Freundes, der dann hoffentlich Gewissheit hat, welcher Art der Krebs war, der eine Operation notwendig gemacht hatte, weil nun endlich der histologische Befund vorliegt, dessen Ausfertigung sich etwas verzögert hat, wie mein Freund nach einigen Telefonaten herausfand. Warum?, dies konnte ihm niemand sagen. Wann es denn soweit sei, ließ sich nicht voraussagen.

Sicherlich hätte sein Urologe an seinem Heimatort diese Telefonate für ihn geführt, bei seinen Kollegen auf den Busch geklopft, um die Verfassung des wichtigen Befundes zu beschleunigen, oder wenigstens mündlich wichtige Anhaltspunkte für die anstehenden nächsten Schritte zu erhalten. Denn sollte aufgrund der Krebsart – Gott bewahre! Ein eher unwahrscheinliches, aber dennoch realistisches Szenario – eine Chemotherapie notwendig sein, so würde hier schnell gehandelt werden müssen. Aber sein Urologe vor Ort war für zwei Wochen in den wohlverdienten Urlaub gefahren, was leider versäumt worden war, meinem Freund vor seinem Klinikaufenthalt mitzuteilen. An einen Termin bei dem ihn vertretenden Arzt war schwer heranzukommen. Erst war der Anschluss der Praxis ständig besetzt, dann…

Aber schließlich hat es doch geklappt. Mein Freund hat dann noch per Telefon dafür gesorgt, dass der Vertretungsarzt alle Unterlagen erhält („Na, hoffentlich klappt das!“, meinte mein Freund vor einigen Tagen mit müder Stimme). Heute ist dieser Termin. Er war schon vor einigen Stunden. Ich bin schon ganz kribbelig. Nun gut, vielleicht musste mein Freund lange warten, vielleicht – ah, endlich. Das Telefon klingelt.

pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3

„Ich bin einfach nur müde.“, meinte mein alter Freund am Telefon, „Ich hoffte so sehr, zu erfahren, was genau für ein Karzinom sie aus mir herausgeschnitten haben. Ich mein, diese Information ist doch wichtig, oder? Vor allem wollte ich wissen: Hat die OP dem Krebs den Garaus gemacht oder sind weitere Schritte angesagt?“

Den histologischen Befund hatte er am Morgen vor seinem Termin beim Urologen erhalten. Das Krankenhaus hatte den Brief des Pathologen per Post an meinen Freund geschickt. Was ihn, wie er einräumte, positiv überraschte, hatte er doch nach seinen Erfahrungen mit dem Krankenhaus nicht damit gerechnet, von dort noch etwas zu hören. Allerdings lag dem Befund kein Brief bei, der etwa eine Art Übersetzung der Pathologensprache oder eine Empfehlungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens enthalten hätte. Aber nun gut, die uro-onkologische Nachsorge sollte ja auch – wie es in dem vom Krankenhaus zur Entlassung meines Freundes ausgestellten Arztbrief stand – durch den Urologen an seinem Heimatort erfolgen („Entlassung des Patienten … in Ihre geschätzte Weiterbehandlung nach Hause“). Der bzw. seine Urlaubsvertretung würde ihm dem Befund schon erklären können, hoffte mein Freund, der den Befund auf dem Weg zum Vertretungsurologen las, aber nicht verstand.

Auch der Vertretungsurologe hatte den Befund erhalten (noch ein Pluspunkt fürs Krankenhaus, das hatte also geklappt), aber er hatte diesen ebenso wenig wie den Arztbrief des Krankenhauses gelesen. Er überflog beide im Beisein meines Freundes.

„Ja, das sieht doch gut aus!“, meinte er nach Durchsicht des Arztbriefes, „OP gut verlaufen, CT ohne Befund, keine Metastasen.“ Der Urologe blätterte die zwei Seiten des histologischen Befundes hin und her, „Ich würde sagen, der Krebs ist weg!“ Mein Freund atmete auf. „Also war es das für mich. OP und gut.“ Der Urologe blätterte nochmals die zwei Seiten des histologischen Befundes hin und her. „Ja!“, antwortete er.

Mein Freund wollte aber dennoch etwas mehr über den Befund erfahren, über dieses Ding, das an empfindlicher Stelle bei ihm gewuchert war und das eine „Semikastration“, wie es im Befund stand, notwendig gemacht hatte. Was ist ein embryonales Karzinom?, fragte er also. Das ist ein embryonales Karzinom, antwortete der Mediziner.

„Also bin ich zu empfindlich, oder was?“, rief mein alter Freund erbost ins Telefon hinein, „Weil ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Was sollte ich jetzt noch von seiner Prognose halten, dass der Krebs weg ist?“

Er hatte dann den Urologen noch gefragt: „Ist ein embryonales Karzinom ein Seminom oder ein Non-Seminom?“ Denn er hatte gelesen, dass dies die für die weitere Behandlung wichtige Grundunterscheidung bei Hodenkrebs sei.

„Und dann, ich fasste es nicht, holte der ein Urologielexikon aus dem Schrank, setzte sich neben mich und schlug den Begriff nach. Was hat denn die Klinik als weiteres Vorgehen empfohlen?, fragte er währenddessen. Nichts, sagte ich, die Ärzte hatten den Befund nicht vorliegen und haben mich zur uro-onkologischen Nachsorge an ihren Kollegen, also, da dieser im Urlaub ist, an sie weitergereicht.“

„Aha!“, sagte der Urologe, erzählte mein Freund, dann blätterte der Arzt noch etwas im Lexikon herum und meinte dann: Vielleicht sollten wir doch noch eine Chemotherapie machen, nur zur Sicherheit! Aber da sollte man, also sein Kollege, der ja noch eine Woche im Urlaub ist, noch einmal Rücksprache mit dem Pathologen halten und mit dem Leiter der Urologie im Krankenhaus sprechen, um das weitere Prozedere abzuklären…

„Ich bin so geschafft und gleichzeitig so wütend.“, sagte mein alter Freund, „Anderthalb Wochen sind seit der OP vergangen. Es kann doch nicht sein, dass mir niemand sagen kann, was genau für ein Karzinom sie aus mir herausgeschnitten haben und ob jetzt noch weitere Schritte angesagt sind oder ob die OP ausgereicht hat, den Krebs zu entfernen!“

Nein!, gab ich ihm Recht, das darf nicht sein! „Danke dir!“, entgegnete mein Freund mit müder Stimme, „Ich leg‘ jetzt auf. Werd‘ versuchen, jemanden ans Telefon zu bekommen, der mir erklären kann, was pT2 L1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 bedeutet. Denn das scheint mir die Quintessenz des Befundes zu sein. Vielleicht erwische ich ja den Pathologen. Vielleicht jemanden von der Krankenkasse, die haben doch so ein Ärztetelefon. Meinen Hausarzt werde ich auch anrufen, der kennt sich eigentlich immer gut aus, vielleicht weiß er Rat. Aber zuerst rufe ich im Krankenhaus an. Jetzt, da der Befund vorliegt, müssen die mir doch etwas sagen können…!“

Wir verabschiedeten uns voneinander, dann fuhr ich meinen Rechner hoch. pT2 L.1 R0 ICD-O 9070/3 und 9061/3 – mal schauen, ob das Internet hier stichhaltigere Informationen bereithält als bisher die Ärzte meines Freundes. Eigentlich ein trauriger Gedanke.


Nachtrag: Interessante Adressen, die ich im Internet fand:


 

Nachtrag: Die ganze Geschichte in 4 Akten

  1. Patient 3. Klasse? Von der Kommunikation im Krankenhaus (rund um die OP nach Diagnose Hodenkrebs)
  2. Alles fit im Schritt? Diagnose Hodenkrebs etc. pp., OP und PEB… (histologischer Befund und die Empfehlung des Tumorboards)
  3. Sind die denn alle bekifft? Hodenkrebs, PEB etc. pp (die Entscheidungsfindung, active surveillance oder Chemo?)
  4. Friendly Poison… 1 Zyklus adjuvante PEB Chemotherapie – Hodenkrebs, Erfahrungen und Informationen (die Chemotherapie)

 

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Von Mäusen und Menschen

Maeusen_Menschen
Natur ist doch etwas Schönes, denke ich in der Abenddämmerung im Garten sitzend, der an allen Ecken so natürlich wuchert, dass das Grün die Kanten und Grenzen überspringt (glücklicherweise auch von Nachbars her, so dass es hier zu keinen floralen Grenzkonflikten kommt). Während der Mond hinter einer bauschigen Wolke an einem ansonsten wolkenlosen Himmel hervorlugt, versuche ich mit meinen Augen dem Flug der Fledermaus zu folgen. Enge Kreise, weite Kreise, dann zick zack und zack in den nächsten Kreis, zick in die andere Richtung. Da, eine zweite Flugmaus. Größer als die Erste. Spreize ich meine Hände, so dürfte ihre Flügelspannweite meine Handspannweite übertreffen. Faszinierend. Und gar nicht so einfach, dem Flug der Mäuse in der Dämmerung zu folgen. Ach Natur. Was wäre der Mensch ohne? Und jetzt kommt auch noch der Igel aus seinem Versteck, raschelt durchs Gebüsch, knurps, knupser…

Durch das geöffnete Küchenfenster ruft meine Liebste zu mir in den Garten: Habe heute wieder eine Maus gefangen, ne Kleine, war ganz schwach, ließ sich mit einem Eimer leicht einfangen! Ja, die Natur. Ich habe ja schon einmal erwähnt, dass wir – seitdem wir eine Katze mit ausgeprägten Jagdverlangen haben – ein ebenso großes Mäuseproblem im Haus haben (vielleicht hätten wir sie doch nicht sterilisieren lassen sollen. Jetzt legt unsere Katze „typisch männliches Verhalten“ an den Tag: Jagen ist toll, kaum ist einem das Erjagte sicher, verliert der Kerl sein Interesse). Jedenfalls: Meine Liebste hat die Maus in der hintersten Ecke unseres Garten freigelassen. Und während die Fledermäuse flattern und der Mond scheint, stelle ich mir vor, dass ich es eigentlich nett finden würde, so putzig natürlich, wenn diese kleine Maus, vielleicht noch mit ein paar Kumpels, über unseren Rasen hüpft. Ach, hat sie sich glücklicherweise doch erholt! Und diese kleinen Öhrchen… Aber so ist das halt mit der Natur. Sie ist kein Zoo. Da sind keine Gitter, Gatter, Schutzzäune. Die Natur lässt sich von uns Menschen nicht einfach aussperren. Die putzigen Mäuse tanzen nicht einfach im Mondlicht auf dem Rasen. Sie rasen, kaum hat man sich umgedreht, durch Fenster, Türen, kleinste Spalte (gerne auch per Katzen-Express. „Einmal stillhalten und schon bist Du drin im Nahrungsparadies“), in den Bereich hinein, in dem man keine Natur haben möchte, sondern nur Kultur. Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein – und sonst nichts an Lebewesen.

Mit putziger Natur ist es vorbei, wenn sie in der Küche kleine, dunkle Spuren hinterlässt. Auch eine Fledermaus, deren Orientierungssystem kurzzeitig so gestört ist, dass sie sich durchs geöffnete Fenster in eines unsere Zimmer verirrt, ist nicht spaßig (Tollwut) – und gar nicht spaßig ist es, wenn die Katze es geschafft hat, eine Fledermaus aus der Luft zu holen, und sich beide im Gebüsch in Todfeindschaft gegenüberstehen, und diese Fledermaus wie eine ausgewachsene Schlange zischt und mit ihren Zähnen (beeindruckend) nach der Katze schnappt (Tollwut). Oder um ein florales Beispiel zu bringen: Ich sag nur Efeu. Efeu, der an der Hauswand empor rankt, drei Stockwerke bis zum Dach, übers Dach, der sich jeden Baumstammes in der Nähe bemächtigt und Tag für Tag höher zum Licht kriecht…

Ja, der Mensch und die Natur. Eine schöne Beziehung, wenn sich die Natur an Menschregeln hält, wenn sich Natur an Menschregeln halten würde. Dass sie dies nicht tut, zeigen gerade all die Falter und Flatterdinge, die in mein Arbeitzimmer hineinkreuchen, während ich diese Zeilen schreibe (habe das Fliegennetz noch nicht ans Fenster gespannt). Dass zeigen weit weniger harmlose Naturerscheinungen wie das Unwetter, dass an Pfingstmontag über weite Teile NRWs gerast ist.

Natur… Es gibt diese berühmte Stelle aus Goethes Werther. „Klopstock“. Werther und Lotte stehen am Fenster und betrachten ein Gewitter – und genießen dies. Diese Stelle, heißt es, würde einen Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen Mensch und Natur andeuten. Natur ist fortan etwas, das sich genießen lässt. Natur ist nicht mehr einfach nur Angstauslöser. Wohl ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum modernen Menschen. „Erhabenheit“, dies war wohl Kants Begriff für das Gefühl, dass den Menschen angesichts einer übermächtigen Natur ergreift. Und ich möchte hinzufügen: Der moderne Mensch möge auch Demut empfinden. Ob nun Mäuse oder Gewitterstürme, die Natur ist kein Zoo. Wir sind mittendrin. Und ich sage es frei heraus: Der Mensch kann die Natur nicht genießen, wenn er nicht das Gefühl hat, sie gleichzeitig auf Abstand zu halten.

Natur ohne Grenzen ist des Menschen Untergang. Denn dann wird die Kultur überwuchtert. Und ohne Kultur kein Mensch. Bio ist schön und gut. Aber nur zertifiziert. Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich Werther und Lotte am Fenster stehen, ein Blitz schlägt in einen nahen Baum ein, die Krone bricht, fällt herab, erschlägt Werther und Lotte im Moment des genussvollen Anschauens… Es gibt kaum ein eindrucksvolleres Schauspiel als Naturschauspiele – aber genießen kann man sie nur aus einer sicheren Position heraus (oder im Nachhinein, wenn man sich die in furchteinflößender Situation geschossenen Handybilder ansieht und die Furcht-Situation vorbei ist). Hier zeigt sich dann der postmoderne Mensch: Der Griff zum Handy ist schon fast „natürlich“. Mittels Technik stellen wir eine Art „Grenze“ her, der Blick durch das Objektiv suggeriert eine Trennung zwischen Natur hier und Mensch dort. Ist natürlich ein Irrtum (was all die Handybilder bezeugen, die nie gezeigt wurden, weil Handy und Besitzer von der Natur überwältigt wurden). Ist natürlich eine gerne gesehene Illusion (was all die Handybilder bezeugen, die verbreitet wurden, weil Handy und Besitzer der Natur entkommen sind).

Von Menschen und Mäusen. Die Übermacht der Natur zeigt sich manchmal an kleinen, irgendwie auch putzigen Hinweisen. Wir haben sie einfach nicht im Griff. Die Natur. Denn wir sind ein Teil von ihr. Nur im Zoo gibt es Gitter, Gatter, Absperrungen. Also. Demut.

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Der Frosch sagt: Der Sommer hat begonnen

Thermometer_Frosch
Wie ich an anderer Stelle erwähnt habe, ist guter Kaffee gut für das Betriebsklima. Das guter Kaffee beileibe nicht der einzige für eine angenehme Arbeitsatmosphäre förderliche Faktor ist, eher pekunitär orientierte Persönlichkeiten verweisen gerne auf ein angemessenes Salär, die Romantiker unter den Arbeitnehmern auf freundliche Arbeitsatmosphäre oder Anerkennung für erbrachte Leistungen, hat mir ein alter Freund wieder zu Bewusstsein gebracht.

Ja, es gibt Zustände am Arbeitsplatz, die nicht besser werden, wie viel guten Kaffee man auch trinken mag. Nachdem ich vergangene Woche nach einem angenehmen Arbeitstag in maifeierlicher Atmosphäre auf meinem schnurrenden Roller im prallen Bodensee-Sonnenschein in mein Heim zurückgekehrt war, klingelte, kaum dass ich meiner Liebsten zugelächelt hatte, das Telefon. Mein alter Freund aus der Ferne. Da hört man doch gerne zu – und so erfuhr ich von solchen Zuständen.

„Ich sag Dir, heute hat der Frosch den Sommerbeginn verkündet!“, so lauteten seine einleitenden Worte. Jetzt muss ich, um des Verständnisses Willen vorausschicken, dass besagter Frosch, wie ich von früher wusste, natürlich kein wirklicher Frosch war. Er war nie ein wirklicher Frosch gewesen. Nur ein Thermometer in Froschform, dass mein alter Freund gekauft und zur Verifizierung der gefühlten Temperaturen an seinem Arbeitsplatz an selbigem platziert hatte. Nun, der Frosch war Geschichte. Ein schlichtes Holzthermometer erfüllte, seitdem er den Frosch verschenkt hatte, den nämlichen Zweck – nur die Bezeichnung für den Temperaturmesser war geblieben. Der Frosch sagt… Und wie ich wusste, sprach der Frosch im Winter: 12 Grad nach einem Wochenende, an dem im Büro die Heizung ausgestellt war. Und 39 Grad im Hochsommer, seitdem die Klimaanlage aus Kostengründen nicht mehr angestellt wurde. Da ich wusste, dass mein alter Freund (im Gegensatz zu seinem verflossenen Freund) nicht unbedingt temperaturempfindlich war (es galt sich halt angemessen im Büro zu kleiden, im Winter dicke Socken, Pulli, Strickjacke, Schal, Fingerlinge, im Sommer Flip Flops), war mir schon bei dieser Eröffnung klar, dass der Frosch noch mehr sprach, wenn er den Sommer verkündete.

Der Frosch sagte: „29 Grad im Mai, schon kommt der Gestank des Sommers herbei!“

Wörtliche Rede kann etwas Berauschendes, in ihrer Bildhaftigkeit Mitreißendes haben. So fällt es mir jetzt naturgemäß schwer, in geschriebener Rede den Abscheu meines alten Freundes ob der Ankündigung des Sommers angemessen wiederzugeben. Vor allem, da dieser Abscheu olfaktorischer Natur ist.

Zwei kurze Beschreibungen können hier vielleicht hilfreich für einen gewissen Eindruck sein:

Der Arbeitsplatz meines alten Freundes befindet sich, wie er mir mit hörbarem Widerwillen in der Stimme ausmalte, nahe einer Wand, an deren anderen Seite sich die Männertoilette befindet. Eine Standortlage, die im Winter offensichtlich weniger Probleme bereitet, aber im Sommer entscheidend zur Arbeitsmoral meines Freundes beiträgt. Denn diese Wand ist dünn. Wobei es wohl im Allgemeinen gelingt über die Geräusche, welche sich ungehindert durch die dünne Wand bemerkbar machen, hinweg zu hören. Geräusche, die, wie mein Freund glaubhaft machte, mit dem Öffnen eines Reißverschlusses beginnen und sich dann zu intimeren Lautäußerungen steigern. Wie gesagt, diese Geräusche sind nicht das Problem. Und im Winter ist das Problem auch nicht so ein Problem. Aber diese Toilette verstopft des Öfteren (es geht das Gerücht, dass das ganze Bürogebäude nicht an einen Kanal angeschlossen sei) – und dieses Verstopfen bringt im Sommer das olfaktorische Fass zum Überlaufen. Denn, so mein alter Freund, dann sickert der Toilettengestank durch die dünne Wand, kriecht hinter seinem Rücken hervor, wabbert in der aufgeheizten Luft des Büros um seinen Kopf.

Und wie gesagt: Hier hilft kein Kaffee. Der beste, aromatisch duftende Caffé mit allerfeinster Crema schafft es nicht diesen Gestank zu vertreiben. Natürlich hilft hier das Aufreißen der Fenster, so dass der Gestank aus dem Büro in den Flur wabbert, wo immerhin niemand sitzt und versucht, zu arbeiten. Wobei hier das zweite „sommerliche Problem“ mehrmals in der Woche zu Unbilden führt.

Fettabscheider. Dieser ist wohl das zweite Problem. Ein Problem, das im Winter auch vorhanden ist, aber aufgrund der dämpfenden Niedrigtemperaturen nicht so gravierend empfunden wird. Unterhalb des Büros von meinem Freund ist die Kantine des Bürogebäudes. „Ist schon okay“, sagt mein Freund, „Keine weiten Wege, das Essen ist genießbar.“ Aber aufgrund dieser Kantine ist ein Fettabscheider notwendig und dieser liegt unterhalb der Kantine, also auch unterhalb des Büros meines alten Freundes. Und dieser äußert sich olfaktorisch auf zweierlei Weise, so dass es ratsamer erscheint, die Fenster im Sommer zu schließen, auch wenn der Gestank aus der Toilette durch die Wand sickert, auch wenn sich das Büro immer weiter aufheizt: Der olfaktorische Normalbetrieb. Soll heißen, der Fettabscheider tut, was er tun soll, und stinkt gewohnheitsmäßig vor sich hin, was sich mehrmals am Tag in intensiven Geruchsschwaden äußert. Der olfaktorische Extremfall, soll heißen, der mehr als intensive Gestank, wenn das Entsorgungsunternehmen in regelmäßigen Abständen seinem Auftrag nachkommt und den Fettabscheider auspumpt. Während im Normalbetrieb der Geruch aus der Toilette noch wahrnehmbar ist, ist er im Extremfall, bei schönstem Sonnenschein, der das Büro etliche Grad über Lufttemperatur aufheizt, dermaßen alle Sinne einnehmend, dass weder Toilettengestank noch Kaffeegeruch (selbst mit der Nase in der Tasse) mehr wahrnehmbar sind.

Und davon sprach der Frosch. Und davon sprach mein alter Freund, ein existentielles Problem, das ihn anrufen ließ. Ich hörte ein gewisses Grauen in seiner Stimme. Die heute vom Frosch verkündete Temperatur von 29 Grad im Büro galt ihm als Unheil dräuender Vorbote des nahenden Sommers. Zudem war die Toilette heute wieder verstopft. „Und wie war es bei dir heute?“, fragte er mich schließlich müde. Aber was sollte ich ihm sagen? Bei mir im Büro wabbert nur der Duft nach gutem Kaffee (gemischt mit ein wenig Teegeruch von den Teetrinkern) durch die Luft? Bei mir sorgt die Geschäftsleitung dafür, dass es im Winter warm und im Sommer angenehm temperiert ist? Bei uns sind die Wände dicker? Sollte ich ihm sagen, dass ich mich auf den Sommer freue?

Nein, ich sprach nicht über meine Arbeit. Ich erzählte von meinem Blog (den Beitrag über seinen Ex, seine Fröstlichkeit und die Wärmflasche hatte er gelesen und dabei wehmütig gelächelt). Ich richtete ihm schöne Grüße von meiner Liebsten aus, die gerade hereinkam. Dann verabschiedeten wir uns. „Morgen soll es ja schon wieder kühler werden!“, sagte er zum Abschied. Und die Hoffnung in seiner Stimme ließ mich die Tage danach nicht mehr los, und also ärgerte ich mich nicht, als es zu regnen begann und tatsächlich abkühlte. Und so lächele ich auch jetzt in den Regen hinaus, sehe den Pflanzen dabei zu, wie sie sich nach den warmen Sonnentagen gierig nach dem kühlen Nass strecken, ihre Blätter gen ausströmendem Himmel recken. Für den Moment scheint sich der Frosch geirrt zu haben. Vielleicht ein gutes Zeichen. Vielleicht irrt auch mein alter Freund. Ja, vielleicht unterschätzt er seinen Arbeitgeber und dieser Sommer wird als der Sommer in die Geschichte eingehen, der dem, was der Frosch sagt, seinen Schrecken nahm.

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Quelle für Froschthermometer-Bild

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„Schau doch mal Alter, was für ein Panorama…“

Schau_Alter_Panorama
Originalton auf der Fähre nach einem offensichtlich entspannten Ausflug am Bodensee mit dem Fahrrad: „Schau doch mal Alter, was für ein Panorama…“

Nach einem wie gewohnt stressfreien Arbeit als Werbetexter, der neben viel Freude an kreativer Textarbeit auch die Befriedigung gut auf wichtige Deadlines zugeschnittene Arbeitsabläufe mit sich brachte, fuhr ich um kurz vor 19 Uhr von Konstanz mit der Fähre nach Meersburg. Die Alpen mit ihrem vom Bodensee aus gesehen visuellen Höhepunkt, dem Säntis, waren gut zu sehen. Föhn schien im Anzug. Der Tag war bisher klimatisch unbeständig gewesen. Der Wind trieb die Wolken wild vor sich her über den See. In einem Moment strahlte die Sonne. Im nächsten Augenblick drohte ein Regenguss. Stand man im Wind, so fröstelte es einem. Im nächsten Moment erhitzte einen für ein paar windstille Atemzüge die durch die Wolken brechende Sonne. Doch nun am frühen Abend schwebten kaum noch Wolken über den Bodensee. Die Sonne hatte sich durchgesetzt. Blau. In welchem Blau strahlte der See. Und so nah die Berge…

Es ist schon erstaunlich, über was sich Menschen aufregen. Nein, noch erstaunlicher ist es, mit welcher Vehemenz sich Menschen über Nichtigkeiten aufregen. Menschen im Urlaub sind da erstaunlicherweise eine gute Beobachtungsbasis. Touristen also. Menschen in ausgedehnter Freizeit, die doch eigentlich in einem gewissen Zustand der Entspanntheit sein sollten. Aber nein. Es ist erstaunlich, was bereits 15 Minuten Fährefahrt hier an Stress-Dramen offenlegen. Zum Beispiel die Fahrradfahrer. Die drängeln sich (den durch das Fährepersonal angewiesenen Platz ignorierend) auf der Fähre, um den besten Platz für ihr oft geliehenes Bike zu ergattern, so dass letztlich alles kreuz und quer steht, weil keiner dem anderen einen Fußbreit Platz einräumen will – der könnte ja eher von der Fähre herunterfahren. Und es ist greifbar, dass der eine oder andere nur darauf wartet, dass jemand sein Bike, das er geparkt hat als wäre es ein Auto, nur antippt…

Wobei oben erwähnte Fahrradtouristen so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie weitgreifend andere Fahrradtouristen ignorierten. Wahrscheinlich zwei Ehepaare. Fortgeschrittenen Alters. Die Damen schafften es gerade noch auf die Fähre. Der Schlagbaum war schon geschlossen. Er wurde auf bittendes Zurufen der Damen noch einmal geöffnet, während ihre Männer in einem vehementen Streitgespräch über die letzte Runde in einem Lokal versunken waren, die der eine doch ruhig hätte übernehmen können, als ihre (von ihnen offensichtlich ganz vergessenen) Frauen auf die Fähre radelten. „Warum seid ihr voraus gefahren?“ (Ein Klassiker). „Wir haben doch gesagt, wir nehmen die nächste Fähre, und das ist sie“ (wäre ein Drama gewesen, die Fähre 15 Minuten später zu nehmen). „Du hast deinen Helm nicht auf!“ (ach die Fürsorge). „Stehen tut der dir aber nicht“ (die Fürsorgliche als der Angesprochene seinen Helm demonstrativ aufzieht). „Das Bier schmeckte eh schal“ (der die letzte Runde schuldig gebliebene Beschuldigte). „Abgemacht ist abgemacht!“ (der die Zeche zahlende). „Abgemacht war, wir bleiben zusammen!“ (eine der Frauen). „War doch mal gut, dass ihr auf Trab kommt, habt es ja geschafft!“ (der eine – denke ich – Ehemann).

Da ich nach meinem stressfreien Arbeitstag die Überfahrt ebenso stressfrei auf dem Oberdeck in der Sonne genießen wollte, ließ ich die vier hinter mir zurück. „Toll hier, schöne Aussicht, Wetter gut, aber kein gutes Netz!“, schrie der Herr in der Sitzbank neben mir in sein Handy, während er auf der Suche nach dem guten Netz allerlei Verrenkungen machte, mal mit dem Kopf fast den Boden berührte, mal sich, einen Fuß auf der Bank, gen Himmel streckte, ohne der herrlichen Aussicht überhaupt einen Blick zu würdigen (aber vielleicht hatte er zuvor mit seinem Handy ja ein Bild geschossen). Eine Sitzgruppe weiter stritten sich zwei Kinder um ein halbes Brötchen, weil beide – und das heißt nur eines von beiden – gerne den Möwen Brotkrumen hingeworfen hätten. Der Vater ignorierte den Streit, weil er im Fahrtwind seine Zigarette nicht zum Brennen brachte. Die Mutter löste den Streit, indem sie das ganze halbe Brötchen nahm und es einfach über die Reeling warf, was sich produktiv auf die Stimmung der Kinder auswirkte, und den Vater anregte, eine ziemlich unflätige Tirade über die Fähigkeiten seiner Frau, Kinder zu erziehen, und über den Wind loszulassen. „Scheiß Wind und halt doch endlich mal die Kinder ruhig!“ (zensiertes und gekürztes Zitat).

Es ist schon erstaunlich, über was sich Menschen aufregen. Nein, noch erstaunlicher ist es, mit welcher Vehemenz sich Menschen über Nichtigkeiten aufregen. Wahrscheinlich so wie ich gerade. Da ich mich von derlei nichtigen Beobachtungen anregen lasse, einen Blog-Senf abzugeben. Wobei ich nach meinem stressfreien Arbeitstag diese Worte ganz ruhig, unaufgeregt niederschreibe. Amen, Yoga und Qigong und so. Also quasi locker aus der Hüfte geschossen. Aber wie dem auch sei, die Viererbande war, als ich zurück zu meinem Roller ging, immer noch intensiv dabei, über das Vornewegfahren der Männer (und das nicht Bezahlen der letzten Runde des einen Mannes) zu disputieren.

Aber was heißt schon Nichtigkeit? Jeder Krebs beginnt mit einer kleinen, winzigen Zelle, die aus dem Ruder läuft. Nichtigkeiten, die zu Streitigkeiten führen, sind die Keime, die es behutsam aufzunehmen gilt, zu betrachten – und zu isolieren, denn an ihnen zeigt sich Größeres. Sie sind der kleinste gemeinsame Nenner für das Chaos. Packt man sie nicht, löst diese kleinen Keime nicht auf, dann war es das. „Siehst du, so ist das nach so vielen Jahren Ehe“, meinte der eine Mann, der sich immer noch offensichtlich dämlich mit seinem Fahrradhelm fühlte, als seine Frau, die sich zuvor über das Nichttragen mokiert hatte, in dem Moment, als ich zum Roller zurückkehrte, meinte: „Zieh doch mal den dämlichen Helm ab, noch brauchst du den nicht!“

„Nichts kann man richtig machen!“, meinte er. Dies war der Augenblick, als sie sagte: „Schau doch mal Alter, was für ein Panorama…“ – und die Touristen endlich für einen Moment dort ankamen, wo sie eigentlich hinwollten. Dorthin, wo wir alle sein wollen. Im Angesicht des Schönen. Alle vier blickten gen Alpen. Der eine Mann zückte seine Kamera. Klick. So schön war es am Bodensee. Der andere Mann meinte schnippisch. „Teures Modell. Aber zu geizig, die Runde zu zahlen.“

Nichtigkeiten halt. Der kleinste gemeinsame Nenner für das Chaos in der Welt.

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Auch Du Brutus? Von Rauchern und Nichtrauchern

Raucher_Nichtraucher
Ach die Nichtraucher, zur Zeit gibt es immer mehr von ihnen. Das ist wie mit der Grippe. Nur später. Nicht im Herbst. Sondern nach Neujahr. Jahr für Jahr kommt diese Welle. Und geht meist schnell wieder vorbei. Ganz ohne Impfen. Dabei wäre es natürlich vernünftig, sich gegen die Grippe impfen zu lassen. Und natürlich ist es vernünftig, mit dem Rauchen aufzuhören. Nie zu beginnen. Und so handeln alle, die mit dem Rauchen aufhören, sehr vernünftig. Der Mensch ist das „animal rationale“. Also nachgedacht, und gut ist. Kommt in Wellen, wie gesagt. Dieses vernünftige Nachdenken – und vor allem, sich seine Vernunft zur Richtschnur seines Handelns zu machen. Adé Zigarette. Und weil in diesem Jahr die Welle bei vielen noch nicht am Strand der Rückfälligkeit gebrochen ist, ist das „Aufhören“ auch jetzt noch Thema. Wie gesagt, es ist eine Epidemie. Selbst er, den man seit Jahrzehnten nur als Raucher kannte – basta, fini. Auch Du Brutus?, denkt man, während er mit den Schultern zuckt, an seiner Cola Zero nuckelt (noch so eine Epidemie) und man selbst mannhaft sein Bier nimmt und hinaus in die Kälte geht.

Und so stehen mittlerweile immer weniger Unverzagte (Unvernünftige) in der Kälte, im Regen, auf einem Balkon, vor der Gaststätte, vor dem Bürogebäude. Kurz draußen vor der Tür. „Draußen vor der Tür“ war eine dieser Erzählungen, die einen nachhaltig beeindruckten, ob dieser unerbittlichen Zwangsläufigkeit des Schicksals, der Trauer, die den Einzelnen fasste und gleichzeitig in die Einsamkeit entließ. Na gut, jetzt sollte der Boscher nicht den Borchert machen. Schließlich ist Rauchen kein Schicksal, sondern eine Sucht. Und dem Brutus klopfe ich ja auch auf die Schulter, weil er es endlich geschafft hat, seit Wochen ohne Zigarette zu leben. Ein Wunsch, den ich von ihm ebenso lange kannte, wie ich ihn mit Zigarette erlebte. Und weil Alkohol und Zigaretten gerne Hand in Hand durchs Leben wanken, hat er auch gleich dem Alkohol abgeschworen. Nieder mit dem Diktatoren! Nieder!, ich prostete ihm mit meinem Bier zu.

Politisch gesehen ist dies natürlich ein bedeutender Schritt. Selbst die „gesunden“ Zigaretten, also jene ohne Zusatzstoffe, atmen den Hauch von Ausbeutung. Da können sie noch so viele Indianer auf die Verpackung drucken, nach Fair Trade-Richtlinien sind hier kaum Zigaretten hergestellt worden. Vom Rest mal ganz zu Schweigen. Freiheit. Immer Freiheit. So die Werbung. Aber eher Freiheit der Globalisierung. Der Riesenfirmen. Da bekommt man als Raucher auch politisch ein schlechtes Gewissen. Nur gut, dass das Bier, mit welchem man Abends in der Kälte steht und in das der Regen tropft, aus deutschen Landen ist. Quasi um die Ecke. Kurze Wege. Gut für die Ökobilanz. Regional ist der Affront gegen Globalisierung. Das klappt bei Zigaretten nicht so gut. Wobei das Nachdenken über derlei Dinge sich irgendwie hohl anfühlt. Denke tiefer. Lasse die Zigarette und gut ist!

Jawohl! Aber was ist mit der Steuer? Und mit der Rente?, so fragt der gleichwohl unverbesserliche Raucher. Tabaksteuer. Kein Klacks. Blauer Dunst für schwarze Zahlen im Staate. Und die Rente? Die Sterblichkeitsrate bei Rauchern ist aufgrund von durch das Rauchen verursachten Erkrankungen hoch. Und sie sterben nicht erst dann, wenn die Rentenkasse für ihr Auskommen aufkommen muss. Sondern früher. Gut für die Rente der anderen – und all die, die einzahlen müssen.

Aber was ist mit den Erkrankungen zuvor?, so lautet der wichtige Hinweis. Die kommen doch allen teuer zu stehen… Ja, es heißt, dass Raucher die Krankenkassen im Quartal 500 Euro kosten. Also 2000 Euro im Jahr (Quelle: Deutsches Krebszentrum Heidelberg).

Ist natürlich ein horrender Betrag, erst einmal. Wobei, bei der richtigen Verteilung der Einnahmen der Tabaksteuer bei einem Raucher, der eine Schachtel am Tag raucht, die Hälfe der 2000 Euro wieder eingenommen wird (Quelle: Wikipedia: „Nimmt man eine Packung mit 19 Zigaretten zu 5 Euro ergibt sich folgende Rechnung: 19 * 0,0963 Euro + 5,00 Euro * 21,74% = 1,8297 Euro + 1,087 Euro = 2,9167 Euro.“, macht aufs Jahr gerechnet 1064 Euro.)

Es heißt Raucher sterben im Schnitt 10 Jahre früher als Nichtraucher. Sagen wir also wir haben einen 70jährigen Raucher, jetzt verstorben, daneben sein Kumpel, seit Jahren rauchfrei, der sich somit 10 Jahre länger auf Mutter Erde halten wird. Der Raucher rauchte seit dem er 20 ist. Also laut obiger Rechnung 50 Jahre Mehrkosten für die Krankenkassen. 50mal 2000 Euro im Jahr, insgesamt (auf Grundlage heutiger Zahlen) 100.000 Euro auf Kosten der Kassen. Minus pi mal Daumen Tabaksteuer (50.000 Euro) = 50.000 Euro, die der verstorbene Raucher der Allgemeinheit schulden blieb.

Leider hat der nichtrauchende Kollege beruflich nicht so gut für sein Alter vorsorgen können, seine Rente reicht nicht aus, um die Kosten für den Pflegedienst (oder das Altersheim) zu bezahlen. Er ist ja eigentlich fit. Rüstig. Also mit einem Augenzudrücken Pflegestufe eins. Sind knapp 1000 Euro, die von der Pflegekasse übernommen werden. Ein Pflegeheim kostet bei dieser Pflegestufe ungefähr 2500 Euro (wobei die 2500 Euro nach Hörensagen – auch bezüglich eines Pflegedienstes – eher niedrig gegriffen ist). Bleiben also 1500 Euro im Monat. Davon bekommt er mit seiner Rente 1000 Euro im Monat gerockt. Bleiben also 500 Euro fürs das Sozialamt. Macht also für die 10 Jahre länger leben als der Raucher: 120.000 Euro aus der Pflegekasse aufgrund Pflegestufe 1, dazu 60.000 Euro vom Sozialamt, um die Differenz auszugleichen.

Also böse gerechnet kostet dieser 10 Jahre länger lebende Nichtraucher die Allgemeinheit 130.000 Euro mehr als der früher verstorbene Raucher.

Nun gut, wie dem auch sei. Vielleicht habe ich mich ja auch verrechnet. Außerdem liegen die Renten derzeit im Schnitt noch höher als oben genannter Betrag. Und zudem: Natürlich ist es vernünftiger, nicht zu rauchen. Und wenn man überlegt, wie groß die Schnittmenge von Rauchern und Trinkern ist, dann fallen die Zahlen sicherlich günstiger für die Vernünftigen aus. Und so kann man allen, die es schaffen, aufzuhören, nur auf die Schulter klopfen. Sie als Vorbild nehmen – wenn sie nicht gerade das „Lassen der Zigarette“ mit einer gehörigen Portion Arroganz untermalen. Aber das tun nur die Wenigsten. Bei den meisten „Ehemals Rauchern“ ist eine gehörige Portion Demut zu spüren. Und so ist es wohl auch angemessen gegenüber einer großen Gefahr. Demut. Keine andere Handlung lässt einem so sehr die Chance, die Gefahr richtig einzuschätzen und ihr zu entgehen.

Also unter dem Strich: Hut ab! Egal, dass Du Brutus mich in der Kälte stehen lässt. Sei stolz auf Dich! Und was immer auch 10 Jahre mehr kosten, wenn es denn 10 glückliche und auch gesunde Jahr sind… Ohne Lungen- oder Kehlkopfkrebs. Ohne aufgrund von Gefäßerkrankungen absterbende Gliedmaßen. Ohne COPD. Wer mag das mit Geld aufwiegen? Und wer weiß, vielleicht war der erwähnte, länger lebende Nichtraucher ein Kumpel des verstorbenen Rauchers und hat sich vor etlichen Jahren gedacht: „Also was der am Tag an Kohle veratmet, das leg ich mir zur Seite“. Wären, nur mal so auf die letzten 10 Jahre gerechnet (bei einer Schachtel am Tag), rund 18.000 Euro. Wie gesagt: Brutus ist vernünftiger.

PS: Der Auslöser für meine Gedanken übers Rauchen war, dass ich von einem Ehepaar hörte, dass sich kennt, seitdem beide 17 sind. Heute sind sie über 70. Und der Mann weiß bis heute nicht, dass seine Frau seit damals raucht (1 Schachtel am Tag).

Engel_Boscher_Rückumschlag
Zitat aus „Engel spucken nicht in Büsche. Roman über Liebe, Tod und Teufel“:
„Das Zittern hatte sich schließlich gelegt. Er hatte sich zusammengerissen. Alex war dann in die Küche hinaufgegangen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor er sich an den angefallenen Schreibkram machen würde.

Bis vor zwei Jahren hatte er bei dieser Gelegenheit geraucht. Eine Tasse Kaffee und eine Benson & Hedges. Oder zwei. Oder je nachdem, wie kräftig er die Entspannung herbei rauchen musste: drei. Irgendwann aber war Alex aufgefallen, dass da etwas nicht stimmen konnte. Stress wirkt sich ja bekanntlich auf den Kreislauf aus, er fühlte sich gehetzt, atmete nicht durch, atmete nur flach und verkrampfte sich dadurch. Jeder Atemzug blieb ihm im Hals stecken und erreichte den Rest des Körpers nicht. Manchmal fühlte er sich, als hätte er die Stirnhöhlen vereitert, Kopfschmerzen bekam er und Sehstörungen, dazu Nackenschmerzen, Kälteschauer, das ganze Programm. Am liebsten war ihm dann, schlafen zu gehen, sich einfach ins Bett zu legen und zu schlafen, ohne jemals wieder aufzustehen. Denn aufzuwachen war deprimierend, wenn man sich nach dem Schlaf noch genauso zerschlagen fühlte, wie vor dem Einschlafen. Eine Zigarette war da nur Wasser auf die marode Mühle, denn er fühlte sich nach ein paar Zügen nur noch kaputter, zerschlagener.

Und dazu kam dann noch das deprimierende Gefühl, trotz alledem nicht anders zu können, und wieder und wieder der Illusion der entspannenden Zigarette zu erliegen. Der deprimierende Zwang, unter Belastung zur Halt und Stärke versprechenden Zigarette zu greifen, nur um sich danach noch beschissener zu fühlen, denn nach einer Zigarette sah für ihn das Leben viel zu oft noch grauer, enger und bedrückender aus als vor ihr.

Seinen Entschluss, mit dem Rauchen aufzuhören, stärkte, dass die Zigaretten einer Zeit angehörten, die Alex als längst überwunden ansah: seiner Jugend, abgeschlossen mit der Trennung von Sandra. Und darin, nicht mehr zu rauchen, sah er ein weiteres Indiz für seine Veränderung, für seine positive Entwicklung weg vom kleinen, schwachen, dicklichen Jungen und hin zum autonomen, von den Eltern und dem Urteil der anderen unabhängigen, leistungsstarken, erfolgreichen Mann.

Mit 15 etwa hatte er mit dem Rauchen angefangen, denn er wollte ein Mann sein, wie die Werbung es versprach, ein Mann ein Ganzer Kerl allen Lebenslagen gewachsen und so fest in seiner eigenen Kraft verwurzelt wie die kräftige Zigarette in seinem Mundwinkel. So wollte er sein, und damals hatte er noch eine andere Marke als die Benson & Hedges geraucht. Doch dann dachte sich Alex, wie kann jemand unabhängig, kraftvoll, mit sich im Reinen sein, der raucht?

Und dennoch… So stolz er auch immer darauf war, als einer der wenigen wirklich aufgehört zu haben, heute hätte Alex verdammt gerne eine geraucht. So schlecht wie er sich fühlte, hatte er sich nach einem Halt gesehnt, um all dem Scheiß der letzten Tage etwas entgegensetzen zu können. Er hatte das Bedürfnis nach etwas Qualmendem zwischen den Fingern gehabt, um das Gefühl zu bekommen, alles im Griff zu haben.
Seit langem das erste Mal hatte Alex sich danach gesehnt, die Plastikhülle einer Zigarettenschachtel abzureißen, die Schachtel zu öffnen und sich eine würzig riechende Benson & Hedges unter die Nase zu klemmen. Er würde am Fenster sitzen, eine dampfende Tasse vor sich auf dem Tisch. Draußen wäre die Straße in warmes, oranges Straßenlaternenlicht getaucht, und er entzündete ein Streichholz an. Der strenge Schwefelgeruch würde sich mit dem kräftigen Aroma des Kaffees mischen und zusammen mit dem Duft brennenden Holzes eine entspannende Atmosphäre verbreiten. Alles würde nicht mehr so schlimm erscheinen, und in aller Ruhe hielte er die Flamme an die Spitze der Zigarette. Tief würde Alex den Rauch einatmen, und mit den vielfältigen Stoffen würde Ruhe durch seinen Körper strömen. Von neuer Kraft erfüllt würde er die Benson & Hedges zwischen seinem Mittel‑ und Zeigefinger betrachten, und hier fände sich die Lösung für jedes Problem. Tanjas Tod sähe nicht mehr so furchtbar aus, und seine Gewissensbisse würden sich mit dem Rauch in Luft auflösen.

Es war so verlockend, wieder eine Zigarette, nur ein einzige Zigarette, zu rauchen, auch wenn sie nach Niederlage schmecken würde, auch wenn sie ein Rückfall wäre, der bestimmt auf sein Ego drücken würde. Obwohl er wusste, dass der Druck nicht ab‑, sondern zunehmen würde, da sein Kreislauf durch das Rauchen geschwächt, und er statt Entspannung doch nur Schwindelgefühle und Kopfschmerzen ernten würde, und trotz der Erinnerung, dass der Rauch, der von vielen Zigaretten aufstieg, zum Ende hin eigentlich immer mehr nach der Wirbelsäule eines Gerippes aussah, eine Andeutung, die sich gnädigerweise meistens schnell verflüchtigte, wollte Alex ein paar Mal an einer Zigarette ziehen. Denn vielleicht würde ja dieses Mal doch alles anders aussehen. Allerdings hätte er sich erst Zigaretten kaufen müssen…“

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Oh Gott, sie haben die Verpackung verändert

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Früher oder später trifft es wahrscheinlich die meisten Männer. Das erste Mal, da ihn, sagen wir auf der Arbeit, zum Beispiel eine sms erreicht: „Schatz, bringst Du mir bitte Binden mit“ (oder Tampons oder Slipeinlagen…). Und so fährt man nach der Arbeit ahnungslos zum nächstgelegenen Drogeriemarkt, geht lächelnd wohlgemut durch die Auslagen, bis man das Regal für Frauenhygienartikel findet.

„Schatz, bringst Du mir bitte Binden mit“

Ja, aber gerne doch. Doch welche?

Erst steht man staunend vor dem Regal. Was es nicht alles gibt! Normal, Ultra dies, ultra das. Maxi. Mini. Mit Flügeln. Ohne Flügel. Ohne Duft oder mit Duft. Mit diesem oder jenem Duft. Und die ganze Auswahl wird potenziert durch die verschiedenen Anbieter. Wohin man auch blickt, Pastelltöne in betäubender Vielfalt.

Dann überkommt einen eine gewisse Panik, während man mit dem inneren Augen ins heimische Bad wandert. Wie sieht noch einmal die nun offenbar leere Packung Binden daheim aus? Waren da nicht Grüntöne? Oder doch eher ein leichter Stich ins Bläuliche? Pink? Ja, Pink. Richtig pink oder doch eher eine Nuance Altrosa? Oh Gott, und welcher Anbieter?

Man könnte nun natürlich zum Handy greifen und die fehlenden Informationen bei seiner Frau abrufen. Aber gibt man sich eine solche Blöße?

Dann doch lieber die Logik bemühen. „Normal“ kann doch nicht verkehrt sein. Aber was heißt schon normal? Wo ist denn da die Bemessungsgrundlage? Des Mannes Blick streift vom Regal weg über die anwesenden Damen. „Normal“ meint wahrscheinlich die von der durchschnittlichen Frau bevorzugte Größe. Aber: was heißt hier „durchschnittlich“? Ist diese Frau dort oder jene durchschnittlich? Kleidergrößen sind besser einzuschätzen. Ha! Hatte er nicht vor kurzem etwas über durchschnittliche Kleidergrößen deutscher Frauen gelesen? Wie war das noch? Früher 40, heute 42. Ja, so war das. Also „Mini“, schwankt doch die Kleidergröße der Dame daheim (jedenfalls in offiziellen Verlautbarungen). Man will ja nicht in ein Fettnäpfchen treten. Aber Mini mit oder ohne Flügel? Mit oder ohne Duft. Duft klingt gut. Aber ist das auch wirklich gut verträglich? Und was ist mit der Länge? Mini normal oder Mini lang?

Vielleicht einfach die Augen schließen und sich bei der Auswahl von Fortuna leiten lassen?

Die Wahrscheinlichkeit, dass Fortuna in diesem Moment einfach mal in eine andere Richtung sieht, ist außerordentlich hoch. Die meisten Neulinge beim Frauenhygieneartikelkauf werden daneben greifen. Aber man ist ja lernfähig.

Erfahrene Männer haben sich nach solchen Momenten natürlich später genau die bevorzugte Marke und die genaue Beschreibung eingeprägt – oder einfach mit dem Handy ein Foto von der entsprechenden leeren Verpackung geschossen, die er in seiner Unfähigkeit mit einem falschen Produkt hatte ersetzen wollen. Und weil man logisch vorgeht – und für die Zukunft gewappnet sein will: Fotos vom Shampoo, der Spülung, vom Haarfestiger, vom… Und weil es dann, nach dem Abgleich mit dem Bild in seinem Gedächtnis (oder auf dem Handy) noch einfacher zu bewerkstelligen ist, merkt er sich genau den Ort, an dem der entsprechende Artikel im Drogeriemarkt zu finden ist. Quasi blind. Man läuft dann einfach immer die gleiche Runde, greift hier in die dritte Regal-Etage links, bückt sich dort zur Auslage hinunter gleich gegenüber dem Wasserspender.

Und so lächelt man, wenn man wieder einmal eine sms erhält. „Schatz, bringst Du mir bitte Binden mit, ach ja, und noch das Trockenshampoo“. Lächelt, bis man wieder im Drogeriemarkt steht – und merkt: Sie haben umgeräumt.

Doch die entsprechenden Regale und Auslagen sind zu finden. Zur Not fragt man eine der freundlichen Verkäuferinnen oder Verkäufer. Und somit steht man dann vor den gesuchten Artikeln. Doch in der dritten Regal-Etage links steht etwas anders. Ein leichter Anflug von erhöhtem Blutdruck macht sich bemerkbar. Der Blick streicht über die nun anders geordnete Vielfalt, gleicht das Angebot mit dem Bild vor dem inneren Auge (oder dem Foto auf dem Handy) ab – und findet nichts. Denn – oh Gott! – die bevorzugte Marke hat bei diesem Artikel die Verpackung geändert.

Ja, oh Gott. Denn was lernt man daraus (außer sich die genauen Produktspezifikationen unabhängig von der Verpackung einzuprägen)? Wenn selbst bei Binden die Produktpräsentation wechselt, das Produktmarketing also der Ansicht ist, dass sowohl eine andere Gestaltung als auch ein anderer Verkaufsort für den Umsatz förderlich sind, dann obacht Mann!

Frauen suchen das Neue.

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Die Katze lässt das Mausen nicht

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Was für ein schöner Tag, um im Garten zu sitzen und zu lesen. Die strahlende Sonne zaubert schönstes Licht durch das Laub des Walnussbaumes, dessen Blätter im milden Wind sich leise bewegen. Ein Specht hinterlässt auf der Suche nach Futter sein klopfendes Hallo auf dem mächtigen Baumstamm. Ringsherum zwitschern Vögel in den Büschen. Ein Lächeln erreicht mich von meiner Liebsten, die neben mir auf einem Gartenstuhl sitzt und ebenfalls liest. Und unsere Katze döst im Schatten des Schmetterlingsbaumes.

Ignorieren, ausschimpfen oder loben? Um diese drei Alternativen drehen sich die Beitrage, die ich in der Sonne auf meinem Tablet lese. Ergebnisse meiner Internetrecherche „Katze Mäuse“, um zu erfahren, was wir dagegen tun könnten, dass unsere Katze ständig Mäuse in die Wohnung bringt.

Am Morgen dieses Tages hatte ich zwei tote Mäuse im Flur gefunden. Macht mit dem Spatz am Vorabend, der toten Maus nur wenig später am Abend im Bad vier tote Tiere innerhalb von 24 Stunden.

Was also tun, wenn die Katze ständig Mäuse (manchmal einen Vogel, einmal eine Fledermaus, einmal einen Frosch) bringt? Eine häufig gestellte Frage, auf die es leider keine eindeutige Antwort gibt. Erstaunlich eigentlich angesichts der langen gemeinsamen Geschichte von Mensch und Katze (oder ist dies nur der menschlichen Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen geschuldet? Die Katze das mysteriöse Wesen…). Wie auch immer, einen Hauch von Eindeutigkeit finde ich nur in der Frage nach dem Wieso: Eine Katze bringt Mäuse, um ihren menschlichen Mitbewohnern, Futtergebern, Bei-Bedarf-Schmusern ein Geschenk zu machen.

Demnach fühlt sich unsere Katze bei uns sehr wohl, beschenkt sie uns doch sehr häufig. Ist doch auch schön, dass zu wissen! Und in diesem Wissen die getöteten Mäuse im Flur, vor den Zimmertüren, im Wohnzimmer etc. wegzuräumen, wäre ja an sich nicht so schlimm. Tote Mäuse, frei zugänglich hindrapiert, sind nicht das Problem. Bei solchen Geschenken wäre mir die Uneinigkeit der Katzen-Experten egal, und ich würde an einem solch schönen Tag nicht im Internet recherchieren, sondern einen spannenden oder interessanten Roman lesen. Kurz: Ob loben, schimpfen oder ignorieren, Hauptsache Beute tot.

Doch tot…, das ist Problem. Denn jedes mäusetote Geschenk wird flankiert von quicklebendigen Nagern, die unsere Katze zwar in die Wohnung bringt, sie dann aber laufen lässt – und die sich dann natürlich hinter Schränken, in Schränken etc. verstecken, dort abwarten, bis die Katze ihr Interesse verliert, sich dann auf die Suche nach Essbarem machen – und später, wenn das gefundene Essbare seinen natürlichen Weg geht, so manche Hinterlassenschaft hinterlassen.

Geschenke? Oder ist unsere Katze manchmal schlicht zu unerfahren, zu ungeschickt, um die Beute, die sie im Garten gefangen hat, im Haus zu töten?

Wer nur einmal unseren Exorzisten bei der Jagd beobachtet hat, gesehen hat, wie schnell unsere Katze, wenn sie denn will, ihre Beute tötet (und auch verzehrt), wird den Gedanken an Unerfahrenheit, Ungeschicktheit, nicht teilen.

Ich habe einen interessanten Beitrag zu dem Thema gefunden: „Katzen schleppen Mäuse in ihr Revier, um ihren schwächeren Freunden oder ihren Jungen Futter zu bringen. Wenn Kitten schon etwas älter sind, dann bringen die Mütter die Mäuse lebend, um so den Jagdinstinkt der Kitten zu trainieren und zu fördern. “ (Lucian, 07.06.2012, 12:33).

Also: Ich vermute, sie will uns etwas beibringen. Übernimmt vielleicht so etwas wie eine „Mutterrolle“ in unserer Gemeinschaft. Fürsorglich wäre sie demnach. Eine Überlegung, die sehr gut mit ihrem Verhalten in Einklang zu bringen ist, wenn unsere Jüngste einmal krank ist. Denn dann weicht unsere Katze nicht von ihrer Seite, kuschelt sich an sie, legt sich wie eine lebendige Wärmflasche auf ihren Bauch. Demnach bringt sie also die Mäuse hinein und lässt sie laufen, damit wir lernen, diese zu erjagen und zur Strecke zu bringen. Daher also ihre offensichtliche Freude, wenn ich neben ihr auf dem Boden herumkrieche, mit einem Stock unter dem Kleiderschrank herumfuhrwerke, um die Maus aus ihrem Versteck zu holen. Wenn ich eine Maus durchs Wohnzimmer jage. „Mauz, Mauz!“ „Fang sie, fang sie!“ Ist das Enttäuschung im Blick der Katze, da ich die Maus entwischen ließ? Soviel dazu, dass der Mensch die dominante Spezies ist.

Während ich im Sonnenschein diesen Überlegungen nachhänge, streckt sich unsere Katze unter dem Schmetterlingsbaum, lässt bei einem herzhaften Gähnen ihre Fänge sehen. Dann erhebt sie sich und schlendert gemächlich zu dem leeren Blumentopf an der Hauswand, um aus diesem ein paar Schlücke abgestandenen Wassers zu nehmen. Ich merke, dass auch ich Durst habe. Ich frage meine Liebste, ob auch sie etwas trinken wolle. Gerne. Einen Kaffee. Also gehe ich in die Küche, um ihr einen Kaffee zu bereiten und mir ein Glas Wasser einzuschenken. Ich öffne den Schrank, in dem wir den Kaffee, Kaffeefilter und einige Gläser aufbewahren, greife hinein – und plötzlich springt eine Maus hervor, die sich – wie ich später sehe – durch den Deckel des Nutella-Glases geknabbert hat, um an die Schokolade zu kommen. Die Maus springt auf meinen Handrücken. Während eine umfassende Gänsehaut von dort aus über meinen Arm, dann über meinen Hals zum Rücken kriecht, sich über diesen bis zu meinem Steiß ausbreitet, springt die Maus mir entgegen, rutscht an meiner Brust herunter, lässt sich in Höhe meines Bauch zu Boden fallen und huscht gen Küchenbuffet davon. Eine einzige fließende Bewegung, vielleicht hatte ich mittlerweile doch von unsere Katze gelernt, da ich die Packung mit den Kaffeefiltern ergriff und diese aus dem Handgelenk heraus nach der Maus warf – und diese traf, bevor sie sich unter dem Buffet verkriechen konnte.

Da lag sie also. Vom Treffer niedergestreckt, betäubt. Ich war doch tatsächlich stolz – und keine Katze weit und breit, um diesen Erfolg zu honorieren und aufgrund dessen einzusehen: Hey, Mauz, ich brauche keine Mäuse mehr anzubringen. Jagen können sie jetzt selbst! Wobei. Um dies zu erreichen müsste ich unter den gestrengen Augen unserer Katze der Maus wohl den Kopf abbeißen. Erst dann ist der Erfolg wirklich gesichert…

Ich brachte die Maus in den Garten, zeigte sie meiner Liebsten, die mit einer deutlich sichtbaren Gänsehaut auf ihrem Arm ihre Verbundenheit demonstrierte und trug die Maus in die hinterste Ecke des Grundstücks, ließ sie, die sich mittlerweile wieder regte, ins Gebüsch entschwinden. Von unserer Katze war weit und breit nichts zu sehen. Gut. Vielleicht lernen ja auch Mäuse, und diese wandert ganz weit weg. Und ihre Nachkommen haben eine genetische Abneigung, sich unserem Grundstück zu nähern. Dann ging ich zurück Richtung Küche, wollte doch meiner Liebsten einen Kaffee machen und mir ein Glas Wasser holen.

Schon als ich vom Garten ins Haus trat, hörte ich den Radau. Mauz, Mauz! Took, took, took! Flatter, flatter, mauz. Unsere Katze hatte einen Buntsprecht, vielleicht sogar den, den ich noch nicht lange zuvor gehört hatte, gefangen, in unsere Küche gebracht und dort fliegen lassen. Interessiert beobachte sie, während sie auf der Fensterbank hockte und zur Anregung des Geschehens locker noch dem Vogel schlug, wie der prächtige Specht am Fensterglas flatterte, mit seinem Schnabel gegen das Glas hämmerte. Dann kam ich dazu. Unsere Katze legte den Kopf schräg, sah mich an. Sollte das heißen: So jetzt beweise dich!?

Ich fing den Vogel. Biss ihm nicht den Kopf ab. Ich ließ ihn draußen fliegen, während unser Exorzist missmutig Laut gab. Und ich wusste, weitere Lektionen werden folgen…

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Das wollte ich doch einmal gesagt haben

Ralf_Sommer
Einsam und traurig ist des Dichters Herz,
Denn zu wahrer Dichtung gerinnt nur Schmerz.
Und wenn er einmal glücklich ist,
Er den Schmerz schon bald vermisst…

Glücklicherweise ist dem nicht so – oder anders gesagt, stammen diese Worte auch von mir, so fühle ich mich als Schriftsteller nicht einsam. Und dafür möchte ich Danke! sagen.

Meiner Liebsten.
Meinen Freunden.
Meiner Familie.
Meinen Leserinnen und Lesern.

Den Damen und Herren in den Printmedien, die sich bisher für meine Arbeit interessierten und mich zu Interviews einluden.

Den Damen und Herren des Literaturbetriebs, die in der Vergangenheit Geschichten und Gedichte von mir in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht haben.

Den Menschen in der großen weiten Webwelt, die mich, seitdem ich mich hinaus gewagt habe, unterstützen. Mit ihren Klicks, mit ihrem „Gefällt mir“, ihrem „Teilen“, ihrer Kritik, ihren Ratschlägen und Anregungen (danke Johannes!). Mit den mir angebotenen Chancen, mehr Leserinnen und Leser zu erreichen.

Besonders bedanken möchte ich mich in diesem Zusammenhang bei Jenny, Tanja, Kathrin und vor allem Katharina, deren Sicht auf meine Schreibe und ihr Interesse an meiner Arbeit, mich sehr froh gemacht haben und machen.

Bedanken möchte ich mich auch bei Autorenkollegen, deren Unterstützung mir viel bedeutet und deren Art zu schreiben und mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren, mich anregt (namentlich Jürgen und Lutz).

Was damals mit einer kleinen Geschichte in einer Niederrhein-Anthologie begann (danke nochmals Jürgen!), meiner ersten Veröffentlichung in einem richtigen Buch, hat schließlich durch die Möglichkeiten vor allem des eBooks weitere Kreise gezogen – und ich hoffe natürlich, meine Geschichten ziehen noch größere Kreise.

Ein steter Fall so’n Dichter Leben,
So ist das eben.

Oder eben nicht.

Danke dafür! Das wollte ich doch einmal gesagt haben.

Euer Ralf

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