„Der Tod des Autors“

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Dies war eindeutig einer der aufregendsten Tage meines bisherigen Lebens. Selbst jetzt noch, nachdem endlich alles gut ist, treibt es mir, denke ich an jenen Tag, den Puls in die Höhe. Kein Wunder, schließlich war es nicht nur einer der aufregendsten Tage meines Lebens, es war auch mein Letzter. Denn dort in dieser Telefonzelle in Konstanz, auf dem mit Schmutz und kalten Pommes bedeckten Boden, bin ich gestorben.

Allerdings habe ich diese entscheidende Wende in meinem Leben nicht sogleich bemerkt. Es musste erst jemand kommen, mir die Augen öffnen und meinen gefesselten Geist befreien. Nicht unbedingt etwas, für das man sich rühmen könnte. Bin nicht gerade als leuchtender Stern zu Boden gestürzt. Aber es ist nicht einfach, ein Ende großen Stils zu finden. Doch was soll’s, letztlich hat Imperia, trotz allem, was mir zugestoßen ist, ja gerade wegen all dem, Recht behalten mit ihrer Bemerkung, dass Konstanz mir gut tun würde. Zwar musste ich erst sterben, um zu verstehen, bzw. musste verstehen, dass ich gestorben bin, um endlich einzusehen, wie ich mein Leben zu leben habe. Aber besser spät als nie. Der Autor ist tot, lang lebe der Autor!

Diese meine Aufzeichnungen kommen somit bald an ihr Ende. Sie haben ihre Aufgabe erfüllt. Nun da Es dort wurde, wo zuvor Ich war, brauche ich die Leiter nicht mehr. Doch der Vollständigkeit halber hier also das Ende meines alten Egos, ein Ende, dem glücklicherweise der Zauber des Anfangs innewohnt.

Nachdem ich mich vom Boden der Telefonzelle erhoben hatte, war ich mit eingezogenem Kopf wie ein geschlagener Hund, begleitet von diesem Kichern, das von überall her zu kommen schien, durch die Gassen der Konstanzer Altstadt zu meiner Pension gehumpelt. Gezittert vor Angst hab’ ich. Schließlich rechnete ich jeden Augenblick damit, dass sich mir etwas in den Weg stellen würde. Was aber nicht geschah, obwohl ich in meinem Kopf eine Stimme hörte, die (was sonst!) This is the end, my friend! sang. Zwar wunderte ich mich, dass die sich nur mehr auf höhnisches Kichern beschränkten und dass selbst dies verstummte, als ich die Tür meines Pensionszimmer hinter mir verschloss, aber eigentlich war ich dermaßen erleichtert, den Kopf so gerade eben noch aus der Schlinge gezogen zu haben, dass mir das Wieso? Weshalb? Warum? ganz unphilosophisch egal war. Drinnen ist gut, draußen ist schlecht. So einfach ist das. Dachte ich.

Es war nicht so einfach. Ich war ängstlich. Ich war geräuschempfindlich. Ich hatte Rückenschmerzen. Ich fühlte mich eingesperrt. Und es wurde schlimmer von Stunde zu Stunde. Das Schreiben half schließlich nur noch bedingt. Ich versuchte mir einzureden, dass ich in meinem Zimmer sicher bin, dass ich nur ausharren muss, bis ich eine Lösung finde. Es half nichts. Der Eindruck, dass meine ganze Existenz an einem hauchdünnen Faden hängt, der mir zudem mehr und mehr aus den Händen gleitet, wurde immer stärker. Ich ahnte, dass ich meinen Zufluchtsort und die relative Sicherheit, die er mir bot, bald würde verlassen müssen und glaubte, dass es gelinde gesagt gut wäre, bis dahin eine Antwort auf die Frage zu haben: Wie werde ich die los?

Auf die Unscheinbare brauchte ich nicht mehr zu hoffen. Das Thema war endgültig durch. Schon allein deswegen, weil ich mein Zimmer nicht verlassen wollte, um mich in Wuppertal auf die Suche zu machen. Zudem hatte ich ja ihre Telefonnummer vergessen.

Ich war auf das Höchste angespannt. Zerbrach etliche Male, während ich meine Erlebnisse zu Papier brachte, unwillkürlich den Bleistift zwischen meinen Fingern. Ein paar Mal war ich sogar – wie ich zugeben muss – beinahe so weit, mich einfach in die Ecke zu kauern, den Rest meiner Schmerztabletten zu schlucken und bitterlich weinend dem Selbstmitleid freien Lauf zu lassen. Dann soll mich halt der Teufel holen!

Er hatte mich schon längst geholt. Es war wirklich die Hölle, in der ich mich quälte, meine ganz persönliche Hölle. Über ihrem Eingang hatten weder die Worte Der, der du hier eintrittst, lass’ alle Hoffnung fahren! gestanden, noch war sie ein geordnetes, geometrisches Gebilde, das strengen Regeln gehorchte, angefüllt mit unzähligen, sündigen Seelen. Nein, in meiner Hölle war ich allein, allein in einem Durcheinander von Gedanken, das ich durch ein Portal betreten hatte, auf welchem die Worte standen: Wieso? Weshalb? Warum? Nicht auszudenken, wenn meine Seele in dieser Finsternis verharrt hätte, wenn ich auf meinem Weg, den ich zugehen hatte, weiterhin auf halber Strecke stehen geblieben wäre…

Aber glücklicher- und überraschenderweise bekam ich einen Führer zur Seite gestellt, der mich ins Licht führte. Doch bevor mir die Erlösung zuteilwurde, wurde mein Nervenkostüm noch auf eine letzte Probe gestellt. Ich beschrieb gerade meinen Zusammenbruch in der Telefonzelle auf der Marktstätte, da klopfte es an meiner Tür. Mein Herzschlag setzte einige Male aus, der Stift glitt mir aus den Händen, ich sah ihn wie in Zeitlupe fallen. Ich weiß noch, dass ich erwartete, ihn mit einem riesigen Getöse aufprallen zu hören, aber er blieb, ohne ein Geräusch zu machen, auf dem Teppich liegen. Auch ich blieb leise. Öffnete zwar meinen Mund zu einem Aufschrei, aber kein Laut kam über meine Lippen. Allmählich drang wie durch Schleier die leise, freundliche Stimme meiner Zimmerwirtin, die meinen Namen rief, an mein Ohr. Und nachdem ich es geschafft hatte, mich halbwegs wieder zu beruhigen, nicht ohne misstrauisch ein Ohr an die Zimmertür gedrückt, diese Stimme auf ihre Echtheit hin abzuhorchen, öffnete ich vorsichtig meine Tür. Es dauerte keine zwei Minuten, und ich bereute diesen Schritt. Überbrachte meine Vermieterin mir doch nichts anderes als die Nachricht, dass ich mein Zimmer am nächsten Morgen um zehn Uhr geräumt haben müsste, da sie schon länger Reservierungen vorliegen habe.

Früher oder später hatte es passieren müssen. Und mit der Wahl meines Zimmers hatte ich Glück gehabt. Andere Zimmerwirte hätten mich wahrscheinlich schon längst auf die Straße gesetzt. Schon nach den ersten Schreien. Trotzdem war ich geschockt, als mir meine Vermieterin das Unvermeidliche mitteilte. Im ersten Impuls hätte ich die zierliche, ältere Dame beinahe an ihrer Strickjacke gepackt und hinausgeworfen, um mich anschließend in meinem Zimmer zu verbarrikadieren. Ich tat dies natürlich nicht. Vielmehr fügte ich mich in mein Schicksal. Ich legte mich ins Bett, schlang die Decke um mich, bis ich beinahe so eng eingepackt war wie zu Gipsbett-Zeiten, und atmete gegen meine Rückenschmerzen an. Kurz: Ich hoffte auf ein Wunder. Doch als es wirklich eintraf, hätte niemand überraschter und überwältigter sein können, als ich es war.

2.

Regen prasselte gegen die Jalousie vor dem Fenster. Es donnerte. Blitze drangen durch Ritzen der Jalousie, die ich seit Tagen heruntergelassen hatte. Der stürmische Wind wehte Kirchenglockengeläut herbei. Es klopfte an der Tür. Nein! schrie ich auf, wähnte ich doch schon den Moment gekommen, da ich meine Zuflucht verlassen musste.. Nein, murmelte ich, die Decke über den Kopf ziehend, beruhige dich, es war nur ein Donner! Aber da konnte ich noch so oft beschwörend Es donnert! Nur der Donner! murmeln, daran, dass da jemand (oder ein Etwas?!) an meine Tür klopfte, ja, hämmerte, führte kein Weg vorbei. Took! Took! TOOOOK! Es war unüberhörbar. TOOOOK! Und dann…?! Ja, und dann rief plötzlich diese Stimme: »Jung’, ich weiß, dass du da drin bist! Mach’ schon! (ich traute meinen Ohren nicht) Oder willst du mich hier draußen verschimmeln lassen? (konnte das sein?) Du musst mich schon reinlassen (seine Stimme?) Jung’! Sonst wird das nix!« Took! Took! (und was, wenn es ein Trick ist?) Doch da hatte ich mich bereits gegen alle Vorsicht von der Aussicht überwältigen lassen, dass es wahr sein könnte, und die Tür geöffnet.

Und es war wahr. Mir war, als würde ein riesiger Stein von meinem Herzen gerollt. »Junge, Junge, Holland ist ganz schön in Not, was?!«, bemerkte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht, dann rollte mein Opa in mein Zimmer hinein, »Aber wo viel Feind, da viel Ehr!« Opa rollte am Bett vorbei zum Fenster, »Also Jung’, jetzt heißt‘s den Arsch zusammengekniffen und durch!«

Er zog mit einem Ruck die Jalousie hoch. Als es in diesem Moment blitzte es, sank ich ehrfürchtig in die Knie. Das plötzlich aufflammende Licht ließ Opas Gestalt auf ein Vielfaches ihrer Größe anwachsen. Einen Moment lang schien er im Licht zu schweben. Dann forderte er mich auf, mich neben ihn auf den Boden zu setzen: »Jung’!«, sagte er mit Nachdruck, seine Hand auf meine Schulter legend, »was ich dir nun erzählen werde, wird dir nicht gefallen, jedenfalls anfangs nicht! Also hör’ gut zu! Unterbreche mich nicht, es sei denn, ich stelle dir eine Frage! Hast du verstanden?« Da ich kein Wort über die Lippen brachte, nickte ich nur. »Gut!«, meinte Opa zufrieden, »so soll es also sein!«

Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und sprach: »Ich bin hier, um dir die Augen zu öffnen. Du stehst an einem Scheideweg, und ich wurde geschickt, um dir die Wahl zu erleichtern. Wohlgemerkt nicht, um dir die Wahl abzunehmen. Denn der Herr legt Wert auf freie Willensentscheidungen. Der freie Wille ist geradezu das Fundament Seiner Herrschaft!«

Opa musste bemerkt haben, dass ich nach der Identität dieses Herrn fragen wollte, denn er schnitt mir mit einer unwirschen Handbewegung das noch nicht erhobene Wort ab.

»Ich muss nicht hier sein!«, sagte er dann, und er sagte es in einem ziemlich ruppigen Tonfall, »Du hast die Wahl! Kannst mich sagen lassen, was ich zu sagen habe! Oder (er packte die Räder seines Rollstuhls und machte mit ihm eine Bewegung hin zur Tür) es bleiben lassen!« Als Antwort klammerte ich mich am Rollstuhl fest und legte meinen Kopf ergeben an eine seiner Hände, die gelassen auf den Rädern ruhten. »Jung’, Jung’!«, meinte mein Opa dann, wieder mit sanfter Stimme, mir dabei eine Hand auf die Schulter legend, »keine Sorge, das kriegen wir schon hin! Lass’ das mal den Opa machen! Und jetzt lass’ los!«

Ich tat wie geheißen, und Opa rollte zum Tisch. Dort nahm er meine Aufzeichnungen zur Hand, er schien ihr Gewicht abzuschätzen. Dann klopfte er mit dem Handrücken auf den Stapel Papier: »Erstmal: Respekt, einen solchen Stapel zustande zubringen! Aber du redest bis zum bitteren Ende dermaßen um den heißen Brei herum, dass man dir am liebsten den ganzen Schinken um die Ohren hauen möchte! Und ich denk’ die ganze Zeit: Ist das mein eigen Blut? Anfangs ist dieses Rumlavieren noch witzig, aber irgendwann reicht es einem und man will, dass du die Hosen herunterlässt!«

Opa blätterte mit ernstem Gesicht in meinen Aufzeichnungen herum: «Ach Jung’, warum hast du es nicht wenigstens einmal ausgesprochen? Es tut mir in der Seele weh, dies sagen zu müssen, aber es sieht ganz danach aus, als seist du ein Schwätzer! Und einen Maulhelden hatte ich damals, als ich von den Dichtern und Denkern sprach, nun wirklich nicht im Sinn. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dass alles erstunken und erlogen ist, die Kopfgeburt eines frustrierten Philosophiestudenten. Oder liegst du vielleicht noch immer in deinem Gipsbett? Bist ihm nie entronnen? Gefesselt von deinem schmerzenden, deformierten Rücken hast du dir ein anderes Leben zusammen gesponnen. Bist du ein Schwätzer? Ist Deine Schwester etwa noch springlebendig? Leben Deine Eltern vielleicht noch? Sucht Udo etwa immer noch seine Rockbitch? Und überhaupt die ganzen Mädchen und Frauen? Was ist zum Beispiel mit Carmen? Lässt sie sich immer noch von ihrem neuen Lover vernaschen? Hast du vielleicht nur das Tier im Rhetorikerpelz gespielt?«

Mir fiel zwar nichts zu meiner Verteidigung ein, aber unwidersprochen wollte ich die Worte auch nicht lassen. So sprang ich auf und sprach: »Aber…!« Doch Opa wischte meinen Widerstand mit einer Handbewegung weg: »Das waren keine Fragen, auf die du antworten sollst! Spitz’ die Ohren!« Er schlug auf meine Aufzeichnungen: »Unfälle! Ha! Selbstmorde!«, und schlug, »Zufälle! Nichts als Andeutungen und Zweideutigkeiten! Warum redest du kein Tacheles? Was glaubst du? Jetzt antworte!«

In meiner Verwirrung fiel mir aber nichts weiter als eine Gegenfrage ein: »Carmen? Lässt sie sich wirklich immer noch von diesem Typ vernaschen?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, wusste ich auch schon, wie dumm dies von mir gewesen war, und zog, in Erwartung einer deftigen Rüge, den Kopf ein. Opa aber kicherte und rief theatralisch aus: »Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel! Vom Himmel!«, lachte er und rutschte ganz außer sich auf seinem Sitz herum, »Vom Himmel, ha! Das ist gut!« Schließlich beruhigte er sich wieder: »Spaß beiseite! Du weißt so gut wie ich, dass man in dem Bett, in dem dieses Weibsstück heute liegt, nur noch von Würmern vernascht wird! Um uns aber weitere Peinlichkeiten zu ersparen, will ich dir nun sagen, weswegen die Kacke am Dampfen ist, stärker am Dampfen, als es dir klar ist und lieb sein kann!«

Während Opa die letzten Worte aussprach, bekam seine Haut etwas Durchscheinendes, und einen schrecklichen Augenblick lang meinte ich, Würmer unter seiner Haut wimmeln zu sehen. Doch dieser grausige Eindruck verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war, denn nun sprach Opa mit feierlichem Nachdruck in der Stimme:

»Um es in deiner Sprache auszudrücken: Es ist der Wurm des schlechten Gewissens, der an dir nagt! Der an dir nagt, seitdem du begonnen hast zu tun, was du tun musst! Du leidest an der Erbsünde des Bösen, von der man sich nur in einem reinen Akt der Bosheit befreien kann. Und zu dieser reinen, unverstellten Bösartigkeit warst du bislang nicht fähig. Das ist es, was dein Buch auf Schritt und Tritt offenbart. Es ist das schlechte Gewissen, das den Ton angibt, und deswegen – und jetzt setzt du dich besser wieder hin – bist du letztlich zerbrochen!

Ja, mein Junge, zerbrochen! Da kannst du noch so ungläubig gucken! Glaubst du wirklich, dein alter und vor allem toter Opa wäre hier, wenn nicht etwas wirklich Einschneidendes vorgefallen wäre?«

[…]

Cover_Abschied_Boscher_kleinEnde der Leseprobe aus Boschers Roman „Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“ (Neuntes Kapitel „Der Tod des Autors“, in der Taschenbuch-Ausgabe des Romans die Seiten 219-225).

Liebe, Lust und Leichen im Keller. Leben und Sterben zwischen Nietzsche, dem Niederrhein und der Müllverbrennungsanlage in Wuppertal, in einer Nebenrolle: die Imperia in Konstanz außer Rand und Band.

Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman

„Abschied ist ein scharfes Schwert“ ist ein ungewöhnlich erzählter, an Ironie reicher Mordsroman über einen Schriftsteller und einen Fan, über Gewalt und Gier, Tod und Wiederauferstehung. Eine Lebensgeschichte voller skurriler, ja grotesker Momente. Wir begegnen interessanten Charakteren (mit meist nur kurzer Lebenserwartung) und dämonischen Gestalten. Würzig abgeschmeckt wird das Ganze mit einem Hauch von Philosophie, einem satten Pfund Sex and Crime, einer guten Prise Wahnsinn und zwei Messerspitzen Horror.

„Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman“ – ein Buch, das in vielen Genres wildert.

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