Inspiration – Daimon oder Dämon? Neknomination, Kunst und Religion

Inspiration
Ist es wirklich so viel verrückter, sich von der Idee, dass es cool und mitteilenswert sei, ein Bier vor der Kamera zu kippen, inspirieren zu lassen, wie von einem brennenden Dornbusch, aus dem eine Stimme erschallt?

Was inspiriert uns? Bringt uns dazu, etwas Ungewohntes zu tun, vielleicht eine neue Sicht der Dinge einzunehmen. Inspiriert uns dazu, etwas zu malen, Musik zu schöpfen, Geschichten zu schreiben?

Menschen? Eine Idee, ein Anblick, ein Gefühl? Ein Moment der Begeisterung oder des Staunens?

Was inspiriert viele, einen halben Liter Bier auf Ex zu trinken und sich dabei zu filmen? Oder ist es hier verfehlt, von Inspiration zu sprechen?

Die Wikipedia vermerkt zum Stichwort „Inspiration“: „Unter Inspiration (von lat.: inspiratio „Beseelung“, Einhauchen von spiritus „Leben, Seele, Geist“) versteht man allgemeinsprachlich eine Eingebung, etwa einen unerwarteten Einfall oder einen Ausgangspunkt künstlerischer Kreativität.“

Inspiriert zu sein bedeutet demnach, von etwas beseelt zu sein.

Die alten Griechen haben dies mit dem Gedanken des daimon ausgedrückt. Der daimon, oft auch als eine Art Geistwesen gedacht, offenbart uns unsere Bestimmung, zeigt uns den Weg, den wir gehen sollen. Berühmt ist Sokrates‘ Rede von einer „göttlichen Stimme“, die ihm hilft auf dem ihm angemessenen Weg zu bleiben.

Von diesem Wort, dieser Art, beseelt zu werden, zum christlich gedachten Dämon, der in einen fährt, war es dann nicht weit.

Aber ob göttliche oder dämonische Eingebung – Inspiration als „Beseelung“ gedacht hat immer auch einen irrationalen Touch. Hier geschieht etwas, dass mit Vernunft allein nicht zu fassen ist.

Ein Gedanke, der im künstlerischen Bereich vor allem seit der Romantik sehr verbreitet ist – und das läuft uns kreativ Schaffenden ja auch gut rein. Die fast göttliche Energie, die sich – kaum fassbar – dann in einem inspirierten Werk niederschlägt. Kurz: das Genie. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei mir.“

Im religiösen Bereich war Inspiration schon immer irrational. „Von Gott geschlagen“. Es ist noch nicht lange her, dass in unserem Kulturkreis bestimmte, heute als Krankheiten eingeordnete Verhaltensweisen oder körperliche Gegebenheiten, als „göttliche Inspiration“ interpretiert wurden.

Und hier wie dort war und ist der Grad zwischen „göttlicher Eingebung“ und „dämonischen Einflüsterungen“, zwischen daimon und Dämon schmal.

Und hier wie dort sind Inspiration fördernde Maßnahmen nicht weit. Im religiösen Bereich zum Beispiel extremes Fasten, körperliche Kasteiung aber auch gewisse Substanzen, die mystischen Erfahrungen den Boden bereiten. Im künstlerischen Bereich spielen vor allem Drogen die Rolle von Maßnahmen, die Inspiration fördern sollen. Und das nicht nur bei Musikern („Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll“). Harte Drogen, harter Alkohol, weiche Drogen, weicher Alkohol – aber von allem immer viel. Bei Schriftstellern spielt vor allem der Alkohol eine große Rolle – und sie wird sowohl im Sinne des daimon wie auch das Dämon thematisiert.

Kurz: Inspiration und ungesunde Substanzen sind schon lange miteinander verquickt. Gerne auch überhöht, Stichworte: „Club der 27“ oder die im Sinne einer Hagiographie geschilderten Lebensläufe etwa von Hemingway, Bukowski etc.

Ist es also vor diesem Hintergrund falsch im Falle des „Neknomination“ von Inspiration zu sprechen?

Bedeutet Inspiration nicht auch Nacheifern, Nachahmen, dem Impuls folgen, den uns jemand anderer eingegeben hat? Wie ausgeführt, ist, wenn man beseelt ist, immer auch ein geschüttelt Maß Irrationalität im Spiel.

Oder um es mit den Monty Python zu sagen: „Folgt der Sandale!“ „Folgt dem geexten Bier!“ Folgt dem, diesem oder jenem. Alles Sandalen. Alles Stimmen aus einem Dornbusch, denen man nachfolgt.

Nun gut, künstlerische und religiöse Inspiration würde man eigentlich nicht als „Bierlaune“ abtun.

Aber wo ist der Unterschied?

Wie Wikipedia vermerkt, versteht man unter Inspiration „einen unerwarteten Einfall oder einen Ausgangspunkt künstlerischer Kreativität.“

Sind die Entwicklungen, welche die Videos im Zeichen des „Neknomination“ durchlaufen, etwa nicht kreativ?

Immer ausgefeilter, ungewöhnlicher, die ursprüngliche Idee variierend, kreativ ausformend kommen die Videos daher. Nicht zu vergessen, die Videos, in denen sich die ursprüngliche Idee ablehnende Gedanken manifestieren. Also eine Art negative Inspiration. Die Bildsprache der Neknomination-Videos wird aufgegriffen, um das Trinkspiel zu kritisieren.

Also: Dem „unerwarteten Einfall“ folgen Taten, beim Trinkspiel wie auch im Bereich der Kunst oder Religion. Zunächst Taten der puren Nachahmung, noch nah an der ursprünglichen Idee. Dann wird die ursprüngliche Idee kreativ erweitert, es gibt Variationen. Vielleicht werden dann die einmal anfangs gegebenen Regeln anders interpretiert. Zum Teil bleibt als Anknüpfung nur noch die Symbolik der ursprünglichen Idee, die in einen ganz anderen Sinnzusammenhang transformiert wird.

Aus dem Trinkspiel wird ein Anti-Trinkspiel. Aus dem Roman der Romantik wird der Naturalismus, wird… Aus der Stimme des Dornbusch wird das Neue Testament.

Inspiration. Ein interessantes Thema. Weil es auch immer ein Thema ist, dass an herrschenden Meinungen hängt. Die herrschende Meinung sagt: Dieser Roman ist gut, er ist inspiriert! Die herrschende Meinung sagt: Dieses gehört zum Kanon, das aber zu den Apokryphen. Die herrschende Meinung sagt: Neknomination ist ein gefährlicher Ulk.

Und liegt die herrschende Meinung etwas nicht richtig?

Vielleicht ist Inspiration ja nicht nur ein interessantes Thema, sondern auch ein gefährliches?

Weil Inspiration ohne Verstand verpufft. Weil bei den meisten und meistens auf einen Moment der Inspiration nur ein „folgt der Sandale“ nachfolgt. Weil wir uns nicht klar machen, was uns in diesem Moment anrührt:

Daimon oder Dämon?

Lassen wir uns verführen, an der Nase herumführen? Rennen wir kopflos einem Trend hinterher? Ein Schaf unter anderen Schafen. Dem Gruppenzwang unterworfen. Leichtes Futter für alle, die die Sandale nur hoch genug halten, sie laut genug schwenken?

Oder erleben wir wahrhaft einen Moment, der unser Leben ändert? Ändert, weil wir einen tieferen Einblick in unsere Bestimmung, unseren Lebensweg, unser Schicksal, unsere Bedürfnisse gewonnen haben. Und nicht, weil die Folgen einer kopflosen „Folgt der Sandale“-Handlung gravierend sind?

Was inspiriert uns wirklich, wahrhaftig? Ich denke: es ist die Sehnsucht. Oder genauer: Was uns beseelt, is das Gefühl, einen Weg entdeckt zu haben, auf dem unsere Sehnsucht gestillt werden kann. Zum Beispiel: Die Sehnsucht danach, an etwas Besonderem teilzuhaben. Oder: Die Sehnsucht dazu zugehören. Die Sehnsucht, etwas Besonderes aus seinem Leben machen zu können. Etwas Besonderes erschaffen zu können. …

Und Menschen, die Sehnsucht in sich tragen, sind ebenso leicht verführbar wie sie zu Großem fähig sind.

Ob wir also ein Bier exen oder mit einem Roman beginnen – hier handelt unsere Sehnsucht. Und immer bleibt die Fragen: Wonach sehnen wir uns? Und: Ist es daimon oder ein Dämon, der uns hier die Hand führt?

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