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Historisches: Es geschah Anno Domini 1983 – „Eine Gesellschaft“, die erste Kurzgeschichte von Ralf Boscher

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Eine Gesellschaft

1. Mit der ihm eigenen ruhigen Arroganz gab Hermann der Maior Domus einige letzte Anweisungen und sorgte dafür, dass alles nach den Wünschen seiner Herrin hergerichtet wurde. Unter seinem strengen Blick eilten zwischen den Säulen der in weißem Marmor gehaltenen Halle weißgekleidete Bedienstete geschäftig hin und her. Manche hielten in ihren behandschuhten Händen silberne Schüsseln angefüllt mit kulinarischen Delikatessen aus allen Teilen der Erde. Andere trugen in kleinen Gruppen die Blumendekoration an die vom Maior Domus dafür ausgesuchten Stellen. Wieder andere stellten begleitet von Gezwitscher eine Voliere mit Singvögeln auf. Instrumente wurden herumgetragen, der Violinist des Kammermusikensembles spielte sich ein. Endlich klatschte Hermann in die Hände. Stille trat ein. Einen kurzen Moment verstummten sogar die Vögel. Es war Zeit, dass jeder an seinen Platz ging. Das Fest konnte beginnen.

Limousinen fuhren vor. Portiers bemühten sich um die geschätzten Gäste: Würdevoll öffneten sie die Wagentüren und verhalfen den Damen der Gesellschaft zu einem angenehmen und angemessenen Ausstieg, geleiten sie und ihre Männer oder Begleiter in die Villa hinein. Kammermusik erklang dezent aus wohl gepflegten Instrumenten. Die Empfangshalle erstrahlte durch die vielen Lichtreflexe, die die Geschmeide der Damen zauberten. Champagner wurde gereicht. Leise unterhielt sich die wachsende Zahl Gäste. Der Umgang war würdevoll und dezent. Nur selten war ein leises Lachen zu hören, während alle auf das Erscheinen der Hausherrin und Gastgeberin warteten.

Dann erschien sie auf der großen Treppe und schritt langsam die Stufen hinunter. Die Dame des Hauses trug eine goldfarbene Komposition, winzige eingearbeitete Edelsteine funkelten im Schein der Lampen. Das enganliegende, tief dekolletierte Oberteil und der glockenförmige Rock untermalten vollendet ihre immer noch erstaunlich wohlgeformte Figur. Sie war beliebt. Niemand der Anwesenden würde angesichts ihrer Figur und ihres faltenfreien Gesichtes das Wort „erstaunlich“ verwenden und davon sprechen, dass nur ihre Hände ihr wahres Alter verraten würden, wenn sie denn nicht Handschuhe trüge.

Lange nahm sie am Fuß der Treppe Gratulationen, Komplimente und Geschenke entgegen, die ihr, sobald der jeweilige Gratulant weitergezogen und sich dem üppigen Buffet zugewendet hatte, Hermann, der neben ihr stand, aus den Händen nahm. Alsdann eilte ein Angestellter herbei, nahm das Geschenk von Hermann entgegen und trug es zu den anderen in einen Nebenraum.

„Charles!“
Endlich trat der Letzte in der langen Reihe Gratulanten zu ihr.
„Elvira, ich bitte dich mein spätes Auftreten zu entschuldigen!“
„Charles, das ist doch nicht von Belang. Es liegt mehr in meinem Interesse, dass du überhaupt den Weg zu mir gefunden hast.“
„Elvira, ich danke dir für deine Nachsicht, du weißt doch, zu dir finde ich immer einen Weg.“
Die Hausherrin kicherte wie ein kleines Kind, wobei ihre Augen ohne ein Zeichen von Vergnügen das Geschenk betrachteten, welches ihr Gast ihr entgegenhielt.
„Meine Liebe, ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Ich hoffe du freust Dich, es ist schwer etwas zu finden, das der Bedeutung deines Geburtstages angemessen ist.“
„Parfüm Charles, wie lieb. Aber es steht ja gar nichts auf dem Flakon?“
„Es ist etwas ganz Besonderes, Elvira. Ich habe es aus Istanbul mitgebracht!“
„Oh ja, sehr exotisch. Danke!“
Elvira nahm den Flakon entgegen, betrachtete ihn kurz und verabschiedete sich dann von ihrem Gast.
„Du verstehst! Ich muss mich auch um meine anderen Gäste kümmern…“
Charles nickte ergeben und entfernte sich.
Elvira reichte das Flakon mit spitzen Fingern an Hermann weiter.
„Kümmern sie sich um das Parfüm“
„Sehr wohl gnädige Frau. Gerne.“
Dann nahm sie ein Bad in der Menge.
„Herr Bürgermeister, fühlen Sie sich wohl? Kümmert man sich auch um sie?“
„Danke der Nachfrage, Ich kann mich nicht beklagen. Ihre Angestellten umsorgen uns ja wirklich sehr umsichtig. Übrigens, eine sehr hübsche Idee die Voliere aufzustellen. Ist es nicht wunderbar, wie beruhigend doch Vogelgezwitscher auf den Menschen zu wirken vermag?“
„Durchaus, Herr Bürgermeister, durchaus…“

2. Hermann öffnete unterdessen im Keller der Villa eine Stahltüre, die mit Sicherheitsschlössern verriegelt war. Er schaltete das Neonlicht ein und betrat das hellgrün eingerichtete Labor. Hier hielt er sich gerne auf, denn er liebte die Ruhe hier unten. Hermann stellte das Parfüm-Flakon auf dem Labortisch ab und ging zu den ebenfalls hellgrünen Kästen, welche an der Wand angeordnet waren. Im Gehen zog er sich sterile Handschuhe an, dann öffnete er einen der Kästen und nahm eine junge Katze heraus.
„Komm, du darfst heute der gnädigen Frau dienen!“
Er ging, das Kätzchen, welches zitterte, mit seinen Handschuhen streichelnd, zu dem Labortisch und freute sich:
„Wie wenig Ärger ihr doch macht, wenn euch Krallen und Zähne fehlen.“
Auf dem Tisch stand eine glänzende, stählerne Vorrichtung, und in diese hob er jetzt die Katze hinein. Klammern schlossen sich sorgfältig um ihre zitternden Gliedmaßen und ihren Kopf. Hermann markierte dann einen Ausschnitt bestimmter Größe auf dem Rücken der Katze. Diesen schnitt er sorgfältig mit einem Skalpell aus.
Hermann genoss, während er mit geübten Handgriffen zu Werke ging, die Stille, die nur unterbrochen wurde, wenn er mit einem Tuch die Klinge freimachte von Blut, Haut und Haaren. Da der Katze die Stimmbänder durchtrennt worden waren, störte sie die Ruhe nicht. Nachdem Hermann die Fläche freigelegt hatte, setzte er kleine Klammern an den Augenlidern der Katze an, um die aufgerissenen Augen sicher offenzuhalten. Dann öffnete er den Flakon, zog mit einer Pipette eine genau abgemessene Menge des Parfüms auf und tröpfelte diese in die offene Wunde und in die blauen Augen. Anschließend verschloss Hermann den Flakon, jetzt musste er warten und beobachten. Dazu setzte er sich auf einen Stuhl, von dem aus er die Katze im Blick hatte. Aber er ließ sich nicht nieder, ohne sein Jackett abzulegen.

3. „Finden Sie das nicht schrecklich?“
„Aber sicherlich, und er soll auch seine Kinder geschlagen haben?“
„Aber ja, ich weiß es von ihr!“
„Ich finde es erschreckend, wie sehr in unserer Welt die Brutalität zugenommen hat. Ja, Hermann? Treten Sie heran!“
„Gnädige Frau, ich habe mir erlaubt, das Geschenk in der gnädigen Frau Schlafzimmer bringen zu lassen!“
„Danke Hermann. Sie können gehen. Wo waren wir noch verblieben? Ach es kommt mir wieder in den Sinn. Glauben Sie nicht auch, dass unsere Welt immer grausamer wird? Also neulich, da haben Sie das Auto meiner Schwester…“

4. Früher Morgen, der angefallene Abfall der Gesellschaft wird aus dem Haus entfernt und in einen großen Müllcontainer, der hinter einem Wirtschaftsgebäude abseits der herrschaftlichen Villa steht, hineingeworfen. Viele Angestellte gehen oft zum Container, aber niemand bemerkt das sich ab und zu leicht bewegende Etwas in einer der Abfalltüten.

Ende

Lange ist es her, dass ich meine erste Kurzgeschichte schrieb. Hier das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. „Eine Gesellschaft“, geschrieben 1983.

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Mit viel Pommes weiß rot… eine Familiengeschichte: „An einem Sonntag im Hallenbad“

Ralf Boscher -Pommes
An einem Sonntag im Hallenbad

1. Der sechsjährige Jan rutschte vor Aufregung auf dem Rücksitz hin und her, der betagte, aber tüchtige VW-Käfer vibrierte unter seinem schmächtigen Hintern, als sie über den Hügel nach Rheurdt hineinfuhren. Hui, machte Jan, den Fahrtwind imitierend, als sein Vater den Käfer den Hügel hinabrollen ließ und dieser bergab Geschwindigkeit aufnahm. Jetzt nach rechts abbiegen. Jan kannte die Strecke mittlerweile genau. Seit einigen Wochen fuhren sie jeden Sonntagmorgen hier entlang. Dann noch durch ein paar schmale Straßen, und schließlich lag es am Ende einer langen Geraden vor ihnen: Das Rheurdter Hallenbad. Vater Hoen stellte den Käfer auf einem der letzten freien Plätze auf dem Parkplatz ab. Jan konnte es gar nicht erwarten und krabbelte auf den Beifahrersitz. Dann stiegen sie aus. In der kühlen Herbstluft lag bereits der typische Geruch von Chlor und einer satten Prise Desinfektionsmittel. Jan zog seinen Vater an der Hand zum Hallenbad. Komm! Schwimmen!

Den Sommer zuvor hatte sein Vater es ihm beigebracht, Jan hatte schnell gelernt und schon nach ein paar Wochen auf die Schwimmflügel verzichten können, und seitdem fieberte Jan den Sonntagen entgegen, um sein neu erworbenes Können unter Beweis zu stellen. Vielleicht dürfte er heute wieder ins Erwachsenenbecken? Die Woche zuvor war er neben seinem Vater einige Meter im tiefen Schwimmerbecken geschwommen. Es war zwar ein merkwürdiges Gefühl gewesen, keinen Boden zu fühlen, wenn er seine Füße ausstreckte. Er hatte den Boden noch nicht einmal richtig sehen können, so tief war das Becken. Er hatte ein wenig Schiss gehabt. Aber das hätte er nie zugegeben. Dafür hatte er sich viel zu erwachsen gefühlt, in dem großen Becken. Erwachsene haben schließlich keinen Schiss. Außer seine Mama. Die fürchtete sich vor Wasser. Die war aber auch ein Mädchen, das zählte also nicht. Jan war mutig ins tiefe Wasser gestiegen und geschwommen. Allerdings war er heilfroh gewesen, dass sein Vater neben ihm schwamm und aufpasste. Aber auch das hätte er nicht zugegeben. Schließlich war ein großer Junge, und die brauchten keinen Aufpasser. Außerdem war der Beckenrand nur eine Armlänge entfernt gewesen…

Sie betraten das Gebäude. Vater Hoen bezahlte, und sie gingen in die Umkleidekabine. Jan wollte einen eigenen Spind, denn dann würde er einen eigenen Schlüssel haben, den er sich um das Handgelenk binden konnte. Genauso wie es alle großen Jungs machten. Vater Hoen gab ihm lächelnd einen Euro für das Spindschloss. Jan war so aufgeregt, dass er seine Anziehsachen einfach in den Spind hineinwarf, ohne sie an die dafür vorgesehenen Haken zu hängen. Er schaffte es kaum, vernünftig in seine Badehose zu schlüpfen, denn in Gedanken war er schon im Wasser. Das Schlüsselband um sein dünnes Handgelenk zu schließen, war auch nicht so einfach. Natürlich lehnte er das Angebot seines Vaters, ihm dabei zu helfen, empört ab. Dann war es geschafft, sie stellten sich kurz unter die Dusche und betraten die Schwimmhalle.

2. Es war ganz schön etwas los. Die beiden Becken, das Schwimmer- und das Kinderbecken, wimmelten nur so von Köpfen und im Wasser rudernden Armen. Kindergeschrei übertönte die Musik, die aus den Lautsprechern in der Decke herabrieselte. Die Trillerpfeife des Bademeisters schrillte, als ein paar größere Jungs vom Beckenrand ins Wasser sprangen. Papa Hoen summte vor sich hin, als sie zu den orangefarbenen Sitzen über den Heizungsrohren gingen, die unterhalb der beschlagenen Glasfront der Halle angebracht waren, um ihre Handtücher abzulegen. Immer wieder Sonntags kommt die Erinnerung… Trotz der enormen Geräuschkulisse hatte er den Schlager erkannt, den der Radiosender in diesem Moment spielte. Dann standen Vater und Sohn, beide die Hände in die Hüften gestützt und ihre vom Umfang so unterschiedlichen Bäuche unbewusst vorgereckt, auf dem schmalen Gang, der Schwimmer- vom Kinderbecken trennte. Was meinste, sollen wir es wieder versuchen?, fragte Vater Hoen und nickte zum Schwimmerbecken hinunter. Klar!, antwortete Jan, aber ihm war doch ein wenig mulmig zumute. Im Becken tummelten sich die Schwimmer, das Wasser war aufgewühlt und nicht so ruhig wie beim ersten Mal, als er dort geschwommen war. Ob er überhaupt genug Platz haben würde? Würde ihn auch niemand übersehen und einfach über den Haufen schwimmen?

Aber seine Besorgnis war unbegründet. Während er langsam und mit größter Konzentration am Rand entlang schwamm, einatmen, ausatmen, die Hände zusammen und dann in langer Bewegung das Wasser nach hinten drücken, genauso wie es ihm sein Vater gezeigt hatte, schirmte der mit seinem Körper alle anderen Schwimmer von seinem Sohn ab. Vater Hoen trat neben Jan Wasser, sodass niemand seinen Versuch, sich im Brustschwimmen zu üben, stören konnte. Nur einmal sprangen zwei der größeren Jungs vom Beckenrand einfach über die beiden hinweg und eine größere Welle schwappte Jan ins Gesicht. Er erschrak und verschluckte sich so arg, dass er sich hustend am Beckenrand festhalten musste. Als aber der erste Schrecken vorbei war, ging es auch schon weiter. Einatmen, ausatmen… Toll machst Du das!, lobte Papa Hoen ihn, und Jan freute sich so über das Lob, dass er einen Augenblick unkonzentriert war und wieder Wasser schluckte. Gut, dass er Weißbrot gefrühstückt hatte, das saugte das ganze Wasser in seinem Magen auf und sorgte dafür, dass es nicht so rumgluckste.

3. Nach einer Weile aber waren Jans dünne Arme ein wenig schlapp, und er brauchte eine Pause. Er hätte dies nicht zugegeben. Aber er war froh, als sein Vater meinte, es sei genug für heute, Jan solle doch noch ein wenig im Kinderbecken rumplanschen und er würde ein paar Bahnen schwimmen. Jan kletterte die Leiter hinauf und setzte sich einen Moment auf einen der warmen Sitze über der Heizung. Er sah seinem Vater zu, wie jener durch das Becken kraulte. Das werd‘ ich auch bald können!, dachte er träumend und rieb sich seine chlorroten Augen. Du siehst ja aus wie ein Kaninchen!, sagte seine Mutter immer, wenn sie vom Schwimmen nach Hause kamen.

Jan setzte sich dann auf die Stufen, die auf ganzer Front in das Kinderbecken hineinführten. Das Wasser reichte ihm gerade bis zu den Hüften, und es war wärmer als das im Erwachsenenbecken. Das war angenehm, Jan erzeugte kleine Fontänen, indem er seine Hände wie zum Gebet verschränkte und dann mit einem Ruck ins Wasser drückte, sodass ein schmaler Strahl aus der Lücke zwischen Daumen der einen und Zeigefinger der anderen Hand hervorspritzte. Das Becken hatte sich mittlerweile beträchtlich geleert, die meisten Kinder waren mit ihren Eltern nach Hause gefahren, es war Mittagessenzeit. Jan beobachtete die zwei verbliebenen Kinder bei ihren Schwimmversuchen. Du wirst es doch wohl schaffen, den Kopf über Wasser zu halten!, brüllte der eine Vater seinen Sohn beinahe an, der jedes Mal, wenn sein Vater ihn losließ, prustend unterging. Vater Hoen hatte seinen Sohn nie angebrüllt. Jan war froh, er glaubte nicht, dass Schwimmen ihm Spaß machen würde, wenn er es so hätte lernen müssen. Das andere, wesentlich jüngere Kind planschte, getragen von Schwimmflügeln, im Wasser herum, während seine Mutter, gerade einmal bis zu den Knie im Wasser, kopfschüttelnd danebenstand und diesen ungeduldigen Vater beobachtete. Als dieser Junge wieder einmal mit hochrotem Kopf und Wasser spuckend an die Oberfläche kam – Jan musste grinsen, es sah doch ein wenig ulkig aus – stand Jan von den Stufen auf und ließ sich auf dem Rücken liegend zum tiefsten Punkt des Kinderbeckens treiben, der unterhalb jenes schmalen Ganges lag, an dem Kinder- und Schwimmerbecken zusammentrafen. Selbst hier reichte ihm das Wasser nur knapp bis über den Bauchnabel, wenn er sich hinstellte. Während die Mutter und ihr Kind das Becken verließen, hielt Jan sich auf dem Rücken liegend am Beckenrand fest und tauchte, während er mit seinen Beinen knapp unterhalb der Wasseroberfläche Fahrrad fuhr, bis zu seinen Ohren unter.

Mit den Ohren unter Wasser fühlte sich Jan, als wäre er in einer anderen Welt. Ein angenehmes Rauschen dämpfte die Ermahnungen dieses unangenehmen Vaters, die Trillerpfeife des Bademeisters hörte sich an, als puste jemand durch Watte. Jan glaubte die Maschinen zu hören, die das Wasser der Schwimmbecken umwälzten. Aber vielleicht war dieses leise Pochen auch nur sein eigener Puls, der in seinen Ohren wiederklang. Er blickte zur Decke empor, die – so hellblau wie sie war – ihm das Gefühl gab, unter Wasser zu sein. Ich kann unter Wasser atmen!, dachte Jan grinsend, Ich bin der Aqua-man! In diesem Augenblick sprangen zwei der älteren Jungen über ihn hinweg ins Kinderbecken hinein, vor Schreck ließ Jan die Kante des Beckens los und sein Kopf sank unter Wasser. Dieses Mal schaffte er es, die Luft anzuhalten und kein Wasser zu schlucken. Ein paar Mal ruderte er mit seinen Armen, um zu schwimmen und aufzutauchen, dann fiel ihm ein, wo er sich befand und setzte seine Füße auf den Boden und stellte sich hin. Einen ordentlichen Schwung Wasser schluckte er, als er sich aufrichtete und Luft holen wollte, denn einer der beiden Jungen spritzte ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. Treffer!, rief der Junge lachend und schlug noch einmal mit der flachen Hand so auf die Wasseroberfläche, dass ein breiter Strahl sich über Jan ergoss. Der drehte sich dieses Mal aber rechtzeitig zur Seite, sodass das Wasser nicht sein Gesicht traf. Dieses traf dann aber der andere Junge, der ihm von der anderen Seite mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schaufelte. Jan rieb sich seine Augen, die vom Chlor im Wasser ein wenig brannten und tränten. Oh, muss der Kleine weinen!, spottete der eine Junge, der andere sagte: Wohl ein wenig wasserscheu! Nein!, gab Jan trotzig zurück, bin nicht wasser… Wasserscheu hatte er sagen wollen, aber dieses Mal bekam er von beiden Jungs eine Ladung Wasser ab und verschluckte sich. Er musste husten und rang nach Luft. Dass der eine Junge meinte: Das wollen wir doch mal sehen!, bekam er nur am Rande mit. Plötzlich verlor Jan den Boden unter den Füßen, der Junge hatte ihm die Beine weggezogen, und ging unter Wasser. Das ging so schnell, dass Jan gleich noch einmal Wasser schluckte. Er versuchte sich aufzurichten und den Kopf aus dem Wasser zu bekommen, aber da waren auch schon beide Jungen über ihm und drückten ihn unter Wasser.

Jan schlug und trat um sich, versuchte von den Jungs weg- und seinen Kopf aus dem Wasser herauszubekommen, aber die waren viel stärker als er und außerdem zu zweit. Jan hatte keine Angst, noch nicht, er war wütend. Er hörte sie lachen. Zwei gegen einen, die feigen Schweine! Dann konnte er sich für einen Moment losmachen und kam japsend an die Oberfläche. Als er Luft holte, sah er, dass das Gesicht des einen Jungen vor Schmerz verzehrt war. Jan hatte es gar nicht mitbekommen, aber bei seinem Versuch, sich zu befreien, hatte er den Jungen dorthin getreten, wo es richtig wehtut. Kaum dass er ein wenig Atem geschöpft hatte, stürzte sich auch schon der andere Junge wieder auf ihn. Er sprang aus dem Wasser heraus und auf Jan, drückte ihn mit dem ganzen Gewicht seines zehnjährigen Körpers unter Wasser. Dieses Mal hielt Jan die Luft an und schaffte es, seitlich von dem Jungen wegzugleiten und wieder an die Oberfläche zu kommen. Genau vor dem Jungen, den er getreten hatte, kam er hoch. Der Schmerz auf dessen Gesicht war Wut gewichen, und mit dieser Wut im Bauch krallte er seine Hände in Jans Haar und drückte seinen Kopf unter Wasser. Jan zappelte wie ein Fisch an der Angel, und in diesen Momenten gesellte sich Angst zu seiner Wut. Was ihn ängstigte, war weniger, dass die Luft in seinen Lungen knapp wurde, sondern mehr der wütende Gesichtsausdruck des Jungen. Für einen kurzen Moment des Atemholens kam Jan hoch. Er hörte diesen Vater zu seinem Sohn sagen: Siehst du, das kommt davon, wenn Du den Kopf nicht über Wasser hältst! Plötzlich wurden seine Beine festgehalten. Der eine Junge klemmte sie sich lachend unter den Arm. Jan hatte nun keine Möglichkeit mehr, sich hinzustellen. Er versuchte, den Griff zu lösen, drehte und wendete sich. Zwecklos. Lachend presste der Junge Jans Beine an sich und hielt sie knapp über der Wasseroberfläche. Der andere Junge drückte Jans Kopf unter Wasser, und der lachte nicht. Dieses kleine Detail war es, mit dem die Panik in Jan hochzusteigen begann. Er ruderte mit seinen Armen, versuchte, den Jungen zu packen und von sich wegzudrücken. Jan drehte seinen Kopf hin und her, aber der Junge ließ nicht los. Die Luft wurde knapp. Die Panik war da. Das Rauschen des Wassers hatte nun nichts Angenehmes mehr an sich, das Pochen seines Herzschlages in seinem Ohren wurde immer lauter. Plötzlich wusste Jan, dass er ertrinken würde, wenn es ihm nicht gelang, sich zu befreien. Verzweifelt stemmte sich Jan gegen die Hände, die ihn unter Wasser drückten. Und für einen kurzen Augenblick schaffte Jan es tatsächlich, den Kopf aus dem Wasser zu bekommen, für einen kurzen, brennenden Atemzug, den er dafür nutzte, um Hilfe zu rufen. Papa!, vier helle Buchstaben, die sich nach Unterstützung flehend in die Luft erhoben. Jan schluckte erneut Wasser, als der eine Junge kräftig an seinen Beinen zog und er wieder unter Wasser ging. In diesem Moment erreichte sein Hilferuf das Ohr des Bademeisters, der aus seiner Kabine, mit der großen Glasfront zum Schwimmbad hin, trat. Jan unterdessen wurde schwarz vor Augen, er hatte das Wasser in die Luftröhre bekommen und hustete unter Wasser, schnappte in Todesangst nach Luft, aber da war nur Wasser. Von weit her hörte er den einen Jungen lachen, von noch weiter her schrillte die Trillerpfeife des Bademeisters, kaum zu hören, weil sein Herzschlag in seinen Ohren pochte, und immer lauter und schneller pochte, wie Trommeln schließlich dröhnte.

4. In diesem Moment kam Vater Hoen von der Toilette. Er war ein paar Bahnen geschwommen, hatte dann nach seinem Sohn im Kinderbecken geschaut, der auf dem Rücken liegend am Beckenrand Fahrrad fuhr und lächelnd zur Decke starrte, und war dann kurz auf die Toilette gegangen. Als er ins Schwimmbad zurückkam, schrillte die Pfeife des Bademeisters, der zum Kinderbecken hinübersah. Sofort schrillten bei Vater Hoen die Alarmglocken. Über den gute zwanzig Meter entfernten Rand des Kinderbeckens hinweg konnte er die Köpfe zweier älterer Jungen, nicht aber Jan sehen. Er machte einen, dann einen zweiten Schritt, dann schrie er entsetzt auf und begann zu rennen.

Jan unterdessen hörte auf, sich zu wehren. Er war in einer Woge dunklen Dröhnens gefangen und rührte sich nicht mehr. Dann begann sich sein Herzschlag aus seinen Ohren zurückzuziehen, das Dröhnen wurde leiser, und es wurde langsamer. Die gesamte Welt erschien Jan langsamer zu werden, das Lachen des einen Jungen, der immer noch seine Beine festhielt, wurde zu einer dumpfen Folge lang gezogener Vokale, herabgestimmt auch das Schrillen der Trillerpfeife, für Jan klang es wie das langsame Entweichen von Luft aus einem Reifen. Jan fühlte sich plötzlich sehr schwer, sein ganzer Körper schien sich mit Blei anzufüllen, und dieses Gefühl war noch nicht einmal unangenehm. Jan spürte, wie mit zunehmender Schwere seine Angst weniger wurde. J-A-N! Einzeln kämpften sich die Buchstaben seines Namens durch die Wand aus Blei, die sich zwischen Jan und die Welt senkte. Er verstand kaum noch ihren Sinn, und doch klangen sie vertraut, und so streckte er ihnen mit letzter Kraft eine Hand entgegen. Die Finger seiner schmalen Hand streckten und schlossen sich. Streckten und schlossen sich.

In diesem Moment sprang Vater Hoen ins Wasser. Er hielt sich nicht lange mit Reden auf, sondern fegte den Jungen, der blöde lachend die Beine seines Sohnes festhielt, mit einer Armbewegung zur Seite. Der andere Junge bekam eine solche Ohrfeige, dass es ihn seitwärts ins Wasser schmiss. Zügig, aber behutsam hob er dann seinen Sohn aus dem Wasser.

Plötzlich fiel alles Schwere von Jan ab, er fühlte sich federleicht, und einen Moment lang glaubte er, zu fliegen. Den blauen Himmel sah er über sich, so nah, als könne er ihn berühren.

JAN!, Vater Hoen hielt seinen reglosen Sohn im Arm und rief nach ihm, einen grauenhaften Augenblick lang hielt er Jan für tot, Ich bin zu spät gekommen!, explodierte der Gedanke in seinem Herzen. Einen grauenhaften Augenblick lang fühlte er sich vollkommen hilflos, eine schreckliche, ewige Sekunde lang. Doch bereits einen Herzschlag später organisierte sich der Widerstand in ihm. Niemals!, schrie jede seiner Fasern, Das lasse ich nicht zu! Gerade in dem Moment, als Papa Hoen seinen Mund auf die Lippen seines Sohnes pressen wollte, um ihm seinen Atem zu geben, bewegte sich Jan. Sein dünner Arm zuckte empor, seine Finger streckten und schlossen sich, verkrallten sich im Bart seines Vaters, gleichzeitig hustete er und spuckte seinem Vater einen Schwall Wasser auf die behaarte Brust. Vater Hoen traten Tränen in die Augen. Papa, Du weinst ja! Dies waren Jans erste Worte. Vater Hoen schniefte einmal und drückte seinen Sohn erleichtert an sich. Das liegt daran, sagte er, dass Du noch immer an meinem Bart ziehst! Das ziept ganz schön!

Jan ließ den Bart seines Papas los und schlang seine Arme um seines Vaters Hals. Nun war wieder alles gut. Er füllte seine Lungen mit Luft. Da hast Du uns aber einen mächtigen Schrecken eingejagt!, ließ sich der Bademeister vernehmen, der verlegen und scheinbar um Jahre gealtert danebenstand, war er sich doch bewusst, viel zu spät reagiert zu haben. Jan war zwar noch ein wenig wacklig auf den Beinen, aber dennoch wollte er wieder auf eigenen Füßen stehen. Sein Vater setzte ihn ab. Nur Flausen im Kopf, die Blagen von heute!, mischte sich dieser Vater ein, der die ganze Zeit tatenlos zugesehen hatte, Wenn das meine wären, denen würde ich aber den Hosenboden strammziehen!

Vater Hoen verließ wortlos Hand in Hand mit seinem Sohn das Becken und ging, während der Bademeister den beiden Jungen die Leviten las, denen jetzt erst klar wurde, was sie getan und beinahe verschuldet hatten, mit Jan zu den Handtüchern, die auf den orangefarbenen Sitzen lagen. Setz Dich für einen Moment hin und wärm‘ Dich ´was auf!, sagte er zu Jan und strich ihm lächelnd über den Kopf, dann wurde er ernst: Und trockne Dich schon mal ab! Ich hab‘ noch ´was zu erledigen.

Während Jan sich mit seinem Handtuch die Haare trocken rubbelte, ging sein Papa zu diesem bereits wieder mit seinem Sohn schimpfenden Vater hinüber. Vater Hoen machte nicht viele Worte. Mein Junge geht fast ´drauf, und sie stehen dumm wie Schifferscheiße daneben! Dümmlich grinsend zuckte der Mann mit den Schultern, dann klappte er stöhnend um seine Körpermitte zusammen.

Etwas später ließen Vater und Sohn das Rheurdter Hallenbad hinter sich. Bis nächste Woche!, rief Jan zu dem Gebäude hinüber. Das hatten sie bereits in der Umkleidekabine abgemacht. Zeigst Du mir nächste Woche, wie man krault?, hatte Jan beim Ankleiden gefragt, Brustschwimmen und tauchen kann ich ja schon. Dann hatten sie gelacht. Ich hab‘ Hunger!, meinte Jan, als sie in den Käfer einstiegen. Mal schauen, was Mama uns heute zaubert!, antwortete Vater Hoen und rieb sich schnell über die Augen. Er war unsagbar glücklich, dass alles so gut ausgegangen war. Dieses Mal sah Jan nicht die Tränen in den Augen seines Vaters, er malte etwas auf das beschlagene Seitenfenster, dass ein halbes Hähnchen darstellen sollte. Ein halbes Hähnchen hätte ich am liebsten!, meinte er verträumt. An das schlimme Erlebnis dachte er schon nicht mehr. Mit viel Pommes weiß rot! Vater Hoen lachte. Ja, mit einem ganzen Berg Pommes rot weiß!

Ungekürzte Kurzgeschichte „An einem Sonntag im Hallenbad“ aus meinem Buch „Pommes weiß rot, Papagei und Tod. Familiengeschichten.

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Ein haariger Heiligabend – „Ho! Ho! Ho! oder Tante Marthas Hintern“, eine unbesinnliche Weihnachtsgeschichte

Ungekürzte Weihnachts-Kurzgeschichte aus Ralf Boschers eBook / Taschenbuch „Tiefer in die Dunkelheit. Von Frauen, Männern und Monstern“

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Ein haariger Heiligabend

Es traf mich völlig unvorbereitet. Wenn es bereits November gewesen wäre, oder wenigstens Ende Oktober, ja dann hätte ich damit gerechnet, aber doch nicht Mitte Oktober. Ich hatte gerade die Obsttheke im Supermarkt hinter mir gelassen und bog Richtung Tiefkühlkost ab, da sah ich sie. Eine ganze Palette. Lebkuchen. Ich versuchte noch, meinen Blick abzuwenden, aber es war zu spät. Und es geschah, wie es jedes Jahr seit diesem verhängnisvollen Heiligabend damals geschah. Ich sah das Bild vor mir.

Meine Therapeutin hatte es bei mir mit Desensibilisierung versucht, schließlich wollte ich einmal eine Familie gründen und würde es meinen Kindern schuldig sein, ihnen ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Da konnte ich doch nicht bei der kleinsten weihnachtlichen Kleinigkeit zusammenbrechen. Aber all ihre Versuche, mich allmählich an Weihnachten zu gewöhnen, zum Beispiel indem sie mir winzig kleine Weihnachtsmänner in der Absicht in die Hand gab, mich durch den Anblick gewissermaßen abzuhärten und mich so aus dem Bann des Bildes zu befreien, fruchteten nicht. Da mochte sie auch noch so beruhigend auf mich einreden, ich begann zu zittern, mein Puls raste, mir brach der Schweiß aus, ich sah das Bild vor meinem inneren Auge und zerquetschte so manchen Schokoweihnachtsmann in meiner sich verkrampfenden Hand. Die Therapie scheiterte. Und so war ich dem Anblick der Lebkuchen hilflos ausgeliefert.

Es war an jenem Heiligabend des Jahres geschehen, in dem ich 14 Jahre alt geworden war. Zusammen mit meinem Vater hatte ich wie jeden Heiligabend zuvor den Tannenbaum vom Garten ins Wohnzimmer geschleppt und aufgestellt. Das war ein Männerjob. Schmücken würden ihn meine Mutter und meine kleine Schwester, die – als Vater und ich uns mit dem Baum abmühten – in der Küche waren und Plätzchen backten. Auf diese Plätzchen freute ich mich schon seit Wochen, gab es bei uns im Elternhaus doch nur selten Süßigkeiten, und war Weihnachten eine der wenigen Gelegenheit im Jahr – vor allem neben Ostern und Nikolaus – an denen wir Kinder nach Herzenslust Süßes essen durften. Ich mochte Weihnachten. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass ich schon längst nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte. Ich hatte damit aufgehört, kurz nachdem ich entdeckte, dass es Tante Martha war, die Jahr für Jahr als Nikolaus verkleidet unser Haus besuchte (was sie mit offensichtlicher Freude tat, vielleicht allein schon deswegen, weil sie sich als Nikolaus ihren sprießenden Damenbart nicht rasieren musste). Von einer Tante Martha als Nikolaus zu ernsten Zweifeln an der Existenz auch anderer im Kinderleben wichtiger Gestalten war es kein weiter Weg, und als ich ihn einmal eingeschlagen hatte, dauerte es nicht lange und ich eröffnete meinen Eltern, dass es den Weihnachtsmann und den Osterhasen genauso wenig gäbe wie den Nikolaus. Meine kleine Schwester ahnte von all dem nichts. Ich brachte es einfach nicht über mich, sie in meine Erkenntnisse einzuweihen. So wie ihre Augen glänzten, wenn der 6. Dezember nahte und sie ihren Stiefel (oder wie sie es einmal in der Hoffnung tat, mehr Süßes zu bekommen, ein ganzes Dutzend Stiefel) vor die Tür stellte. Zauber der Weihnachtszeit. Und meine Eltern gaben sich alle Mühe, diesen Zauber nicht verfliegen zu lassen. Sie verkleideten sich sogar.

Am Morgen des besagten Heiligabends wurden wir – wie in den Jahren zuvor – von einem Engel geweckt. Mutter trug ein strahlend-weißes Nachthemd, aus dem an ihrem Rücken Engelsflügel herausragten, außerdem hatte sie ihre blonden, langen Haare zu einer Lockenpracht frisiert. Am Frühstücktisch wartete dann unser Vater als Weihnachtsmann verkleidet auf uns, in einem langen, roten Mantel, mit einem langen, weißen, umgehängten Bart und einer Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf, wobei er – während er uns Kindern heißen Kakao einschenkte – immer aufpassen musste, dass der weiße Bommel am Ende der Mütze nicht in unsere Tassen fiel. Diesen Bommel hatte ich den ganzen Heiligabend vor Augen. Er baumelte vor meinem Gesicht, als Vater und ich den Weihnachtsbaum aufstellten, er baumelte hin und her, während Vater und ich auf den Wegen rund ums Haus die abgefallenen Blätter zusammenfegten, und später am Abend dann, während meine Eltern uns Kinder vor dem Fernsehapparat wähnten, würde ich ihn bei einer Gelegenheit baumeln sehen, bei der ich den Bommel nicht hätte baumeln sehen wollen…

Bis zu dieser Gelegenheit verlief alles so, wie es sich für einen Heiligabend gehört (inklusive jäher Übelkeitsattacken bei meiner kleinen Schwester aufgrund übertriebenen Keksgenusses, was sie aber nicht daran hinderte, auch noch die Lebkuchen zu probieren und eine ganze Packung Marzipankartoffeln zu essen). Nach dem Aufstellen des Baumes, dem Backen der Plätzchen, dem allgemeinen Herrichten eines weihnachtlichen Hauses, aßen wir festlich zu Abend (was der Magen meiner Schwester zunächst einmal gut verkraftete). Im Sonntagsstaat saßen wir Kinder mit Engel und Weihnachtsmann am Tisch, wobei mir zwar die Blicke auffielen, die sich meine Eltern zuwarfen, aber ich dachte, dass aus ihnen die Vorfreude auf die Bescherung spricht, wenn wir Kinder nach dem Essen mit strahlenden Gesichtern die Geschenke auspacken würden. Ein paar Mal zupfte der Weihnachtsmann dem Engel neckisch am Flügel, wobei ich mir gar nichts dachte. Darüber, dass sich meine Eltern öfter als sonst einen Kuss gaben, regte ich mich nicht auf, ich nicht (meine kleine Schwester kommentierte es jedes Mal mit einem „das ist eklig!“), schließlich war ich schon vierzehn, hatte schon selbst ein Mädchen geküsst (den Sommer zuvor, im Freibad, hinter der Pommes-Bude) und natürlich wusste ich, dass meine Eltern auch andere Dinge taten. So Dinge, die Erwachsene halt tun. Ich glaubte wenigstens, zu wissen, was Erwachsene so tun.

Nach dem Essen kam die Bescherung, während der der Engel dem Weihnachtsmann einmal herzhaft an den Hintern fasste, was der mit einem „Ho! Ho! Ho!“ quittierte. Das bekam ich aber nur aus den Augenwinkeln mit, war ich doch viel zu sehr damit beschäftigt, das Papier von dem größten aller Geschenke abzureißen, von dem ich vermutete, dass es die ersehnten Rollerskates sein würden. Nach der Bescherung sah sich unsere ganze Familie wie jedes Jahr den Kleinen Lord an, ich im Sessel mit meinen Rollerskates an den Füßen, meine Eltern und meine kleine Schwester, die sich herzhaft von dessen Kopf abwärts einem Schokoweihnachtsmann widmete, auf dem Sofa, während eine Kerze auf dem Tisch heimeliges Licht spendete. Tante Martha und Onkel Peter kamen kurz vorbei und brachten uns Kindern noch mehr Geschenke. Wir müssen aber gleich wieder weiter, sagte Onkel Peter, der der Bruder von Papa war. Aber auf ein Eierlikörchen bleiben wir noch! meinte Tante Martha. Nachdem die Erwachsenen ihr Gläschen getrunken hatten, meinte Mutter, sie bringe die beiden noch zur Tür und stand auf. Außerdem müsse sie in der Küche nach dem Braten für Morgen schauen, sagte sie noch. Und so begann meine heile Weihnachtswelt aus den Fugen zu geraten. Denn nur wenig später brummelte Vater etwas von „Schauen, wo Mutter bleibt!“ in seinen umgehängten Bart und ging ebenfalls hinaus. Meine Schwester hatte sich mittlerweile ihrer Tafel Kinderschokolade angenommen und schob sich einen Riegel nach dem anderen in den Mund. Ich versuchte in diesen unbeobachteten Momenten meine ersten Schritte mit den Rollerskates zu unternehmen, was aber auf dem Teppichboden nicht so gut ging, so dass ich mehr lief als rollte. Plötzlich begann meine Schwester zu husten, was ich zunächst nicht weiter beachtete, saß ich doch mittlerweile auf dem Boden und lauschte fasziniert dem surrenden Geräusch der Rollen, die ich mit der Hand drehte. Erst als meine Schwester aufhörte zu husten und stattdessen würgende Geräusche von sich gab, sah ich auf. Ich sah auf und erschrak. Offensichtlich hatte sie sich verschluckt, ihr kleines Gesicht war vor Anstrengung bereits rot angelaufen, während sie mich aus großen Augen anschaute und verzweifelt versuchte, das in der Luftröhre festsitzende Stück Schokoriegel herauszubefördern. Ich sprang sofort auf, um ihr zu helfen, vergaß in meinem Schrecken aber die Rollerskates an meinen Füßen, so dass ich das Gleichgewicht verlor. Leider stand ich neben dem Weihnachtsbaum. Hilflos ruderte ich mit meinen Armen, versuchte meine Füße sicher auf den Boden zu bekommen, aber nun taten die Rollerskates, was sie tun sollten, sie rollten, und so fand ich mich stürzend in der Rückenlage wieder, hörte noch für einen kurzen Augenblick das Surren der Rollen, dann krachte ich in den Weihnachtsbaum. Glücklicherweise kippte der Baum nicht um, und glücklicherweise erschrak sich meine Schwester, als sie mich fallen sah, so sehr, dass ihr reflexhafter Aufschrei das Schokostück aus ihrem Hals beförderte. Allerdings begann sie nun vor lauter Aufregung, sich wieder zu übergeben, ihre Händchen verkrallten sich in der Tischdecke, als sie der Krampf schüttelte und sie sich über den Teppich beugte. Und nun war es an mir, der ich mich aus dem Tannenbaum aufrappelte, aufzuschreien, denn meine Schwester zog an der Tischdecke, und die Kerze, die auf dem Tisch stand, kippte um. Kippte um und blieb brennend auf der Fernsehzeitung liegen. Als ich es endlich geschafft hatte, mich vom Weihnachtsbaum zu befreien, brannte die Zeitung bereits lichterloh, wovon meine Schwester nichts bemerkte, schüttelte sie sich doch noch immer in Krämpfen. Ich erreichte den Tisch, als auch noch der weihnachtliche Tischschmuck aus Trockenblumen Feuer gefangen hatte. Das passierte alles so schnell, dass mir keine Zeit blieb zu fragen, wo denn meine Eltern blieben, die doch sicherlich vom ganzen Lärm und unseren Schreien hätten alarmiert sein müssen. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, packte ich mein Schwesterlein und zog es vom Tisch und dem Feuer weg, das mittlerweile auf die Tischdecke übergriff, während meine Schwester immer noch würgte und statt dem Teppich nun mich bekleckerte. Ich brauchte Wasser, das war mir klar. Schnell. So ließ ich meine Schwester im Raum neben dem Wohnzimmer einfach auf dem Boden liegen und stakste so schnell es ging auf meinen Rollerskates Richtung Küche. Dort gab es Wasser und Töpfe, in denen ich das Wasser würde tragen können. Dort war sicher auch Mutter, die nach dem Braten schaute. Und Vater würde auch nicht weit sein. Dies war der Moment, in dem ich mich das erste Mal fragte, wo sie bei all dem Lärm denn blieben. Ich rief nach ihnen: „Mama! Papa!“ Rief: „Es brennt, es brennt!“ „Mama, Papa, es brennt!“ rief ich, als ich über den glatten Boden des Flures rollte, an dessen Ende die Küche lag, rief es in dem Augenblick, als ich die Küche erreichte und die Küchentüre aufriss und –

„Ho! Ho! Ho!“, rief der Weihnachtsmann wieder und wieder, er hatte die Augen geschlossen und der Bommel seiner Weihnachtsmannmütze baumelte hin und her, „Ho! Ho! Ho!“ Auch die auf dem Küchentisch liegende Tante Martha hatte die Augen geschlossen, dafür waren ihre Bluse und ihre Schenkel geöffneter, als ich es je hätte sehen wollen, vor allem weil mein Vater zwischen ihnen stand und den Bommel baumeln ließ, hin und her, wie der Kopf des Engels hin und her, der strahlendweiße Engel, der wie zum Gebet auf dem Boden kniete und seinen Blick andächtig erhoben hatte, nur dass dieser Engel nicht hinauf zum Himmel blickte, sondern hoch zu Onkel Peter, der genüsslich an einer Zigarre paffend und mit heruntergelassener Hose am Kühlschrank lehnte und wieder und wieder sagte: „Mein Engel, mein Engel!“, bis er mich, der ich fassungslos in der Küchentür stand, endlich bemerkte und nach einer Schrecksekunde, in der er wie in Zeitlupe die Zigarre aus dem Mund nahm, tonlos sagte: „Martha, Du solltest doch die Tür abschließen!“ „Ho! Ho! Ho!“, rief der Weihnachtsmann noch einmal, während Tante Martha die Augen öffnete und mich erblickte und dermaßen erschrak, dass sie nach dem Weihnachtsmann trat, der aufstöhnend in der Mitte zusammenklappte, woraufhin Tante Martha vom Tisch fiel.

In diesem Moment sah ich, was sich mir dergestalt wie glühende Kohlen in mein Gedächtnis einbrennen sollte, dass mir Weihnachten vielleicht für alle Zeit verleidet ist. Da lag sie auf dem Boden, Tante Martha, sie lag auf dem Bauch, den Rock bis über die Hüften hinaufgezogen. Ich hörte kaum, wie mein Vater fluchte, wie meine Mutter wieder und wieder Oh Gott, Oh Gott rief, und Onkel Peter meinte Hier riecht es verbrannt (glücklicherweise schafften Vater und er es nur wenig später mit vereinten Kräften das Feuer im Wohnzimmer zu löschen). Alles um mich herum schien zu verschwimmen, nur Tante Marthas Hintern sah ich klar und deutlich vor mir aufragen, ich konnte meinen Blick nicht von ihrem Hinterteil nehmen, das, ich wage es kaum auszusprechen, behaart war wie ihre Oberlippe zu Nikolaus, dunkle Haare noch und nöcher, und jedes dieser auf ihren Pobacken sprießenden Haare prägte sich mir ein. Erst als mein kleines Schwesterlein plötzlich inmitten der geschockten Erwachsenen stand, mit klarer Stimme rief: „Mir ist schlecht!“, und sich noch einmal mit Nachdruck auf die Küchenfliesen erbrach, nur um uns alle dann anzustrahlen, als hätte sie gerade Gottweißwas vollbracht, konnte ich mich von diesem erschreckenden Bild losreißen. Ich begann zu lachen, lachte noch, als bereits alle die Küche Richtung Wohnzimmer verlassen hatten, lachte noch, als mir bereits Tränen über die Wangen liefen. Akuter Schockzustand, nannte es Jahre später meine Therapeutin, eine vegetative Überreaktion aufgrund pathogener Reizüberflutung, dann drückte sie mir den kleinsten Schokoweihnachtsmann in die Hand, den sie hatte finden können, und lächelte mich aufmunternd an: „Versuchen wir es doch mal mit dem!“

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Historisches: Der Zauberer in Blau. Oder: meine Ankunft am Bodensee

Sonnenuntergang Bodensee
1995 zog ich an den Bodensee, die Landschaft, der See, die historische Altstadt von Konstanz und die schönen Orte in der Nähe hatten mich gleich für sich eingenommen. Aus dieser Zeit stammt die kleine Geschichte, die ich – unverkennbar – für den Südkurier, die Tageszeitung hier, geschrieben habe. Die Fotos von „Goldenen Bodensee“ entstanden etwas später.

Der Zauber in Blau

Ohne Gepäck kam ich in Konstanz an. Der Blick auf die Konstanzer Bucht, eingerahmt von Seestraße und altem Kloster, berührten mich tiefer noch als beim ersten Mal, als ich langsam über die Rheinbrücke fuhr: Denn an diesem Freitagnachmittag kam ich nicht als Tourist, Konstanz sollte meine neue Heimat werden. Endlich betrat ich nach einer langen Zugfahrt Konstanzer Boden. Was zu meinem Glück noch fehlte, waren meine eigenen vier Wände.

Goldener Bodensee - Blick auf Mainau
Leider hatte ich nur dieses eine Wochenende Zeit, etwas Bezahlbares zu finden. Und leider war der Wohnungsmarkt nicht gerade übersättigt mit bezahlbaren Wohnungen. So führte mich mein erster Weg hoch zur Universität. Dort suchte ich die schwarzen Bretter nach „meiner kleinen Wohnung“ ab. Erfolglos.

Nach diesem Fehlschlag zog ich mit gemischten Gefühlen durch die Konstanzer Kneipen: die Seekuh, das K9, das Radieschen. Immer in der Hoffnung, dass auf einem Aushang im Eingangsbereich mein neues Zuhause auf mich wartete. Dem war leider nicht so. Alleine saß ich bei einem Bier und keine gute Fee sprach mich an, kein Zauberer zog eine Wohnung aus seinem Hut.

Blick von Meersburg Richtung Überlinger See
Es war genauso gekommen, wie ich es vorhergesehen hatte: die Zeit lief mir davon. Schlaflos verbrachte ich die Nacht in einem Bett der Jugendherberge.

Würde dies in nächster Zukunft mein Dach über dem Kopf sein? So fragte ich mich bang. Ich wusste, dass meine größte, und vielleicht auch letzte Chance, an diesem Wochenende eine Wohnung zu finden, die Samstagsausgabe des Südkurier war. So früh als möglich wollte ich die druckfrische, ja noch beinahe warme Zeitung in meinen Händen halten. Und während mein Zimmergenosse in aller Seelenruhe schlief und schnarchte, betete ich voller Inbrunst zu den Schutzengeln aller Wohnungssuchenden, bis endlich der Morgen graute.

Ich war wieder voller Hoffnung, als ich, ohne gefrühstückt zu haben, in die erwachende Stadt hinunterging. Und wirklich: da stand er an einer Straßenkreuzung. Ich fühlte es ganz deutlich: dies war der Zauberer, den ich am Abend zuvor vermisst hatte. Lächelnd kam er einige Schritte auf mich zu: der Südkurierverkäufer.

Goldener Bodensee - Sonnenuntergang
Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen: Heute, wo ich diese kleine, aber für mich sehr wichtige Begebenheit, mein schönstes Zeitungserlebnis, aufschreibe, kauere ich glücklicherweise nicht mit gekrümmten Rücken auf der obersten Etage eines Jugendherbergsbettes. Ich sitze vielmehr in meiner gemütlichen Küche, eine Tasse Kaffee steht vor mir auf dem Tisch, durch das Fenster blicke ich auf einen großen Garten.

Der Zauberer hatte wirklich meine kleine Wohnung aus seiner Tasche gezogen. Denn kaum hatte ich den Immobilienmarkt aufgeschlagen, da hatte ich die Anzeige entdeckt. Und kaum dass ich sie mit dickem, rotem Stift unterstrichen hatte, stand ich auch schon in der nächsten Telefonzelle, den Hörer in der Hand.

Goldener Bodensee - Fähre
„Viel Glück!“ hatte mir der Südkurierverkäufer gewünscht, als er sah, auf welcher Seite ich die Zeitung sofort aufschlug. Und ich konnte es kaum glauben, am Samstagnachmittag unterschrieb ich den Mietvertrag für eine sehr schöne, bezahlbare Wohnung. Ich hatte wirklich Glück gehabt. Und einen Zauberer in Blau.

Mehr lesen: Am Bodensee – Leseprobe aus “Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman”

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Boscher liest… „Ein Liebesbrief“ aus „Tiefer in die Dunkelheit. Erotik, Thrill, Horror“

Ralf Boscher liest seine Kurzgeschichte „Ein Liebesbrief“ aus dem eBook / Taschenbuch „Tiefer in die Dunkelheit. Erotik, Thrill, Horror“.

Ralf Boscher - Tiefer
Es ist dunkel geworden, ein Glas Rotwein steht neben mir, und ich bin müde. Es ist ein wohliges Müde-Sein, weiß ich doch genau, warum ich es bin, habe ich doch wegen Dir nur so wenig Schlaf bekommen. Du. Ich denke an Dich. Gerade habe ich erneut versucht, Dich anzurufen, Deine Stimme zu hören. Aber ich konnte Dich nicht erreichen, und so schreibe ich Dir wieder einmal, von Dir, von uns, horche Deiner Stimme in mir nach, lausche auf Deine Worte, Deinen Tonfall, der nach mir greifenden Händen klingt, nach Deinen Lippen auf den meinen, Deinem Körper ganz nah …, und versuche, Dich mit meinen Worten zu berühren. …

 

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